Johanna verrückt die Geschichte. Sönke Bohn
ganz sicher schwarz auf weiß, mit diesen komischen Paragraphen-Zeichen. Und wenn der nicht irgendwo rumliegt, dann können sie ihn auswendig. Er ist fest eingewachsen im Fleisch, fließt durch alle Adern.
Johanna selbst sind diese so offenbaren, aber auch versteckten Anforderungen nicht so klar, sie kann sie für sich nicht mit Sinn erfüllen. Sie entsprechen wohl nicht ihrer Natur. Und ein eindeutiges Bild, dem sie sich einzufügen habe, gibt es bei ihr schon gar nicht. Mädchen sein, Tochter sein, das ist nicht einfach angeboren und damit selbstverständlich, es will erst gelernt und eingeübt werden. Mal einfach so und ohne große Umstände, manchmal mit enormen Zumutungen und ganz viel Überwindung, auch aufgenötigter, unfreiwilliger. Und das mit dem Ein-Alter-Haben ist auch anstrengend. Entweder zu klein und viel zu jung oder schon zu groß. Was denn nun!
So, wie die schon erwachsen Gewordenen das Leben verstehen und eingeübt haben, bleibt wenig Platz zum Probieren. Da die sich selbst oder das, was sie sich vorstellen zu sein, zum Maß erkoren haben. Der Mädchen herzlich gern gewährte Spielraum beschränkt sich auf rote und weiße Kniestrümpfe, auf Zöpfe oder Pferdeschwanz und Gummitwist oder Himmel und Hölle, Knicks machen, einfache Hausarbeiten, das Poesiealbum füllen und Oblaten sammeln und einkleben, Schönschrift. Aber da sind viel zu viele andere Neigungen. Fragen, Wissbegierde, selbst Wolllüste, die sich nicht den Vorstellungen fügen, die sie anscheinend leiten sollten. Schuhe, Hosen, verspielte Variationen im Äußeren, Musik, was mit den Haaren machen, Politik, warum so viele Gebäude grau oder zerstört sind, mit wem und über was man redet und mit wem nicht.
Vorstellungen anderer können einen ganz schön einengen, können richtig quälen. Warum gibt es für hochgezogene Kniestümpfe ein dickes Lob, für hochgekrempelte Ärmel aber missbilligende Blicke? Dabei wäre Johanna so gerne loyal.
„Das ist meine Familie, die werden doch schon am besten wissen, was gut für mich ist.“
So teilt sie den Streit zu Hause, teilt ihn mit den Geschwistern, teilt die Missstimmungen zwischen Mutter und Vater, allerlei Launen, vor allem der Mutter, sowieso.
Derart viel zu oft alleine muss Johanna mit blöden Peinlichkeiten wie dem neuen Schottenrock klarkommen. Von der Patentante geschenkt, großkariert, was es auch nicht besser macht, und, zu aller Überfülle an Segnung, auch noch mit einer lächerlich übergroßen Sicherheitsnadel ausgestattet, die aber wiederum festgenäht ist. Toll. Hast du dich schon bedankt?
Wo es doch eine Hose hätte sein sollen.
Johanna teilt selbstverständlich die weitverbreitete Vorliebe für Vanilleeis und die Beatles, da ist sie mal der John-Lennon-, mal der George-Harrison-Typ, mag Pferde, aber auch Michael Holm hält sich in ihrer Aufmerksamkeit – sie ist eben eine treue Seele – und, klar, Dalia Lavi. The Who und die Monkeys, die sind lustig.
Man muss sich schon was einfallen lassen, um die Langeweile totzuschlagen. Vor allem wenn man, kaum dass man Laufen gelernt hat, ziemlich genau weiß, wie so ein Tag abläuft. Oft einer wie der andere.
Johanna spielt, mittags im Stillstand der Stunden auf dem Bett liegend: „Gebirge“. Füße, Knie und Hände müssen unter die Wolldecke. Je nachdem, wie verschränkt sie liegt, kann sie sicher sein, dass man mit dem Auge von außen nicht raten kann, was es denn ist, das den kleinen Hügel, diese oder jene Wölbung der Decke von unten her verursacht. So baut sie kleine Landschaften, im flachen Land mindestens ein ausgewachsenes Mittelgebirge, weite Täler, enge Schluchten. Sie stellt sich vor, durch all das hindurchzulaufen, gerne mit Wolf. Alles eigentlich voller Gefahren, aber die beiden zusammen – da kann gar nichts passieren. Spielt sie mit einem der beiden Brüder oder einer Freundin, versuchen die oft, die Ursache – einen Arm, die Hand, ein Bein – zu erhaschen. Dafür jedoch ist Johanna zu flink, da ist schnell alles wieder ganz flach und harmlos. Wahnsinnig spannend ist das nicht, aber die Zeit vergeht dann doch irgendwie.
7
Abends in der Herbstdämmerung ist es am schönsten draußen, mit den Nachbarskindern Verstecken spielen, rumklettern. Quatschen und auch mal Streit, oder was tauschen – die Zeit, bevor man zum Essen oder Reinkommen gerufen wird. Ein bisschen müde schon, rote Wangen, erfüllt, unbeschwert.
