Das Meer und das Leben. Gerald Schneider
Tage vergehen, bis diese „Rossbreiten“ überwunden sind.
Die fehlenden Druckunterschiede im Zentrum eines Tiefs bewirken übrigens auch das „Auge des Hurrikans“. Während rund um das Zentrum enorme Druckunterschiede und damit Windgeschwindigkeiten auftreten, ist es im „Auge“ praktisch windstill – allerdings herrscht eine fürchterliche See.
Im Azorenhoch steigt die Luft aus großer Höhe ab und fließt erst langsam, dann immer schneller werdend nach Süden ab, denn um den Äquator gibt es eine permanente Tiefdruckrinne. Die Passatwinde folgen also bzw. entstehen aufgrund dieser großräumigen Druckdifferenzen. Kurz vor dem Äquator treffen dann die Passatwinde der Nord- und der Südhalbkugel aufeinander und kommen in der äquatorialen Tiefdruckrinne, die keine nennenswerten Druckgradienten zeigt, zum Erliegen. Deshalb ist auch die Gegend um den Äquator mit Flauten und schwachen Winden verbunden, den „Mallungen“, die ein ebenfalls gern gehasster Gegner der Segelschiffe waren und auch modernen Forschungsschiffen und ihren Besatzungen feucht-heiße und schweißtreibende Tage bringen.
Betrachten wir daher den Atlantik oder den Pazifik von Nord nach Süd, so sind drei Flautenzonen auszumachen: In der nördlichen subtropischen Hochdruckzelle, bei den äquatorialen Mallungen und in der südlichen subtropischen Hochdruckzelle. Nördlich und südlich davon weht es kräftig, gelegentlich sogar sehr kräftig.
Von diesen Rossbreiten und Mallungen abgesehen kann es noch Spezialbedingungen geben. Das Windsystem der asiatischen See beispielsweise wird durch die russisch-sibirische Landmasse bestimmt. Im Sommer heizt sich das Land enorm auf, Temperaturen bis 45° C sind nicht ungewöhnlich. Warme Luft ist leicht und steigt auf. Leichte Luft bedeutet aber auch niedrigen Druck, es entsteht ein grandioses Tiefdruckgebiet, das wie ein überdimensionaler Staubsauger die Luft aus anderen Gegenden mit Macht anzieht. Heftige bis stürmische Winde gehen dabei vom Indik auf das Festland, es herrscht der Südwestmonsun, der auf dem Indischen Ozean Wellen aufwirft, die einen Vergleich mit dem Nordatlantik nicht zu scheuen brauchen.
Im Winter jedoch wird es auf der riesigen Landmasse extrem kalt. Die Luft ist kalt, damit schwer und es etabliert sich ein so genanntes „Kältehoch“. Dieses Hoch wirkt nun umgekehrt zum Sommer wie ein gigantisches Gebläse und schickt starke Winde vom Land auf die See, was im Indik als Nordostmonsun bezeichnet wird.
Im Kleinen kann dies jeder Badegast auch bei uns an der Nordsee erfahren. An schönen heißen und eigentlich windfreien Sommertagen heizt sich das Land schneller auf als die See, die Luft steigt auf, es entsteht ein Mini-Tiefdruckgebiet und wir haben auflandigen Wind. In der Nacht jedoch kühlt das Land schneller ab als das Wasser, die Druckverteilung kehrt sich um und der Wind weht „ablandig“, also vom Land aufs Meer. Das sind minimale Monsunerscheinungen. Am Morgen und am Abend haben wir dagegen windstille Bedingungen, weil alle Druckunterschiede über Nacht abgebaut wurden.
Ähnlich ist es im asiatischen Raum zwischen den beiden eben beschriebenen Jahreszeiten, denn die Druckdifferenzen sind in diesen Monaten sehr gering, sodass es in diesen „Intermonsunzeiten“ kaum Wind und praktisch spiegelglatte See gibt. Und genau in dieser Situation befanden wir uns, wir steckten mit unserer „Meteor“ in einer jener drucklosen Perioden zwischen den Monsunen, die die atmosphärischen Bewegungen zum Erliegen brachten.
Aber endlich kam dann der sechste Tag, der der Agonie mit einem dramatischen Kontrapunkt ein Ende setzen sollte. Als wir morgens aus den Kojen stiegen, empfingen uns an Deck nicht die heißen Strahlen der bereits aufgegangenen Sonne, sondern ein schwer und tief bewölkter Himmel. Dichte, graubraune Wolkenmassen standen reglos am Himmel, denn kein Wind schob sie weiter. Das Meer war nicht mehr blau, sondern spiegelte die vornehmlich braunen Töne der Wolken wider, die ganze Umgebung entsprach durchaus nicht den landläufigen Vorstellungen eines tropischen Ozeans. Wenn ich das Foto, das ich an diesem Morgen gemacht habe, jemandem zeige, so tippt er vielleicht auf die Nord- oder Ostsee, aber niemals auf den Indischen Ozean.
