Johanna verrückt die Geschichte. Sönke Bohn

Johanna verrückt die Geschichte - Sönke Bohn


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       Johannaverrücktdie Geschichte

       Sönke Bohn

       Johannaverrücktdie Geschichte

      © 2020 Sönke Bohn

      Titelbild: © Melanie Monnerat Matla, Scheveningen NL

      im Besitz von: Markus Jerman, Arlesheim CH

      Verlag und Druck:

      tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

      ISBN

Paperback:978-3-347-12347-2
Hardcover:978-3-347-12348-9
e-Book:978-3-347-12349-6

      Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

      Was man mündlich ausspricht, muss der Gegenwart, dem Augenblick gewidmet sein; was man schreibt, widme man der Ferne, der Folge.

      J. W. Goethe

      Im Gedenken an Inga L.

       1

      Johanna, neunjährig und damit nach verbreiteter Sichtweise gewiss noch ein Kind, hat sich soeben eine Tüte goldbrauner Fritten gekauft und schlendert, die mit roter und gelber Sauce betunkten Stängelchen herauspickend, den sanft ansteigenden Deich hinauf. Wolf, Klaus und Tine – ein Hund und zwei „Erwachsene“ – sind schon ein Stück voraus, der Hund am weitesten. Auf der Deichkrone angekommen hält Johanna inne, blickt auf und späht über die weite, endlose Fläche. Sanfter, warmwürziger Wind weht ihr entgegen. Sie schließt die Augen, atmet die Unendlichkeit tief ein. Das darf bis in die Kniekehlen und Fußspitzen hinunterrieseln; sie streicht ein paar wenige, kitzelnde Haarsträhnen aus dem Gesicht. In dem Windhauch hört sie etwas von hinten auf sich zukommen. Sie öffnet die Augen und blinzelt in das glitzernde Licht.

      Da, der Junge, der eben noch hinter ihr in der Reihe gestanden hatte, kommt den grünen, mit spitzem, kurzem Gras bewachsenen Hang hinaufgelaufen, überholt sie und stellt sich vor sie hin. Dann stampft er etwas ungelenk kurz auf den Boden, spuckt ihr vor die Füße, streckt ihr den Arm fast in die Nase und ruft „Heijel Hietler“.

      Anschließend rennt der kleine Held, fast ein wenig panisch Land gewinnend, den Hang ein Stück weit wieder hinunter. Dann bleibt er kurz stehen, nestelt etwas an seinen Sandalen, um dann, fröhlich hüpfend, seine Eltern zu erreichen.

      „Sowas! Die sind aber komisch in Holland!“

      Klaus und Tine, kinderlos, haben Johanna für zwei Wochen zu sich genommen. Johanna, als kleine, nachgekommene Cousine, ist gut zu haben, hilfsbereit und hört sehr gerne alle möglichen Geschichten, die Klaus tagtäglich unermüdlich erzählt. Er hat viel zu erzählen, aus dem richtigen Leben. Klaus ist ständig unterwegs und kennt die Leute. Wie die wirklich so sind, das heißt, was sie anstellen und was ihnen passiert. Spannend, dass der Feuerteufel selbst bei der Feuerwehr gearbeitet hatte; erst zündeln – dann löschen. Irgendwie kennt sie das, aus der Schule. Im Rechnen werden da auch erst Probleme erfunden, schreckliche Textaufgaben, und dann ernsthaft gelöst.

      Für Tine, Klaus’ Frau, ist es mit Hannchen – einer ihrer Kosenamen – weniger langweilig als sonst, sie wartet dann nicht den halben Tag auf ihren Klaus, Heftchen blätternd, Nägel, Wimpern und Brauen pflegend, ihre schönen vollen Lippen um den eher kleinen Mund in einer Auswahl von wechselnden Rottönen hervorhebend, ihre Taille und täglich auch das Gewicht messend. Sie hört gern, was die schnatterlustige Johanna so alles von sich gibt, aus der Schule, von zu Hause, was sie so aufschnappt aus der Welt, von draußen. Hier und während der Ferien ist sie eine unglaubliche Plappertasche. Was so ein Kind alles aufschnappt, mitbekommt, worüber es sich seine Gedanken macht – manchmal mag Tine es gar nicht fassen! Wie sie die Nachbarn betrachtet, was sie über die denkt, eine wilde Mischung aus Beobachtungen, Gerüchten, Getratsche, immer mit einem Unterton der Verwunderung. Und dann, wer mit wem was zu tun hat, Streit hat, jemanden mag und sogar schon unter einer Decke steckt, heimlich. Und wer welche Geheimnisse hat, peinliche, wohlgemerkt. Die Erwachsenen tun ja oft nur so. Die Kinder der Nachbarschaft tauschen sich ziemlich unbefangen aus, machen auch ihre eigenen Nachforschungen. Zu dieser Zeit laufen die Grenzen mehr zwischen jung und alt als zwischen den Familien. Und: Die Kleinen dort halten ziemlich zusammen; also Sippenehre, die ist nicht so wichtig, eher Kinderehre; wer welche krassen Dinge bei den Erwachsenen entdeckt hat, und dass die alle unterschiedlich dolle einen an der Waffel haben. Johanna erzählt das alles. Johanna hält dauernd die Ohren und Augen offen, guckt sich die Leute an und die merken es oft gar nicht richtig. Bei Klaus und Tine badet und sonnt sie sich darin, Aufmerksamkeit geschenkt und vor allem von Tine so viel Gehör zu bekommen.

