1177 v. Chr.. Eric H. Cline
Aššuwa zerstört hatte und wieder zurück in Hattuša war (…)«58 Die interessanteste Tafel ist das Fragment eines Briefes, dessen Bruchstücke durchaus die Fantasie anregen, aber immerhin zweimal den König von Aššuwa erwähnen und einmal Tudhalija. Auch dieser Text bezieht sich auf einen Feldzug und erwähnt u.a. das Land Achijawa, den König von Achijawa und Inseln, die dem König von Achijawa gehören. Der Brief ist beschädigt und unvollständig, man darf also nicht allzu viel darauf geben, dass hier Aššuwa und Achijawa in ein und demselben Text auftauchen. Aber er scheint immerhin anzudeuten, dass Aššuwa und Achijawa zur damaligen Zeit in irgendeiner Art und Wiese miteinander in Verbindung standen.59
Dieser Brief trägt die Bezeichnung KUB XXVI 91 (nach seiner Erstveröffentlichung in Deutschland), und man nahm lange an, der König der Hethiter habe ihn an den König von Achijawa geschickt; kürzlich jedoch hat jemand vorgeschlagen, es könne genau andersherum gewesen sein, nämlich dass er vom König von Achijawa stammte – damit wäre dies der einzige existierende Brief, der aus dieser Region und von diesem König verschickt wurde.60 Aber um welche Region handelt es sich überhaupt, und wer war der König? Wo lag dieses Achijawa? Diese Frage hat viele Forscher einen Großteil des vergangenen Jahrhunderts lang umgetrieben. Heute sind sich die meisten Wissenschaftler darüber einig, dass Achijawa auf dem griechischen Festland lag: Es war das Reich der Mykener, wahrscheinlich mit der Stadt Mykene als Zentrum. Dies weiß man durch 25 Tontafeln aus dem hethitischen Archiv in Hattuša, die binnen eines Zeitraums von fast 300 Jahren entstanden (ab dem 15. bis Ende des 13. Jahrhunderts v. Chr.) und die in verschiedenen Zusammenhängen Achijawa erwähnen. Die gründliche Untersuchung dieser Tafeln hat ergeben, dass sie sich nur auf das griechische Festland und die Mykener beziehen können.61 Bevor wir mit unserer Geschichte fortfahren, soll an dieser Stelle wieder ein kurzer Exkurs folgen, bei dem wir diesmal die Mykener kennenlernen wollen.
Exkurs: Entdeckung der Mykener und Überblick
Die mykenische Kultur trat erstmalig vor fast 150 Jahren, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in das Licht der Öffentlichkeit, und zwar dank Heinrich Schliemann, dem »Vater der mykenischen Archäologie«. Die meisten modernen Archäologen pflegen eine leidenschaftliche Abneigung gegen Schliemann – das liegt einerseits an seinen recht primitiven Grabungsmethoden und andererseits daran, dass man sich bei ihm nie ganz sicher ist, wie sehr man ihm und seinen Berichten trauen kann. Zu Beginn der 1870er Jahre grub Schliemann Hisarlık im Nordwesten Anatoliens aus, das er als Troja identifizierte. Nun, da er den Standort der trojanischen Seite des Krieges um Troja gefunden hatte (worum es später noch detaillierter gehen soll), beschloss er, es sei der geeignete Zeitpunkt, als Nächstes die mykenische Seite zu entdecken.
Mykene auf dem griechischen Festland zu finden, gestaltete sich indes weit weniger schwierig, als es die Suche nach Troja in Anatolien gewesen war. Denn anders als bei Troja standen noch überirdische Ruinen des antiken Mykene, u.a. das berühmte Löwentor, das man mehrere Jahrzehnte zuvor entdeckt und bereits teilweise rekonstruiert hatte. Als Schliemann Mitte der 1870er Jahre im nahegelegenen Dorf Mykenai eintraf, führten ihn die Einheimischen direkt zur mykenischen Stätte.
Sofort begann er mit seinen Ausgrabungen – dass er keine Grabungsgenehmigung besaß, störte ihn hier so wenig wie bereits bei anderen Gelegenheiten. Schon bald entdeckte er eine Reihe von Schachtgräbern mit Skeletten, Waffen und mehr Gold, als er sich jemals erträumt hatte. Umgehend schickte er dem König von Griechenland ein Telegramm, in dem er erklärt haben soll, er habe »ins Antlitz des Agamemnon geschaut«62. Natürlich hatte Schliemann die Gräber und anderen Funde nicht korrekt datiert – selbst wenn er Recht hatte, lag er stets grundlegend falsch. Wir wissen heute, dass diese Schachtgräber (zwei große Kreise solcher Gräber gibt es in Mykene) auf die erste erfolgreiche Epoche dieser Stadt und ihrer Zivilisation datieren (1650–1500 v. Chr.) und eben nicht auf die Zeit des Agamemnon und Achilles (ca. 1250 v. Chr.). Aber auch wenn er um vier Jahrhunderte danebenlag, so hatte Schliemann doch immerhin in der richtigen Stadt gegraben.
