Gesicht des Wahnsinns. Блейк Пирс

Gesicht des Wahnsinns - Блейк Пирс


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Bewegung protestierten. Die Zahlen waren ihr heute keine Hilfe, dafür gab es einfach nicht ausreichend Beweisstücke. Anhand der Druckstellen im Gras konnte sie die Körpergröße des Opfers schätzen, aber was nützte das schon? Sie lag ja schließlich schon in der Leichenhalle. „Nicht viel. Keine eindeutigen Hinweise auf die Größe, das Gewicht oder die Körperkraft des Täters, wobei wir wohl davon ausgehen können, dass wir keinen Schwächling suchen. Höchstwahrscheinlich ist nur ein Mann physisch in der Lage, einen Kopf abzutrennen. Aber ich kann seine körperlichen Eigenschaften nicht genauer schätzen, weil er sie geköpft hat, als sie schon am Boden lag.“

      „Sie haben die Gegend gestern Abend systematisch abgesucht, dabei aber nichts Nennenswertes gefunden“, sagte Shelley, als sie mit zusammengekniffenen Augen zum restlichen Windpark hinübersah, der sich nun vor ihnen erstreckte. „Was hältst du von der Wahl des Tatorts? Ein zu willkürlicher Ort, um hier darauf zu warten, dass jemand vorbeiläuft, oder?“

      „Und viel zu ungeschützt“, stimmte Zoe zu. „Das passt nicht ins Schema eines Gelegenheitsverbrechers. Hier ist etwas anderes vorgefallen.“

      Shelley biss sich auf die Unterlippe und schaute sich um. Die kurzen Haare an ihrer Schläfe richteten sich im Wind auf. „Warum wartet man nicht an einem schlechter einsehbaren Ort auf sein Opfer, oder geht weiter in den Park hinein?“, sagte sie. Es klang eher so, als würde sie laut denken – und nicht wie eine Frage. „Warum ausgerechnet hier, so nah am Parkplatz? Es muss einen Grund dafür geben, dass er dieses Risiko eingegangen ist.“

      Zoe warf einen weiteren Blick auf die Blutspuren am Boden. „Der Körper war so ausgerichtet“, sagte sie und zeigte dabei in eine Richtung. Füße in Richtung restlicher Park, Kopf in Richtung Parkplatz. „Ein Überraschungsangriff eines versteckten Täters erfolgt normalerweise von hinten, wodurch das Opfer nach vorne fällt.“

      „Mit anderen Worten: Sie war auf dem Weg zurück zum Parkplatz, als sie attackiert wurde.“

      „Vielleicht wollte sie gehen. Er musste hier zuschlagen, bevor es zu spät war.“ Zoe starrte in Richtung einiger Büsche ganz in der Nähe. Auf ihren Blättern waren rote Flecken zu erkennen, die ein wenig wie äußerst makabre Beeren aussahen. „Vielleicht hat sie ihn ja gesehen und ist dann weggelaufen. Aber ich kann keine Anzeichen dafür erkennen – keine aufgewühlte Erde. Man kann erkennen, dass sie an der Seite des Weges entlanggelaufen ist, nicht auf der stärker verhärteten Mitte. Es hätte also Spuren hinterlassen müssen, wenn sie gerannt wäre.“

      Shelley schloss die Augen, als würde sie sich die Szene bildlich vorstellen. „Lorna war also auf dem Rückweg, in Richtung Parkplatz. Er erkennt, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt, bis sie wieder in Sicherheit ist und er keine Gelegenheit zum Angriff mehr hat. Er muss es also jetzt tun. Vielleicht versteckt er sich irgendwo an der Seite, vielleicht da drüben im Gebüsch.“

      Zoe schüttelte den Kopf, nachdem sie die Größe der Büsche abgeschätzt hatte. Sie waren nicht groß genug, um sich darin zu verstecken. „Glaube ich nicht“, sagte sie, aber es gab einen einfachen Weg, das zu überprüfen. „Herr Kollege?“

      Einer der jungen Männer, die den Tatort abschirmten, sah sich zu ihr um. „Ja, Ma’am?“

      „Tun Sie uns doch einen Gefallen. Gehen Sie doch bitte mal dort rüber und versuchen Sie, sich so gut wie möglich im Gebüsch zu verstecken. Knien oder legen Sie sich hin, damit man Sie möglichst nicht mehr sehen kann.“

      Der Mann blinzelte kurz und sah zu seinem Chef, der seine Zustimmung signalisierte. Er tat wie ihm geheißen und versuchte, sich zu verstecken. Obwohl er Kleidung in natürlichen Farbtönen trug, war er im saftigen Grün des Gestrüpps deutlich zu erkennen. Die Sträucher waren nicht besonders hoch gewachsen – und dank der großen Lücken zwischen den einzelnen Ästen versperrten sie die Sicht nicht besonders gut.

      Shelley ging um die Absperrung herum zur anderen Seite des Weges und sah von dort wieder in seine Richtung. „Ich kann ihn auch von hier noch sehen“, bestätigte sie.

