Johanna verrückt die Geschichte. Sönke Bohn
dann an sie herangespült. Sie ergeben sich an Orten, die so unspektakulär sind, wie es nur geht, an Wegen, Böschungen. Unheimlichen Schauer erregen bei ihr hoch aufragende Schornsteine, sie wirken wie Unorte, sozusagen – und irgendwie unzeitig. Es sind nicht die allgemein einem Kind zugebilligten, bei einem Kind vermuteten Erlebnisse. Und eben darum die Quelle von Missverständnissen aufgrund eingeschränkter Sicht oder voreiliger Einschätzung seitens der Elterngeneration; Quelle bald schon auch von Verlassenheit und Leid, schrittweiser Entfremdung. Nicht verstanden werden fühlt sich nicht gut an. Gar nicht einfach für ein „Kind“, gar nicht schön.
Sie, möchte man, Johanna betrachtend, fast sagen: die „Verwachsenen“, sie denken: Du hast ja noch gar keine Geschichte, du kleine Pieps-Göre hast ja noch gar nichts mitgemacht – du Hannchen, und ahnen nicht, wie sehr sie Geschichte hat, Geschichte in ihr ist, ja, sie selbst ganz Geschichte ist.
Johanna macht dieses aufkeimende Doppelleben zu einer philosophischen Person, sie wird nachdenklich, und was die Philosophie und den Tiefsinn angeht, da spielt das Alter wirklich keine Rolle. Was sich ihr so ergibt im Durch-das-Leben-Laufen, was sie gerne mitteilen, nachfragen und am liebsten noch besprechen würde, prallt in dieser ihrer Welt, von dieser ihrer Umgebung zunächst einfach überall ab. Als wenn das Langsam-sich-vorwärts-Tasten Kinderkram wäre.
In ihrer Umgebung findet sie einfach niemanden, der nicht vorgibt, festen Boden unter den Füßen zu haben, niemanden, der sich nicht sicher ist, wie was auch immer gemeint ist oder zu verstehen sei, und schon gar niemanden, der etwas von all dem, was man das Leben, so wie es eben ist, nennt, ernsthaft in Frage stellt. Alles scheint gewiss und sicher, wie verabredetet. Aber von wem, von welchen Beteiligten?
Vergangene Ereignisse und gegenwärtige sind ohne Spielraum für andere oder weitergehende, vage oder geheimnisvolle Bedeutungen, für schwebende, zur Not auch schlingernde Bedeutungen, für das, was sich aus ihnen machen ließe so als Kind, das die Dinge bewegen will, als Mensch. Möglichst wissenschaftlich, so lernt sie, soll das Leben verstanden werden, damit können wir uns absichern und organisieren. Alles ist vor allem fertig und wenn nicht, sollte es fertig werden, und dann bitte obendrein so flott wie möglich. Auch wenn es mal sinnlos ist oder sein sollte, dann bitte trotzdem akkurat. Und anschließend fertig bleiben, sauber und heil, ohne Lücken, am besten wohl tausendjährig. Und wenn etwas ganz, ganz richtig gemacht ist, riecht es nach Nivea – und das beruhigt, denn es zeigt: Es ist unbefleckt weiß und sauber.
Nicht leicht, in so einer Umgebung zu gedeihen!
Als Johanna noch sehr klein ist, noch nicht einmal zur Schule geht, erzählt sie im Fieber von kleinen, mächtigen, sie zur Dämmerzeit arg bedrängenden Wesen: Sie erscheinen zunächst immer weit weg, am allerfernsten Horizont, füllen diesen aber bis zum Zenit und rundherum ganz aus. Trotz der Größe sind sie aber federleicht und tun einem nichts. Dann, näherkommend, ballen sie sich zusammen, werden dabei schrittweise schwerer und schwerer und fangen schon von der näherkommenden Ferne an zu lasten. Je kompakter sie werden, desto mehr lasten sie, ja, sie drohen fast, Johanna zu erdrücken, zu zermalmen. Das ist schwer zu ertragen, es macht richtig Angst.
Die als Tochter und Schwester Erkannte ist damals noch klein, kann das aber dennoch so rausstammeln, erzählen.
„Sie phantasiert, die Kleine.“
„Hannchen, was erzählst du da für komische Sachen. Riesenzwerge! Das gibt es doch gar nicht, das bildest du dir nur ein.“
„Sie fiebert, wir müssen ihr einen Wickel machen und am besten ein Zäpfchen geben.“
So fängt es an, das liebevolle, sorgende Nicht-Verstehen. Die Eltern sind ja schon ganz bemüht, freuen sich über die vielen kleinen Bilder, über mitgebrachte Blumensträuße und später über gute und sehr gute Leistungen in der Schule. Ja, sie wollen wirklich gerne alles richtigmachen. Sie passen selbst auch nicht so ganz in diese Welt, doch was soll man tun? – Man muss ja. Die Kinder aber, ja, man wähnt, wie sie es anstellen sollten, so halb zumindest. Als Eltern muss man ja. Es ist aber nicht ganz einfach zu wissen, wie, vor allem, wenn das eigene Hereinwachsen in diese Welt mehr als genug Einschüchterungen hatte. Die Einschüchterungen werden erst mal weitergereicht.
