Das Meer und das Leben. Gerald Schneider

Das Meer und das Leben - Gerald Schneider


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beidem kann der Mensch leben, aber das Nichts verunsichert ihn wie die Dunkelheit. Das existenzielle Grauen der Vorzeit kriecht als uraltes Erbe aus den Gehirnteilen, die sich noch sehr gut daran erinnern, welche Angst der Mensch hatte, ob sich nicht aus dem Nebel der Wälder auf einmal die massige Gestalt des angreifenden Bären herauslöst.

      Plötzlich surrte etwas an meinem Ohr vorbei und ein kleiner Körper klatschte gegen einen Decksaufbau. Eine zarte Libelle mit fragilen Flügeln und rotem Körper war gelandet. Eine Spur des Lebens in dieser toten Welt, ein Bote aus einem anderen Universum. Die kleine Libelle wirkte wie ein Trost an einen Verzweifelten, wie ein Versprechen. Wenn eine Sternschnuppe uns Hoffnung auf den Himmel macht, so sprach die Libelle vom Leben, der Fülle, dem schwingenden Reigen alles Lebendigen. Diese Libelle mahnte mich, meinen verstiegenen Gedankengängen zu entsagen und mich wieder der Realität zuzuwenden. Ich stieg vom Peildeck, ließ meinen Blick über die See gleiten und verschwand in meiner Kabine, um meine „Spinnereien“ dem Tagebuch zu übergeben.

      Im Laufe des Nachmittags trafen noch mehr Libellen ein, zwei Heuschrecken wurden aufgefunden und eine große Anzahl lästiger Fliegen kam auf das Schiff. Die Luftmassenbewegung hatte die Tiere auf das Meer entführt und der in der unsichtigen braunen „Brühe“ hell leuchtende weiße Rumpf unseres Schiffes hatte sie wahrscheinlich angelockt. Sie hofften auf einen Platz zum Überleben. Vielleicht nur, aber immer noch besser als in die See zu fallen. Aber sie werden sterben, denn hier gibt es nichts zu fressen und irgendwann werden wir weiter in den Ozean hinausfahren und die Küste zurücklassen. Sie sind verloren – außer die Fliegen vielleicht, denen offensichtlich kaum beizukommen ist.

      Wir Biologen hatten schon längst aufgehört, Proben zu nehmen. Der Sand verschmutzte und verstopfte die Planktonnetze, alle Proben waren in Sand getaucht und ob die Netze unter diesen Umständen überhaupt noch richtig fingen, sei dahingestellt. Wer konnte, hatte sich unter Deck verkrochen, um dem ewig in den Augen, unter den Achseln, ja selbst in den Unterhosen reibenden Staubablagerungen zu entgehen. Das Zeug drang überall durch.

      Allein die Physiker machten noch einige Messungen, aber dann war Schluss. Wir beschlossen, den ungastlichen Ort zu verlassen und unsere Station vorzeitig abzubrechen. Alles wurde eingepackt und jeder verschwand unter der Dusche und dann in den Messen oder Kabinen. Die Maschine wurde angeworfen, „Meteor“ nahm Fahrt auf und wir machten uns im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Staub.

      Am nächsten Morgen und 100 Seemeilen weiter südlich empfing uns wieder ein frischer kobaltblauer Ozean, mit klarem Himmel, leichter Dünung, Wind und einer strahlenden Sonne. Die Wasserschläuche beseitigten die letzten Boten der großen Wüste. Zur gleichen Zeit wunderten sich Autofahrer in München über den merkwürdigen gelblichen Staub, den sie morgens auf ihren Wagen vorfanden und ein oder zwei Tage später vermeldeten die Zeitungen, dass Saharastaub bis nach Deutschland gelangt sei. Ein nicht alltägliches Ereignis, denn eine ungewöhnlich große Staubwolke war aus der Wüste auf das Meer und in die planetarische Luftzirkulation geweht worden.

      Noch ein anderes Mal habe ich diese große Stille, die bedrängende Macht des Nichts erfahren. Jahre später im Indischen Ozean. Wir hatten ein mehrwöchiges Forschungsprogramm im Roten Meer abgearbeitet und begaben uns zu Vergleichsmessungen in den Indischen Ozean. Im südlichen Roten Meer, bei den heißen, sonnenverbrannten, steinigen und kaum bewachsenen Hanish-Inseln wehte ein kräftiger Wind, der die tiefblaue See mit weißen Schaumköpfen zierte. Ein immer wieder schönes Bild, welches das Herz eines jeden seevernarrten Menschen ein paar Takte schneller tanzen lässt und in mir immer Fröhlichkeit erzeugt.

      Bei Bab-el-Mandeb, der südlichen Pforte des Roten Meeres zum Indik, schlief der Wind jedoch ein, die Schaumköpfe verschwanden, die Wellen flachten ab. Wir fuhren in eine fast eine Woche dauernde Flaute hinein.

      Nach der Passage der Meerenge und als wir unser im sicheren Abstand vom Land ausgesuchtes Arbeitsgebiet erreichten, bewegte sich der Ozean nur noch schwach. Dann kam jede Bewegung zum Erliegen. Den ersten Tag pflügte „Meteor“, jetzt die neue, durch eine ruhige Wasserfläche, die gelegentlich noch Felder mit „Katzenpfoten“ zeigte. Einige wenige Wolken zogen noch über den Himmel. Zeugen der letzten zarten Windzüge bevor die Atmosphäre gänzlich ihre Tätigkeit einstellte.

