Clans von Cavallon (2). Der Fluch des Ozeans. Kim Forester
Porträt angefertigt worden war. Er stand vor dem Palast und hielt in der einen Hand ein Schwert, in der anderen eine Schreibfeder – Symbole für die Macht und Weisheit der Zentauren. Sein Gesicht war glatt rasiert und seine Mähne und sein Schweif tiefschwarz, ohne auch nur eine einzige graue Strähne.
Aber das war es nicht, was sich so deutlich von dem Gesicht auf Lysanders Bild unterschied. Lysander sah von einem Porträt zum anderen, bis er schließlich erkannte, woran es lag: Auf dem älteren Porträt war Orsinos Miene voller Hoffnung. In Lysanders Bild nicht mehr.
»Na, dann lass mal sehen«, sagte Cassio und legte seinen Füllfederhalter beiseite. Lysander überreichte ihm das Gemälde.
Er schlug nervös mit dem Schweif, während sein Vater seine Arbeit schweigend unter die Lupe nahm. Cassio Diomedes hatte für Kunst nichts übrig. Die einzigen Kunstwerke, die es bei ihnen zu Hause gab, waren die Bilder und Zeichnungen in Lysanders Zimmer und Lysander war sich ziemlich sicher, dass diese beiden Porträts auch nur deshalb hier im Büro hingen, weil das von einem Mann in Cassios Position erwartet wurde. »Zeitverschwendung«, hatte Cassio Lysanders Werke immer genannt. »Ein Zentaur drückt sich in der Kunst des Schreibens aus, nicht durch Farbkleckserei.«
Doch nun nahm er das Porträt ausgiebig in Augenschein, erst aus der Nähe, dann auf Armlänge entfernt. »Deine Pinselstriche hier am Schweif sind unglaublich«, lobte er. »Es ist, als könnte ich jedes einzelne Haar erkennen.«
Lysander widerstand dem Drang, sich umzudrehen und nachzusehen, ob jemand hinter ihm stand, an den sich die Worte seines Vaters richteten.
»Und wie du die Farben hier einsetzt, um den Schatten einzufangen«, sein Vater zeigte auf die Vorhänge, die Lysander hinter den König gemalt hatte. »Dadurch erhält das Bild eine enorme Tiefe.« Cassio bewegte das Gemälde nach rechts und dann nach links. »Und die Augen! Als würden sie mich direkt ansehen. Gut gemacht, Lysander. Du kannst stolz auf dein Werk sein.«
Lysander starrte ihn mit offenem Mund an. Er kannte seinen Vater gut genug, um nicht dem Irrglauben zu verfallen, dass sein Lob wirklich seiner Kunstfertigkeit galt. Es musste noch etwas anderes dahinterstecken. Aber er hatte sich so lange nach anerkennenden Worten gesehnt, dass sie sich nun anfühlten wie Regentropfen nach einer Dürrezeit. Er spürte ein Kribbeln in seiner Brust. »Danke, Vater«, krächzte er mühsam.
Cassio lächelte und setzte das Gemälde vorsichtig ab. Dann kam er hinter seinem Schreibtisch hervor und legte Lysander eine Hand auf die Schulter. Lysander zuckte zusammen, doch sein Vater schien es nicht zu bemerken. »Die letzten Wochen waren schwierig«, sprach Cassio in vertraulichem Tonfall. »Der König war schon lange krank und ist kurz vor dem Angriff auf die Freie Stadt gestorben. Als wir die erschütternde Nachricht erhielten, haben wir als Rat beschlossen, sie einstweilen unter Verschluss zu halten. Das wäre für Corlandia einfach zu viel auf einmal gewesen. Erst der Gipfel, dann die verlorene Schlacht gegen die Pegasus … Den Tod des Königs bekannt zu geben, hätte die Stabilität Corlandias gefährdet. Und die Sicherheit des Königreichs hat für uns oberste Priorität.«
Lysander schluckte. »Warum … warum bewahrt ihr den Leichnam auf?«
Cassio lächelte. »Das war meine Idee. Früher oder später werden wir die Bevölkerung natürlich über König Orsinos Tod in Kenntnis setzen müssen, und wenn wir dann einen Leichnam zum Vorzeigen haben, können wir behaupten, es sei gerade erst passiert. Wir müssen nur auf den geeigneten Zeitpunkt warten, wenn Corlandia und der Rest Cavallons bereit dafür sind. Und das hier«, er tippte auf Lysanders Gemälde, »wird uns dabei helfen. So erhalten die Bürger Corlandias einen letzten Blick auf ihren König.« Er betrachtete das Porträt erneut und schüttelte staunend den Kopf. »Die Augen wirken so lebendig.«
Lysander öffnete den Mund, um zu protestieren – er musste doch dagegen protestieren, oder? Die Augen des Königs waren eben nicht lebendig, sie waren leer und tot und entsetzlich. Nein – das alles war entsetzlich. Der Minotaurus, der Junge in der Höhle und nun der Tod des Königs.
Und Cassio Diomedes hatte bei allem die Finger im Spiel.
Doch dann kam sein Vater noch näher und umarmte ihn. Lysander erstarrte – er konnte sich nicht erinnern, wann sein Vater ihn das letzte Mal in den Arm genommen hatte. Wahrscheinlich irgendwann als Fohlen. »Ich bin so froh, meinen Sohn als Vertrauten an meiner Seite zu wissen.«
Als Lysander hochsah, stellte er zu seiner Bestürzung fest, dass Cassios Augen feucht waren. Sie waren auf das Porträt von Lysanders Mutter gerichtet. Unbeholfen legte er die Arme um seinen Vater. Er wusste nicht, was er sonst tun sollte.
»Wir machen das zusammen, mein Sohn. Du wirst schon sehen.«
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