Demokratie und Sozialismus und Freiheit. Frank Kell
definiert. Dieser Wendepunkt trennt eine historische von einer bis in die Gegenwart reichende Lebenswelt in Ostdeutschland: das Erleben von relativer Eindeutigkeit und Stabilität in der spätsozialistischen Gesellschaft der „Konsensdiktatur“35 einerseits und die postsozialistische Erfahrung eines grundschürfenden Wandels der sozialen und kulturellen Verhältnisse andererseits.36 Die erinnerungsmäßige Konzentration auf den Systemwechsel in den 90er Jahren schiebt den Topos der Friedlichen Revolution in den Hintergrund, auch weil die „lange Geschichte der ‚Wende‘“37 von vielen Ostdeutschen selbst im Rückblick nur schwer mit dem Adjektiv „friedlich“ assoziiert werden kann. Gleichzeitig erlaubt der im Vergleich zur Revolution schwächere Bewegungsbegriff der Wende, den Systemwechsel in der Erinnerung durchlässiger für kulturelle Kontinuitätslinien zu gestalten. Während der Revolutionsbegriff zur kritischen Auseinandersetzung und Abgrenzung mit der vorrevolutionären Vergangenheit auffordert, hilft der Begriff der Wende, die Frage der eigenen Rolle in der „heilen Welt der Diktatur“38 nicht in den Kategorien von persönlicher Verstrickung und Verantwortung zu verhandeln. Der Bruch mit der DDR fällt im Sprechen über die Wende weniger stark aus, wie diese überhaupt vieles Diktatorische und Repressive verschleiert. Enttäuschte, womöglich überzogene „Wende-Erwartungen“39 – mögen sie früher oder später auch erfüllt worden sein – speisen bis heute eine vor allem in Ostdeutschland identitätsstiftende Gerechtigkeitsdebatte.
Wende und Friedliche Revolution zeigen aber nur die zwei deutungsmächtigsten Perspektiven auf die Ereignisse von 1989/90 an. Einen dritten Standpunkt nehmen zahlreiche Akteure der DDR-Bürgerrechtsbewegung ein. Sie sahen und sehen bis heute ihr Denken und Handeln weder mit einem auf die bundesrepublikanischen Verhältnisse zielenden Revolutionsbegriff noch mit der von den alten Machthabern korrumpierten und einer vermeintlichen vox populi nach dem Mund redenden Wende adäquat beschrieben. Christa Wolf stellte bereits in ihrer Demonstrationsrede am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz fest:
„Mit dem Wort Wende habe ich meine Schwierigkeiten. Ich sehe da ein Segelboot, der Kapitän ruft: ‚Klar zur Wende!‘, weil der Wind sich gedreht hat und die Mannschaft duckt sich, wenn der Segelbaum über das Boot fegt.“40
Dieses Bild bemühte die Schriftstellerin gegen die personell erneuerte SED-Führung unter Egon Krenz, der noch im Juni die gewaltsame Niederschlagung des Studentenaufstandes in Peking begrüßt hatte und von dem die Opposition nun fürchtete, seine Ankündigung zur „Wende“ vom 18. Oktober sei der bloß verschleierte Auftakt zur Stabilisierung alter SED-Herrschaft durch neuerliche Disziplinierungsmaßnahmen gegen die gerade „mündiggewordenen Mitbürger“.41 Mit dem unbedingten Anspruch an das eigene Handeln demokratisch legitimiert zu sein und mit dem generell positiven Bezug auf einen „richtigen“ und „schöpferischen Sozialismus“,42 verstanden sich zahlreiche Akteure der Bürgerrechtsbewegung zunächst als Gesellschaftsreformer für eine „friedliche und demokratische Erneuerung“43 und weniger als machtstürzende, an einer Alternative zum Sozialismus orientierte Revolutionäre mit eigenem Herrschaftsanspruch.44 Ihre Vision eines demokratisierten Sozialismus in der DDR zielte „nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengedresch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit“45 auch auf eine „sozialistisch inspirierte Alternative zur Konsumgesellschaft in der Bundesrepublik.