Der zugelaufene Hund, drei Tage reine Kameradschaft. Jeden Abend kommt er. Die Kinder füttern ihn heimlich durch. Würstchen aus den Speisekammern und Corned Beef aus den Vorratsregalen. Jeder hier hat sowas im Keller. Und da ist einer, der sich wirklich immer freut, wenn man kommt und was mit ihm macht. Mit Hunden kann Johanna einfach gut und auch die anderen Kinder sind mutig und halten den Mund.
Die Erwachsenen kriegen von alldem gar nichts mit, denken, die Gören machen alle ganz brav ihre Hausaufgaben und gehen dann ein wenig Verstecken spielen. Von wegen.
Allein, abends vor dem Einschlafen kommen dann ganz andere Gedanken: Irgendwann wird es darüber ein Gespräch geben, was war das, was hast du gefühlt, hast du was draus gemacht? So verborgen es auch ist, so ohne die Eltern und Aufpasser, jemand oder etwas guckt die ganze Zeit zu.
8
Alles, also vor allem im Alltag, ist harmlos, und zwar oft etwas öde, aber erträglich, eigentlich, ja. Andere Kinder haben kein Essen, oder haben Eltern, die sie zu oft schlagen.
Und doch, wenn sie nur einmal eine kleine Zustimmung erfahren würde, ein „Ja“ oder eine kleine verständnisvolle Gebärde, ein „Na so was“ oder ein „Wird schon“. Es gibt leider nur Belohnungen oder Strafen.
Aber – wie auf einem Schwebebalken – Johanna hält den Kurs. Immer schön geradeaus, nicht hinuntergucken – und, pausenlos: probieren, das Gleichgewicht zu finden. Das Gleichgewicht zu dieser ihrer Welt, denn alles, was sie ist, ist sie durch, mit und von ihren Eltern, den Brüdern, den anderen Kindern, der Schule, der Nachbarschaft und allen möglichen Leuten. Aber auch was sie so selbst für sich mag und will und denkt, darf sie bitte ja nicht vergessen. Und davor hat sie eine kleine, feine Angst:
„Gehe ich ganz mit euch, dann verblasst das, was irgendwo aus dem Ohne-euch auf mich wartet. Später einmal, meine Füße würden mich dann da nicht hintragen; oder ich würde direkt davorstehen und es gar nicht erkennen. Das, was für mich aufgehoben ist. Ich will nicht eure Farbe annehmen, nicht ins Tintenfass gesteckt werden!“
Da ist der Wunsch, den hellblauen Siegelring, wie ihn der Vater trägt, mit einem kleinen gelben Stern zu zieren. Ja, mit diesem Stern. Sie kritzelt ihn auf den Heftdeckel, hätte gern eine Kette mit so einem Sternchen.
Doch den Stern gibt es nicht, wie kommst du auf den Stern? Auch kein Kreuz. Wenn alles gut geht, kann es mal ein Herzchen werden. Besser noch ein Marienkäferchen, und dann aus Emaille. Kleinemädchenkram, da hat sie ja auch gar nichts dagegen, aber dieser Stern wäre ihr schon lieber. Ein schönes rotes Marienkäferchen mit schwarzen Punkten und dieser gelbe Stern an einem Armkettchen, das wär’s.
Johanna sucht sich stattdessen kleine Ventile, um ihr „Ich bin nicht nur das kleine Mädchen, das ihr immer mal wieder einfach so rumschubst, ich bin doch auch fremd und ganz anders, seid bitte ein wenig vorsichtig mit mir“ wenigstens irgendwo im allgemeinen Tagesverlauf unterzubringen. Dem neu zugezogenen Jungen von schräg gegenüber, der sogar in die gleiche Klasse mit ihr kommt, quatscht sie die Ohren voll. Sie setzt richtig einen drauf, tühnt, was das Zeug hält, voller Eifer. Sie erzählt, was nun wirklich nicht wahr ist, doch wie sie so gern wäre, wie sie es so, so gern hätte. Nicht nur ein deutsches Kind, sie sei auch ein wenig jüdisch, durch die Urgroßmutter, sogar auch italienisch und amerikanisch und uruguayisch, das sei schon ziemlich kompliziert. Auf einem Dampfer geboren, auf dem Weg von Südamerika nach Europa, der fuhr unter italienischer Flagge. Deshalb. Da weiß man gar nicht mehr genau, wer man nicht auch noch sein möchte. Am liebsten alle zugleich.
Diese rührend zarten inneren Regungen und die unbeholfenen Versuche, sie irgendwie auszudrücken, ihnen ein Kleid zu geben, gleichen winzigen, flatternden Vögelchen, kleinen wunderfarbig schillernden Kolibris, die in der Luft vor riesigen Blüten stehen. Kolibris, die so schön in der Luft stehen können, die aber auch so gerne einmal einen Ast zum Landen fänden. Dort dann einmal ruhen dürfen und dann aus den Zweigen heraus glücklich und freudig zwitschern.
Stattdessen bekommt