Johanna verrückt die Geschichte. Sönke Bohn
Volles Durcheinander. Panik. Und dann war das Feuer schon übergesprungen: Stall und Scheune, der Wohnteil am Stall dran, alles verbunden, so ein Aussiedlerhof. Da muss man sich schnell entscheiden, da geht es um Minuten, manchmal um Sekunden. Erst die Menschen, dann die Tiere, dann das Wohnhaus. O Mann, o Mann! Und da kannst du nicht einfach mit dem Wasser draufhalten. Erfahrung zählt, nachdenken! – sonst macht das Wasser auch noch das kaputt, was das Feuer nicht geschafft hat!
Die Bauersleute waren ganz verstört, fast zwanzig lange Jahre aufgebaut – und nun in einer Viertelstunde alles weg. Da muss man erst mal mit klarkommen! Alle wollen natürlich helfen, freiwillige Feuerwehr und so, alles, was Beine hat, will helfen. Da müssen dann klare Ansagen gemacht werden, sonst geht’s schief. Die Alten kennen das ja auch noch vom Krieg, hilft ihnen aber auch nichts mehr, konnten aber noch was retten, Fotoalben und den Rentenbescheid, was man so mitnimmt. Und wenn dann gut vier Dutzend Leute nach und nach aufkreuzen, musst du auch gucken, dass niemand im Weg steht und jeder seine Aufgabe hat. Licht machen, Leute trösten. Da kommt dann alles, was Schläuche und Eimer hat, und – na klar – Beine. Und Wasser alleine tut’s auch nicht. Die Öltanks musst du abdecken, mit Schaum. Ach, und der Klaus kann das so toll erzählen, du hast immer das Gefühl, du bist dabei und kannst den Qualm riechen. Das alles, auch wenn’s ganz schlimm ist, immer voll lustig. Da war eine Kuh rausgelaufen und voll ins Fußballtor auf dem Bolzplatz neben dem Hof, ist alles zusammengekracht und die lag dann wie so ein großer Butt im Netz, zappelte und kam gar nicht wieder auf die Beine. Ist auch gefährlich sowas, lachen muss man trotzdem. Die arme Kuh! „Lass sein, das arme Schwein“, sagt Klaus, fast mit Tränen in den Augen.
Klaus ist einfach eine Stimmungskanone, immer ein großer Freund, nicht wie die beiden Brüder, die immer wissen, was richtig ist und was nicht, und auch ganz anders als der Papa.
Im Auto singt Klaus an jeder Ampel inbrünstig gegen den lauten Käfer-Motor an, ganz laut also, am liebsten irgendwelche italienische Arien, aus Operetten. Johanna findet das ziemlich lustig. Manchmal ist es ihr auch etwas peinlich, so an der Ampel, weil sie befürchtet, die anderen Autofahrer oder irgendwelche Fußgänger könnten das mitbekommen. Nicht weil sie dann mitsingen würden, das wäre ja noch lustig. Vielleicht würden sie dann denken, er wäre betrunken, was er ja gar nicht ist. Er ist einfach so. Papa singt nie. Klaus redet auch mit den anderen Autofahrern, meistens aber nur über sie, Ausdrücke und so was. Auch wenn oder weil sie ihn nicht hören, besser so. „Du Brit“, sagt er dann oft. Er sitzt sehr nah an seinem Lenkrad, in Bissnähe, sozusagen.
Klaus nennt seine Tine „mein Püppi“.
Wenn er von Wolf spricht, wird er ganz weich und ruhig. Hunde sind so treu. So viel zu Klaus und Tine.
Heute stand aber eben dieser Ausflug auf dem Ferien-Programm, rüber nach Holland. Erst im Auto, Klaus hat eben so einen Kugelporsche, bis an die Mole, Parkplatz suchen, kleines Schwätzchen mit dem alten Mann, der erst kurz mit der Zunge den Daumen leckt und dann einen kleinen Zettel von seinem Block am Bauchladen abreißt. Den soll Klaus vorne ins Auto legen, gut sichtbar.
Dann wurde etwas herumgeschlendert, Hafenduft mit Möwengeschrei, hier und da gibt’s Fritten, und auch Matjes, kleine Kioske mit ganzen Säcken voll Muscheln und Schnecken, Stände mit kleinen, glänzenden Plastikfähnchen aus fast aller Welt. Portugal hat richtig schöne, tolle Farben. Dann geht’s an Bord, Übersetzen mit der Fähre, Inselbesuch.
Unter der Woche darf Hannchen Tine ein wenig im Haushalt helfen, abtrocknen, morgens frische Brötchen holen und die Zeitung aus dem Briefkasten angeln, ganz selten mal auch andere kleine Besorgungen machen, und, wenn es dann nach dem Frühstück bald unweigerlich langweilig wird, sich auf das braune Sofa setzen und in den vielen bunten Heftchen vom „Lesering – jeden Donnerstag neu“, blättern. Erst mal die „Praline“, dann „Wochenend“, oder umgekehrt. Es gibt schier nicht viel anderes zu tun, die Wohnung ist übersichtlich, super aufgeräumt, zum Sich-Zurechtmachen ist Johanna noch zu klein. Also anno dunnemals war das zumindest so. Die Zeit, wo auch kleine Mädchen Nagellack auftragen dürfen, ist noch in weiter Ferne, das wäre zu anzüglich, das macht man einfach nicht. Darum also Heftchen blättern. Oder Mama, aber besser noch Oma mal ’ne Karte schreiben, mit einer Briefmarke des Herrn Bundespräsidenten Heinrich Lübke. Lübke! Na, das ist toll, oder?