      Ab dem zweiten Tag befanden wir uns dann in einer entrückten Welt. Das Meer war völlig zur Ruhe gekommen, ein durchgehend glatter, ölig wirkender Meeresspiegel, ein wie mit einem Lineal gezogener Horizont trennte sauber die in verschiedenen Blautönen leuchtenden Elemente. Kein Lufthauch regte sich mehr. Auf der „Meteor“ herrschte unangenehme Hitze, da jeglicher kühlender Wind fehlte. Lediglich auf den kurzen Strecken zwischen zwei Stationen, brachte der Fahrtwind etwas Linderung. Sobald aber das Schiff stand, war nichts mehr zu spüren, außer Hitze und die brutale Kraft der Sonnenstrahlen. Keine Bewegung, weder im Wasser noch in der Luft. Nichts, gar nichts. Nur beklemmende Hitze und wieder die alles umfassende Stille der einsamen See.

      Am dritten Tag verschwand der Horizont in weißlichem Dunst, das Meer verlor sich in einem helleren Streifen, aus dem auch der Himmel hervorzusteigen schien. Selbst die anfangs kräftigen und leicht unterschiedlichen Blautöne von Himmel und Meer wurden heller, weißer und glichen sich mehr und mehr einander an. Wir verschwanden in einem weißlich-blauen Kontinuum, in dem die Elemente ununterscheidbar wurden und sich in der Ferne verloren.

      Hitze und absolute Stille über der ganzen Szenerie. Die Sonne ging am Morgen auf, wanderte unbeeindruckt über den Himmel und verschwand, ohne dass irgendeine Veränderung am Himmel eintrat. Nachts zeichnete der Mond eine silbrige Straße auf das erstorbene Meer, zog seine Bahn und ging unter. Dann kam wieder die Sonne. Sobald sie über dem erschien, was wir für den Horizont hielten, traf uns die Hitze ihrer Strahlen. Es wurde von Tag zu Tag unangenehmer, da die Luftfeuchte anstieg und kein Wind die unsichtbaren Dunstschwaden wegblies. Treibhaus.

      Als wären wir in eine für das Leben unerreichbare Dimension versetzt, besuchte uns kein Vogel, kein fliegender Fisch startete zu seinen kurzen Segelflügen. Selbst unsere treuesten Reisebegleiter, die Haie, waren verschwunden. Nirgendwo eine Flossenspitze, kein torpedoförmiger Körper, der seine Kreise um das Schiff zog. Vorne am Vorschiff, auf der Back, dem ruhigsten Ort der „Meteor“, war das Schweigen der See bedrückend. Wir kamen uns wie in einer verlorenen Welt vor, als gäbe es nichts mehr auf dem Planeten außer uns. Niemals habe ich auf See ein derartiges Gefühl der Verlorenheit, der Einsamkeit empfunden wie in diesen Tagen.

      Der Ozean erschien mir unermesslich, fremd, lebensfeindlich. Die Stille zerrte am Gemüt. Wir wurden wortkarg zueinander, mürrisch, die sonst üblichen Scherzworte, die kleinen Hänseleien, das Geschwätz verstummten. Wir machten unsere Arbeiten, sicher, wir besprachen die notwendigen Dinge, Planungen, Geräteeinsätze, aber ansonsten zog sich jeder in sich selbst zurück. Die Bordbar blieb fast immer leer. Einige saßen in den Laboren und werkelten was das Zeug hielt, andere lagen still in den Kojen, lasen oder starrten mit leerem Blick an die Decke oder auf die geöffneten Bullaugen und warteten auf den nächsten Einsatz. Die Mahlzeiten fanden im Wesentlichen schweigend statt.

      Ein Schatten war auf uns gefallen, das empfanden alle, aber keiner konnte mit Bestimmtheit sagen, was es war. Angst? Wovor, das Schiff war in Ordnung? Bei Bedarf könnten wir die Maschine anwerfen und uns mit der höchstmöglichen Geschwindigkeit in ein anderes Seegebiet begeben. Wie damals vor Westafrika im Sand. Einsamkeit? Warum, um uns waren etwa 50 lebende Wesen? Wir kriegten es nicht in den Griff, aber die Stimmung war gedrückt.

      Dann folgte der nächste Tag, die Sonne ging auf, die Sonn ging unter, nichts regte sich. Keine Welle, kein Windzug. Nur Schweigen, Stille, Einsamkeit, Verlorenheit in der Weite der See. Der 5. Tag. Das gleiche Bild. Nichts. Diese Tage gehören zu den unangenehmsten, wenn auch durchaus interessanten Erfahrungen, die ich auf dem Meer gemacht habe.

      Solche entnervenden Situationen ohne Wind und Seegang sind übrigens keine Seltenheit auf dem Ozean und nicht etwa der Ausdruck höllischen Hasses auf unsere „Meteor“ oder deren Bemannung. In allen Ozeanen gibt es die Rossbreiten und die Mallungen. In der nördlichen Hemisphäre liegen bei etwa 30 – 40° Nordbreite permanente Hochdruckgebiete, wie z. B. das berühmte Azorenhoch. Sowohl im Zentrum eines Hochs als auch im zentralen Tiefdruckgebiet gibt es keine oder nur sehr geringe Luftdruckunterschiede. Ohne Druckunterschiede aber kein Wind, denn Luft setzt sich nur bei Druckunterschieden in


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