In dieser feuchtwarmen, trüben Suppe begannen wir unsere Arbeiten. Fast genau um 10 Uhr am Vormittag plötzlich ein einziger Donnerschlag im Himmel, der alle zusammenzucken und nach oben schauen ließ. Das Donnergrollen lief über den ganzen Himmel, schwoll an, schwoll ab und verging. Niemand hatte einen Blitz gesehen, aber das Krachen war auch im Schiffsinneren nicht zu überhören gewesen.
Wenige Sekunden nach diesem Paukenschlag begann der Wind zu wehen. In rasender Eile nahm die Windgeschwindigkeit zu und innerhalb von wenigen Minuten hatten wir volle Sturmstärke. Dann kam der Regen. Heftig, dicht, vom Sturm derart über die Decks und die See gepeitscht, dass er in Schleiern über das Meer raste und die Wasseroberfläche in einen weißen, blasenwerfenden, scheinbar kochenden Ozean verwandelte. Wer sich darum kümmern konnte, sprang schnellstmöglich unter Deck und schloss die Bullaugen, in die es heftig hineinregnete. Als das Inferno begann, war ich gerade dabei, das Planktonnetz in das Wasser zu lassen. Es wurde durch den Wind weit nach Lee gedrückt, nur mit viel Mühe bekamen wir es wieder an die Bordwand und fierten es ins Wasser. Ich selbst war innerhalb weniger Sekunden bis auf die Haut durchnässt. Aber ich habe es genossen! Was für eine Erfrischung nach diesen elenden Tagen in Schweiß und Hitze!
Es stürmte weiter und es regnete wie aus Waschkübeln. Die Fernsicht ging drastisch herunter, „Meteor“ verschwand in einer Mischung aus Sturm und den wahrscheinlich dichtesten Regenschwaden, die ich jemals gesehen habe, einem weißen Nebel, in dem wir meinten, nur 30 m weit blicken zu können. Als meine Netze wieder an Bord sollten, die gleichen Schwierigkeiten wie beim Aussetzen. Während des Fanges war ich an Deck geblieben, ich war sowieso nass und diese unfreiwillige Dusche war mir sehr angenehm. Mit der Zeit stellte sich dann aber trotz des warmen Sturmes ein leichtes Frösteln bei mir ein und ich verschwand, mich trockenzulegen.
Anschließend stand ich mit ein paar Kollegen an der geöffneten Labortür und schaute von trockenem Standort in den noch immer anhaltenden sturmgepeitschten Wasserfall. Die Wassermassen schossen in dickem Strahl durch die Speigatten, die Ablaufrinnen der oberen Decks schafften es nicht, diese Berge von Regen wegzuschaffen und so trat das Wasser über die Deckkanten und ergoss sich in breiten Vorhängen von den oberen Plattformen. Ich hatte schon viel über die gewaltigen tropischen Regengüsse gehört und gelesen, aber dies übertraf meine Erwartungen bei weitem.
Wir unterhielten uns so nebenbei, welche Chancen ein altes Segelschiff in diesem Wetter gehabt hätte. Typischerweise wurden bei Flauten alle Segel gesetzt, um auch noch den kleinsten Windhauch auszunutzen. Verheerend, wenn dann innerhalb weniger Minuten volle Sturmstärke erreicht ist. Das Schiff legt sich weit nach Lee über, die erste Rahnock kommt an den Wasserspiegel. Die Männer entern in Windeseile auf und bergen an Segeln, was Hände und Füße packen und bewältigen können. Wird es gut gehen? Wir können es nicht wissen.
Im Atlantik, vor dem südlichen Südamerika, gibt es einen ähnlich plötzlich einsetzenden Sturm, den Pampero, der sofort mit voller Macht vom Festland bläst. Verluste, Beinaheverluste, mit Glück und Geschick gemeisterte Vorfälle sind gut dokumentiert. Es kam wohl darauf an, die leisesten Anzeichen des Herannahenden Sturmes wahrzunehmen und sofort und konsequent zu handeln. Dann hatte man den rettenden Vorsprung zumindest einen kleinen Teil der Segel bereits geborgen zu haben bevor der Wind über das Schiff herfiel. Jede Rah, die vor Einsetzen des Sturmes frei war, erhöhte die Überlebenschance drastisch. Wer die Situation nicht erkannte oder unentschlossen zögerte, ging unter. Hier im Indischen Ozean dürfte es vielleicht ähnlich gewesen sein. Möglicherweise wusste der erfahrene Kapitän bereits beim Anblick des nach derartig heißen Flautentagen drohend bewölkten Himmels, was kommen würde. Den anderen musste Gott beistehen.
Nach knapp zwei Stunden hörten Sturm und Regen genau so plötzlich wieder auf, wie sie begonnen hatten. Wie abgeschaltet. Aber auch die atmosphärischen Spannungen waren abgebaut. Im Laufe des Tages verschwanden die Wolken, die Sonne kam durch, ein moderater Wind erhob sich, kräuselte die zwischenzeitlich wieder ruhig gewordene Meeresfläche und begann, die ersten Wellen zu formen. Der Spuk war vorbei, der Indik kehrte wieder in seinen wohlbekannten Rhythmus zurück. Das Leben ging weiter.
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