Schliemann war keineswegs der einzige Archäologe, der sich mit der Bronzezeit beschäftigte; zahlreiche andere Gelehrte wie Christos Tsountas und James Manatt waren ebenso emsige Ausgräber und leisteten sogar bessere Arbeit als Schliemann. Doch er war es, der mit seinen Erkenntnissen verstand die Öffentlichkeit zu begeistern, zumal in Hinblick auf seine kürzliche Entdeckung Trojas (mehr dazu später).63 Schliemann grub noch ein paar Jahre lang in Mykene, im nahegelegenen Tiryns und auch an anderen Orten, bevor er nach Troja zurückkehrte, wo er 1878 und in den 1880er Jahren weitere Ausgrabungen durchführte. Er bemühte sich auch, Grabungen in Knossos auf Kreta zu organisieren, aber ohne Erfolg. Es war ein großes Glück für die Archäologie, dass er die weitere Erforschung Mykenes anderen überließ. So waren es schließlich ein Amerikaner und ein Brite, Carl Blegen von der University of Cincinnati und Alan Wace aus Cambridge, die die Basis für eine seriöse Beschäftigung mit der mykenischen Zivilisation und ihrer Entwicklung als Ganzes schufen.
Wace leitete ab den 1920ern mehrere Jahrzehnte lang die britischen Ausgrabungen in Mykene. Blegen grub 1932 bis 1938 in Troja, aber auch im Süden von Griechenland, in Pylos. Gleich am ersten Tag ihrer Ausgrabungen in Pylos im Jahr 1939 fanden Blegen und sein Team die ersten Tontafeln eines riesigen Archivs mit unzähligen in Linear B verfassten Texten.64 Dann kam der Zweite Weltkrieg dazwischen, aber 1952 konnten die Arbeiten wieder aufgenommen werden. Noch im selben Jahr bewies der britische Architekt Michael Ventris endgültig, dass Linear B eine frühe Version der griechischen Schrift darstellte.
Die anschließende Übersetzung der Linear-B-Texte aus Stätten wie Pylos, Mykene, Tiryns, Theben und Knossos ist ein immenses Unterfangen und dauert noch heute an. Sie hat uns ein weiteres Fenster auf die Welt der Mykener geöffnet. Die Textzeugnisse ergänzten die Erkenntnisse der Ausgrabungen und fügten ihnen weitere Details hinzu. So konnten die Archäologen die Welt des bronzezeitlichen Griechenlands rekonstruieren – genau wie ihre Kollegen in Ägypten und im Nahen Osten es in jenen Ländern taten, als die altägyptischen, hethitischen und akkadischen Texte endlich übersetzt werden konnten. In einfacheren Worten: Mithilfe der Kombination aus archäologischen Funden und Texten kann die moderne Forschung die Geschichte des Altertums rekonstruieren.
Wir wissen jetzt, dass die mykenische Kultur im 17. Jahrhundert v. Chr. entstand, in etwa zur selben Zeit, als sich die Minoer auf Kreta von dem dramatischen Erdbeben erholten, das auf der Insel (nach der Terminologie der Archäologen) die erste Palastzeit beendete und die zweite Palastzeit einläutete. Wace und Blegen tauften die verschiedenen Epochen der mykenischen Zivilisation »späthelladisch« – dabei erstreckt sich Späthelladisch I und II auf das 17. bis 15. Jahrhundert v. Chr., und Späthelladisch III unterteilt sich in drei Abschnitte: III A (14. Jahrhundert v. Chr.), III B (13. Jahrhundert v. Chr.) und III C (12. Jahrhundert v. Chr.).65
Warum die mykenische Kultur sich so erfolgreich entwickelte, wird unter Archäologen immer noch diskutiert. Eine frühe Hypothese war, dass sie den Ägyptern dabei halfen, die Hyksos aus dem Land zu vertreiben, aber das glaubt man heute im Allgemeinen nicht mehr. Falls man nach den Objekten gehen kann, die in den Schachtgräbern von Mykene gefunden wurden, dann kamen einige der frühesten Einflüsse in Mykene von der Insel Kreta. Evans war noch der Überzeugung gewesen, die Minoer hätten das griechische Festland überfallen; Wace und Blegen waren der Ansicht, dass es genau andersherum war – heute wird dies in der Forschung allgemein akzeptiert. Wir wissen inzwischen, dass die Mykener Kreta eroberten und sich damit auch die internationalen Handelsrouten nach Ägypten und dem Nahen Osten sicherten. So wurden sie (relativ) plötzlich zu wichtigen Akteuren in der damaligen kosmopolitischen Welt. Diese Rolle versahen sie mehrere Jahrhunderte lang, bis zum Ende der Spätbronzezeit.
Die Ägypter bezeichneten die Mykener offenbar als Tanaja, die Hethiter nannten sie Achijawa und die Kanaaniter Hijawa (falls die Texte aus dem syrischen Ugarit hier aussagekräftig sind). Zumindest passen diese Bezeichnungen auf niemand anderen als die Mykener. Sollten damit nicht die Mykener gemeint sein, dann würden sie in den Texten der Ägypter und der anderen Großmächte der Spätbronzezeit im Nahen Osten gar nicht auftauchen. Bedenkt man, wie viele mykenische Vasen und Schiffe aus dem 14. bis 12. Jahrhundert v. Chr. in jenen Regionen gefunden wurden, wäre das doch reichlich seltsam.66