      Tine hat wenig zu erzählen – und eher wenig auch zu sagen. Gern redet sie von Klaus, sehr gern sogar. Klaus ist ihre Welt, ist mein Klaus. O du, mein Klaus. Mit ihr zusammen hat er fast immer gute Laune. Und für Klaus ist sie die süße, ergebene bessere Hälfte – die viel Schlimmes, das er sehen und hören muss, lindert – wirklich seine Schöne, seine heile Welt.

      Tine kocht nicht schlecht, auch das macht für drei mehr Spaß als für zwei. Hausmannskost, Kartoffeln mit Fleisch und etwas Gemüse und Soße, braune oder helle, – aber: lecker. Maggiwürze ist auch drin, eigentlich immer. Vor dem Essen muss sie sich ordentlich die Hände waschen, immer. Eigentlich ist es egal, was es gibt – Hauptsache, es ist nicht zu abwechslungsreich und schmeckt immer nach Tine. Sie essen abends, nach dem Spaziergang oder einem kleinen Ausflug.

      Für Johanna ist es richtig klasse, jüngere Leute als ihre doch schon ganz schön alten Eltern mitzubekommen – und dazu diese Geschichten. Das schreibt sie so ihrer Freundin Brigitte; sie ist stolz auf ihre Vizeeltern.

      Ihr Papa zu Hause erzählt wenig von der Arbeit oder seinen Erlebnissen. Die sind wohl nicht so interessant. Viel aber von dem, was er alles so weiß – und er weiß richtig viel, von Kaisern und Kriegen, allen möglichen Sachen, die früher mal passiert sind, überall auf der Welt. Wahrscheinlich weiß er alles, was nach der Eiszeit passiert ist. Als ob er überall mit dabei gewesen wäre. Das sind dann wohl doch seine Erlebnisse.

      Klaus hingegen erzählt wirklich immer gerne von seiner Arbeit, von den Leuten und was ihnen so passiert. Ist immer auch lustig, mindestens ein bisschen, selbst wenn‘s um richtig schlimme Sachen geht. Es gibt immer eine Pointe, bei der man sich schlapplachen kann, Klaus vorneweg. Er ist bei der Feuerwehr. Manche Leute haben richtig viel Pech, eigentlich gute Leute, feine Leute, aber mit Pech, dann gibt es auch die richtig Dummen, die ganz blauäugig und ahnungslos die volle Katastrophe selbst in Gang bringen, und dann auch mal Kriminelle, Erzschlingel sozusagen, echte Bösewichte. Da kommt dann auch die Polizei – seine besten Freunde sind bei der Polizei. Und die haben erst zu erzählen! Klaus ist voll drin im Geschehen.

      Von dem, was Johanna von Klaus hört, hört sie in der Schule erst mal gar nichts. Zu ihrem Verdruss! Und schon das macht sie auch ein wenig misstrauisch.

      Ein kleines Ersatzzipfelchen fürs echte Leben sind die „vermischten Meldungen“, die Rolf, ihr Bruder, gerne aus der Zeitung vorliest, „letzte Seite“. Die lesen, komisch, alle immer zuerst. Das ist eben interessanter als Textaufgaben oder die Heimatkunde, bei der es um Deichhöhen, Landgewinnung und Polder geht. Das ist ja auch mal auch ganz interessant, das kann man schon auch wissen sollen, aber ehrlich: nichts gegen diese Geschichten!

      Letztens mussten sie ausrücken, hat Klaus erzählt, da ist einem Bauern seine ganze Scheune runtergebrannt und der Stall dazu, Heu und Stroh für den ganzen Winter, der Stall war grad daneben, und da mussten sie spät abends in der Dunkelheit erst mal alle Tiere rauslassen; die waren völlig außer sich, nichts als Angst und Panik, Gemuhe und Gegrunze, so muss das wohl auch im Krieg gewesen sein, das kennen die Alten ganz gut. Das geht also wahnsinnig schnell, und: Stroh qualmt zuerst wie wahnsinnig, mit einer frischen Brise brennt’s dann aber richtig gut! Die alten Bauersleute hatten gleich ihre Rinder losgebunden und aus dem Stall gejagt, dann auch die Schweine. Die werden dann richtig


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