      „Mach dich etwas kleiner“, rief Zoe ihr zu. „Du bist zweieinhalb Zentimeter zu groß.“

      Shelley ging für einen kurzen Moment in die Knie, wodurch sie sich mindestens fünf Zentimeter kleiner machte. „Macht keinen Unterschied“, sagte sie. „Ich kann sowohl seine Füße als auch seine Schultern sehen.“

      „Ich danke Ihnen. Sie können wieder rauskommen“, sagte Zoe, sehr zur Erleichterung des Mannes, der sofort damit begann, sich den Dreck von der Kleidung zu klopfen.

      „Also ist er gelaufen“, sagte Shelley und kam wieder zu Zoe zurück. „Sie ist nicht weggelaufen, also hat sie ihn wahrscheinlich gesehen und nicht für gefährlich gehalten.“

      „Dann kann er keine Machete getragen haben“, merkte Zoe an. „Zumindest nicht offen.“

      „Und wenn er die Opfer kannte?“, fragte Shelley, den Blick auf die nicht weit entfernte Stadt gerichtet. „Die Orte sind nicht weit voneinander entfernt. Man könnte beispielsweise problemlos in dem einen Ort wohnen und in dem anderen arbeiten. Es ist also durchaus plausibel, dass der Täter zu beiden Opfern eine persönliche Verbindung hatte.“

      „Die meisten Morde, bei denen eine persönlichen Verbindung zwischen Täter und Opfer besteht, sind emotional aufgeladene Affekthandlungen“, sagte Zoe und bezog sich dabei auf die Daten aus verschiedenen Fachbüchern zu diesem Thema. Diese Informationen hatte sie zwar verinnerlicht, aber es gab da etwas, das ihr auch die besten Lehrbücher nicht verständlich machen konnten: die sogenannte ‚Atmosphäre‘, die an einem Tatort herrschte. Aber bei diesem Fall wurde ihr allmählich klar, was damit gemeint sein musste. Einen Mord wie diesen musste man im Voraus planen und es war zu erkennen, dass der Täter nur genauso oft zugeschlagen hatte, wie es zum Abtrennen des Kopfes nötig gewesen war – er war also nicht in Rage geraten, sondern hatte den Mord in aller Ruhe begangen. „Hier wurde emotionslos und berechnend gehandelt.“

      „Es könnte trotzdem eine persönliche Verbindung geben. Vielleicht hat ihn ja jemand langsam, aber sicher in den Wahnsinn getrieben. Vielleicht haben wir es mit einem Psychopathen zu tun.“

      Das Wort ‚Psychopath‘ ließ Zoe immer noch innerlich zusammenzucken. Zu oft war es ihr selbst an den Kopf geworfen worden. Von ihrer eigenen Mutter, von Klassenkameraden, von all denen, die dachten, sie würde in bestimmten sozialen Situationen nicht angemessen, nicht sensibel genug reagieren. Ihr war schon immer klar gewesen, dass sie anders war, als die meisten ihrer Mitmenschen. Aber es hatte sehr lange gedauert, bis sie verstanden hatte, dass sie deswegen noch lange kein schlechter Mensch war.

      „Es gibt zwei Möglichkeiten“, fasste sie zusammen und unterdrückte dabei ihre eigene emotionale Reaktion. „Entweder ist er zunächst ganz unschuldig an ihr vorbeigelaufen, nur um sich dann umzudrehen und sie mit einer vorher versteckten Klinge anzugreifen – oder er hat zunächst ihr Vertrauen gewonnen. Entweder, weil sie sich bereits vorher kannten, oder irgendwie anders.“

      „Dann müssen wir erstmal herausfinden, ob Lorna Troye und Michelle Young irgendwelche gemeinsamen Bekannten hatten“, sagte Shelley. Trotz ihrer dunklen Augenringe, die sie dem anstrengenden Nachtflug zu verdanken hatte, wirkte sie jetzt aufmerksam und voll konzentriert. Fast schon gespannt darauf, was sich aus dieser neuen Spur ergeben würde. „Und, hast du Lust, dir mit mir die Leiche anzusehen?“

      Zoe setzte ihr zuliebe ein gezwungenes Lächeln auf. „Ich dachte schon, du fragst mich nie.“

      KAPITEL SECHS

      Das Labor des Gerichtsmediziners glich dem eines jeden anderen Gerichtsmediziners einer amerikanischen Kleinstadt, fand Zoe. Ein ungemütlicher Raum mit Metallbänken für die Leichen – nur zwei davon, denn normalerweise war hier nicht viel los. An einer Wand reihten sich neun vollkommen unschuldig aussehende Schubladengriffe hintereinander auf – und was sich dahinter verbarg, würden die meisten Menschen wohl als unsägliches Gräuel beschreiben. Zoe und Shelley hingegen machten diese Dinge schon lange nichts mehr aus, für sie war es ein Tag wie jeder andere.

      „Das hier ist sie.“ Der Gerichtsmediziner, ein dicker Mann, dessen Gesicht dank seiner Brille dem einer Eule glich, zog mit einer übertrieben anmutenden, ruckartigen Bewegung eine


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