Schon die kleine Johanna wächst ja in einer ganz anderen Zeit auf als die Eltern damals, in einer anderen Welt. Fremdartig andere Einflüsse als früher. Man muss dauernd aufpassen – dieser Straßenverkehr – und auch auf rumlaufende Mitschnacker. Und nicht überall sind Onkel, Tanten und Kusinen, die einfach da sind, man muss die Kinder irgendwie mehr alleine aufziehen. Die Kleine sagt oder will manchmal Dinge, wo man oft gar nicht genau weiß, woher sie die hat. „Von mir und meiner Familie oder von dir und deiner Familie, oder von den Nachbarskindern?“ Auf den Umgang muss man schon aufpassen. Der Umgang ist schon das Hauptproblem.
Umgang, dieser oder jener, hat etwas vorwiegend Besorgnis Befeuerndes. Vielleicht kommt es auch aus der Schule? Aber das kann ja wohl nicht sein.
Siebenjährig, abends im Bett liegend und auf den Schlaf wartend, bangt sie. Nicht einfach ein wenig bange, nein, es nimmt sie ganz ein, verzweifeltes, die Seele verspeisendes Bangesein, Kinderbangesein eben. Zur Nacht muss sie vom einen Reich ins andere. Vom Reich, wo das Zimmer ist, Bett, Tisch, Stühle, ihre geliebten Pixi-Bücher, Kleiderschrank und Garderobe, das Treppengeländer, die durchsichtige Seife im Bad, die ganz normalen Gerüche, Mamas Mantel so anders als der von Papa – aber der raucht ja auch – die wenigen, herumliegenden Spielsachen … von da soll es nach drüben gehen.
Und drüben, hinter dem Haus, da ist der Wald. Wald! Wie in einem Märchen. Tiefes, am Abend dunkles Grünblau, Schlingpflanzen. Erst einmal geht es durch richtiges Dickicht, hinter dem kleinen Steg verschiedene Büsche und hohe Brennnesseln, und dann die wilden Brombeeren mit den langen, begierigen Ranken, überall, vielleicht extra, damit da niemand durchkommt. Die versperren den Weg, denn: In den Wald, da geht man nicht einfach mal so hinein. Meist werden dösende oder sich ganz dem Scharren und Picken hingebende Rebhühner aufgescheucht, und Rehe gibt es darin, vielleicht auch Einhörner, gewiss viele Tiere, sicher auch einen Brunnen, irgendwo tief im Wald, dann Hütten, bewohnt von Menschen und Wesen, die nie sterben, alles von uns wissen, wir aber nichts von ihnen. Noch nicht einmal, dass es sie gibt.
Johanna will hinüber. Hier kann sie ja auch nicht die ganze Nacht in dem Zimmer mit den normalen Sachen bleiben. Sie muss über eine breite, nur wenig über den träge dahinfließenden Fluss ragende Brücke gehen. Wochenlang geht das, und es fühlt sich an wie Ewigkeiten, fast jeden Abend, fast jede Nacht. Die steinerne, sanft gewölbte Brücke hat unten drei Bögen, die aus grauen Felsblöcken gemauerte Begrenzung an den beiden Seiten ist breit, aber niedrig, kaum kniehoch. Man könnte sich bequem setzen. Das Wasserwälzgewühl unter der Brücke aber ist durchsetzt mit Unmengen sich windender, schwarzbrauner Nattern. Sie treiben als verknäulte Masse langsam flussabwärts. Sie traut sich kaum herunterzugucken, muss aber heruntergucken, sie muss der Gefahr ins Auge schauen, und – sie soll und will ja hinüber. Ohne Beistand! Jeden Abend. Und jeden Abend allein!
Sie schafft es auch immer, die Anspannung und damit verbundene Erschöpfung sind aber so groß – da kann sie sich nachher nicht erinnern, was nun auf der anderen Seite alles passiert sein mag.
„Bitte, ich will noch nicht ins Bett. Bitte, bitte!“, sagt sie. „Warum versteht ihr nicht, könnt mir nicht helfen? Ich halte das nicht aus.“
Für die kleine Johanna, wie auch für die alles miterlebende, mit großer Geduld wartende Thoulasith eine große Not!
Aus anderer Sicht ist das natürlich nur ein Traum, eine Einbildung, und damit etwas, das es ja gar nicht wirklich gibt, es sind eben nur Bilder im Kopf eines Kindes, das noch nicht weiß, was wirklich wichtig ist. Es ist wohl weder der Rede noch einer Geste wert.
Du gehst jetzt ins Bett. Es gibt nur kleine Drohungen und um die Folgsamkeit besorgte, doch zugleich verständnisfreie Blicke. Immer muss das, was stört, am besten weg. Nicht nur aus den Augen, auch aus dem Sinn.
„Irgendwie passen wir nicht zusammen, vielleicht gehöre ich ja ganz woanders hin.“ Daran, dass es nicht passt, verzweifelt Johanna, das Kind, leidet Thoulasith, die außer der Zeit bleibt, und doch hier wie angebunden ist.
Mit ihrer