Zu Hause bei den Eltern liegt so ein „Schund“, wie Mama sagen würde, nicht herum, das würde nicht so passen, halbnackte Mädchen und Frauen mit prallen Brüsten, dass die Knöpfe fast aufspringen und Männer mit Pilotenbrillen und Schulterklappen auf den halboffenen Hemden, „Bildergeschichten“. Klaus und Tine würden sich das auch nicht so am Kiosk kaufen, es ist halt im Paket vom Lesering mit drin und für Johanna dann doch interessanter als Familientratsch aus irgendwelchen europäischen Adelshäusern oder kein Radio zu hören, denn das verträgt Tine nicht. Diese Herzchen-Geschichten sind dann nicht so adelig, wirklich in keiner Hinsicht, eher sogar peinlich, aber irgendwie schon auch ganz interessant. Johannas „Einweisung“, sonst erfährt sie nicht so viel darüber, wie das ist, wenn es so heftig knistert zwischen den Frauen und den Männern. Bisher hat sie nur mitbekommen, dass Mama das nicht so toll findet, wenn’s die Frauen in der Nachbarschaft zu dolle treiben, was auch immer das sein mag. Denn was das genau heißt, davon hat sie keine klaren Vorstellungen. Dass Männer den Frauen hinterhersteigen, ja, davon hat sie schon auch gehört, aber umgekehrt? Frauen, die sich an die Männer ranmachen? Gott bewahre! Hier aber kann sie Schritt für Schritt in den kleinen Romanzen lesen, wie die Gefühle sich entzünden, kleine Sprechblasen die Geheimnisse der Erwachsenen verraten, wie die Herzen in sehr engen Blusen auflodern – und es dann passiert. Erst schmachten, wenig später ein letztes Mal die Kleider ordnen, Augen machen, dann geht seine Hand auf ihre Brust und Augen zu: So geht das Rumkriegen. Diese Geschichten sind schnell überflogen, auch mehrmals, so eine Woche ist schon ganz schön lang. Eigentlich liest sie diese Geschichten jeden Vormittag. Denn: Davon erfährt sie in der Schule rein gar nichts. Schon eher von Nomen und Satzzeichen, Punktstrich und so. Und nicht zu vergessen: Malreihen. Braucht man alles fürs Leben. Hat Frau Schulze gesagt.
Was aber gibt es zu diesem scheinbar über die Maßen heiklen Thema? Andeutungen, wenn überhaupt. Leider keine wirklichen Erhellungen, obwohl es viele ja doch interessiert; also Johanna kennt kaum einen, den es nicht interessiert. Der Schwiegersohn vom Nachbarn, der hat so eine echt verbotene Autonummer: SE-X 269 aber, das ist ein – „man weiß gar nicht, was man dazu nun sagen soll“ – Schamröte erzeugendes Autokennzeichen. Was zum Schämen. Wie kann man nur! Sie denken, das hätte er doch auch ablehnen können – dabei hat er dafür ganz begeistert noch was draufgelegt!
Nachmittags, wenn Klaus von der Arbeit zurückkommt, sich kurz ausgeruht und seinen Uniform-Schlips – ja, Schlips muss sein – abgelegt hat, gehen alle zusammen raus an die frische Luft, Wolf braucht viel Auslauf.
Ihre anfängliche Scheu vor Wolf, einem kräftigen – unten gelbbraunen, oben schwarzen – gut abgerichteten und fein gehorchenden Deutschen Schäferhund, hat Johanna bald abgelegt. Das war komisch, als ob sie schon mal mit einem solchen Hund was zu tun gehabt hätte – hat sie aber nicht, nur mit Tante Tillis Pudel. Nun rennt sie mit ihm die Wege entlang, durch die Wiesen und Deich rauf, Deich runter. Sie darf ihn drücken, kraulen, streicheln und so viel mit ihm reden, wie sich die Worte aus dem Mund schaufeln lassen. Und immer zwischendrin: Komm! und: brav! Er schaut sie mit seinen treuen, honigfarbenen Hundeaugen ergeben an, hechelt und wedelt mit dem Schwanz. Er riecht nicht immer ganz gut, vor allem wenn’s geregnet hat. Johanna hat dennoch Vertrauen in ihn, liebt ihn geradezu, er ist ein so starker und lieber Geselle. Mit ihm an der Seite muss man keine Angst haben, da kann einem so ziemlich keiner was. Bei den fetten Pranken und dem Gebiss! Hallo, der hört auf mich. Ich, die Johanna mit Schäferhund – da wäre sie irgendwie unantastbar, nichts zum Rumschubsen. Könnte der doch bloß mit nach Hause kommen und sie ihn morgens mit in die Schule mitnehmen und dann liegt er unterm Tisch. Da wären die Lehrer schon etwas vorsichtiger, mindestens; wahrscheinlich hätten sie richtig Respekt, bestimmt. Und freche Jungs sowieso.
Wolf kann sie aber leider nicht mitnehmen, das ist schade, schade und nochmals schade, aber das Püppibild kommt schon mit nach Hause, es ist eben beeindruckend, prägt sich irgendwie ein. Weil: Tine ist unschlagbar, sie hat wirklich alles, was die Frauen in den Heftchen haben, ist voll adrett, und nett ist sie auch, lacht gerne, hört gerne