“46 Nahezu alle oppositionellen Gruppierungen, die seit September 1989 über verschiedene Wege in die Legalität gedrängt waren, legten in ihren Gründungsaufrufen ein mehr oder weniger klares Bekenntnis zur „Vision einer sozialistischen Gesellschaftsordnung“47 ab. Wenn es für diese Akteure rückblickend etwas wirklich Revolutionäres im Verlauf der Ereignisse von 1989/90 gegeben hat, dann liegt dieses nicht in der „nationalen Freiheits- und Einheitsbewegung, die folgerichtig in das Ende der über vierzigjährigen Teilung Deutschlands mündete“, wie es die „erfolgsgeschichtliche Revolutionserzählung“ einer Friedlichen Revolution kolportiert,48 sondern in dem zeitlich vorgelagerten Engagement gegen die politischen und gesellschaftlichen Zustände in der DDR – ein Prozess, den sie als Überwindung von Sprachlosigkeit, als „Aufbruch einer ganzen Generation, einer ganzen Gesellschaft aus selbst mitverschuldeter innerer Unmündigkeit und Feigheit“49 sowie als Erlernen und Praktizieren des „aufrechten Gangs“ begriffen.50 Bärbel Bohley, Mitbegründerin des Neuen Forums, äußerte sich im April 1990 auf den Herbst des Vorjahres zurückblickend:
„Dieses Land war anders. Da gab es immer die schweigende Masse. Das große Schweigen in diesem Land. Und ab September haben die Leute wirklich andere Augen gekriegt. Denen war egal, ob da noch jemand am Tisch saß, der von der Staatssicherheit war. Die haben geredet. Die haben sich zum erstenmal frei geredet. Und haben anders geguckt. Und waren sehr stolz auf ihren Mut. Und hatten auch Grund dazu, stolz zu sein. Weil sie irgendwas in sich überwunden haben, was sie jahrelang gehemmt hat. Von diesem ‚aufrechten Gang‘ ist jetzt schon so oft gesprochen worden, daß man es gar nicht mehr hören kann, aber es war eine Befreiung, eine innere Befreiung. Aber dann kam die Berührung mit dem bunten Laden Bundesrepublik. So einfach ist das. Ich sage das, weil ich festgestellt habe, daß sehr viele Dinge wirklich ganz einfach sind.“51
Die hier in den letzten Sätzen greifbare Enttäuschung über die programmatische Wende der Proteste von einem als „Selbstbefreiung“52 erfahrenen „Aufbruch“ der vormundschaftlichen Verhältnisse und von einem „Aufbruch“ in eine „deutsche demokratische Republik“ zu einer Orientierung auf das Wohlstandsversprechen des Verfassungs- und Wirtschafssystem im „Westen“, mündete in der Folge in eine „trotzige oder melancholische Gegenerinnerung ehemaliger Protagonisten“, die „resigniert mit dem Verlauf des Umsturzes von 1989/90 ins Gericht gehen“.53 Dieses Deutungsmuster lässt sich auch bei Konrad Weiß, einem Mitbegründer von Demokratie Jetzt, wiederfinden, der in seinen Worten – den Ausgang der Volkskammerwahl im März 1990 zugunsten der vereinigungsorientierten Allianz für Deutschland vor Augen – zugleich den Gesamtprozess der Entwicklung von 1989/90 tendenziell negativ beurteilt:
„Auch die Revolution vom vergangenen Herbst ist mißglückt. Ich selbst gebrauche eigentlich das Wort ‚Revolution‘ in diesem Zusammenhang gar nicht, sondern ich sage ‚Umbruch‘. Es hat sich viel verändert. Wir haben es geschafft, das SED-Regime und den ganzen Mechanismus, der damit verquickt war, zumindest in Ansätzen aufzulösen. Diese Arbeit ist noch lange nicht beendet. Aber wir haben es wieder nicht geschafft, etwas wirklich Neues zu beginnen. Diese Chance ist vertan worden, und ich denke, daß daran nicht zuletzt der 9. November 1989 schuld ist. […] Ich denke, der Umbruch, die Revolution, wenn Sie so wollen, ist von den Warenbergen, die die darauf unvorbereiteten DDR-Bürger zu Gesicht bekommen haben, erdrückt worden.“54
In zahlreichen weiteren Wortmeldungen der Akteure, seien sie mit den unmittelbaren