Auferstehung. Лев Толстой

Auferstehung - Лев Толстой


Скачать книгу

      Sobald sie eintrat, richteten sich die Blicke aller im Saale anwesenden Männer auf sie und betrachteten längere Zeit ihr sanftes Gesicht, ihre feine Taille und ihre breite unter dem Leinenkittel stark hervortretende Brust. Selbst der Gensdarm, an dem sie vorüber mußte, sah sie fortwährend an, bis sie sich gesetzt hatte; dann wandte er sich wie im Gefühle einer Schuld ab und blickte nach dem gegenüberliegenden Fenster.

      Der Präsident wartete, bis die Angeklagten sich gesetzt hatten, und wandte sich dann zu dem Aktuar. Das gewöhnliche Verfahren begann; der Aufruf der Geschworenen, der Beisitzer, die Verurteilung der Fehlenden zu einer Geldstrafe, die Prüfung der Entschuldigungen und der Ersatz der fehlenden Geschworenen durch Beisitzer. Dann ersuchte der Präsident den Popen, den Geschworenen den Eid abzunehmen.

      Dieser Pope war ein großer, kahlköpfiger Greis mit rotem Gesicht, einigen weißen Haaren und einem langen, schlecht gekämmten Bart. Er trug eine bräunliche Soutane, mit einem an einer goldenen Kette hängenden Kreuz, das er mit seinen angeschwollenen, dicken Fingern fortwährend auf der Brust hin- und herdrehte. Er trug auch einen kleinen an der Seite angenähten Orden. Seit 45 Jahren war er Geistlicher und wollte im nächsten Jahre sein Jubiläum feiern, wie es der Erzpriester der Kathedrale kürzlich gethan hatte. Seit der Erbauung des Gerichtsgebäudes war er beim Gericht; er war stolz darauf, mehreren tausend Personen den Eid abgenommen zu haben und selbst noch in seinem Alter zum Wohle des Vaterlandes, der Kirche und auch seiner Familie zu arbeiten, der er außer seinem Hause ein Kapital von wenigstens 30 000 Rubeln in guten Papieren zu hinterlassen gedachte. Nie war ihm der Gedanke gekommen, er könne schlecht handeln, wenn er vor einem Gerichtshofe auf das Evangelium schwören ließ; im Gegenteil, er liebte diese Beschäftigung, die ihm oft Gelegenheit gab, mit vornehmen Personen Bekanntschaft zu machen. So war er an diesem Tage sehr glücklich gewesen, mit dem berühmten Advokaten aus St. Petersburg bekannt zu werden, für den seine Hochachtung noch gestiegen war, als er erfahren hatte, ein einziger Prozeß habe ihm 10 000 Rubel eingebracht.

      Sobald der Präsident ihn ermächtigt hatte, den Geschworenen den Eid abzunehmen, hob der alte Pope langsam seine angeschwollenen Beine und schritt auf das vor dem Heiligenbild stehende Pult zu. Die Geschworenen erhoben sich und folgten ihm schnell.

      »Einen Augenblick!« sagte der Pope, streichelte das Kreuz mit der rechten Hand und wartete, bis alle Geschworenen näher getreten waren.

      Als alle bei dem Heiligenbild standen, neigte der Pope seinen weißen Kopf zur Seite, steckte ihn in das fettige Loch seiner Stola, brachte seine dünnen Haare in Ordnung und sagte, sich zu den Geschworenen wendend: »Erheben Sie die rechte Hand und halten Sie die Finger so!« Gleichzeitig hob er seine dicke Hand hoch und faltete die Finger, als wenn er eine Prise nehmen wollte. »Und jetzt wiederholen Sie mit nur: ›Ich schwöre bei dem Heiligen Evangelium und dem belebenden Kreuz, daß ich in der Sache, in welcher‹ ... Halten Sie nicht die Hand herunter,« sagte er, sich an einen jungen Mann wendend, der Miene machte, den Arm herunterzunehmen. Dann fuhr er langsam, bei jedem Worte pausierend, fort: »daß ich in dem Falle, an welchem ...«

      Die wichtige Persönlichkeit mit dem schönen Backenbart, der pensionierte Oberst, der Kaufmann und die andern Geschworenen hielten den Arm hoch und die Finger genau so gefaltet, wie es der Pope wollte; einige andere dagegen schienen nachlässig und unlustig vorzugehen. Die einen wiederholten die Eidesformel ganz laut mit Ausdruck und Leidenschaft; andere murmelten sie ganz leise, blieben hinter den Worten des Popen im Rückstand und beeilten sich dann, gleichsam erschreckt, ihn einzuholen. Noch alle fühlten sich verlegen, mit Ausnahme des alten Popen, der die heilige Ueberzeugung bewahrte, er vollbringe einen ungeheuer wichtigen und nützlichen Akt.

      Nach dem Schwur forderte der Präsident die Geschworenen auf, sich einen Obmann zu wählen. Sofort erhoben sich die Geschworenen von neuem, und begaben sich in ihr Beratungszimmer, wo sich fast alle gleich Cigaretten nahmen und zu rauchen anfingen. Einer schlug vor, die wichtige Persönlichkeit zum Obmann zu wählen, worauf alle sogleich eingingen. Dann warfen die Geschworenen ihre Cigaretten fort und kehrten in den Sitzungssaal zurück. Die wichtige Persönlichkeit erklärte dem Präsidenten, man hätte ihn erwählt, und alle setzten sich wieder auf ihre Sessel mit den hohen Lehnen.

      Alles ging ohne Zwischenfall, aber nicht ohne Feierlichkeit vor sich; und diese Feierlichkeit, diese Umstände, diese Formalitäten bestärkten Richter und Geschworene noch in ihrer Ansicht, sie erfüllten eine ernste und würdige, soziale Pflicht. Auch Nechludoff teilte diese Ansicht.

      Als die Geschworenen sich gesetzt hatten, hielt der Gerichtspräsident an sie eine Ansprache, um ihnen ihre Rechte, ihre Verpflichtungen und ihre Verantwortlichkeit auseinanderzusetzen. Beim Sprechen veränderte er fortwährend seine Stellung; bald wandte er sich nach rechts, bald nach links, bald lehnte er sich in seinen Sessel zurück oder neigte sich nach vornüber, bald strich er die Blätter auf dem Tische glatt, bald hob er das Falzbein hoch, bald spielte er mit einem der Bleistifte.

      Die Rechte der Geschworenen bestanden nach seinen Worten darin, daß sie den Angeklagten durch Vermittlung des Präsidenten Fragen vorlegen und die Beweisstücke prüfen und berühren durften. Ihre Verpflichtung bestand darin, daß sie gerecht, nach bestem Wissen und Gewissen urteilen mußten. Endlich bestand ihre Verantwortlichkeit darin, daß sie sich, falls sie, ihre Beratungen nicht geheim hielten oder in der Ausübung ihrer Thätigkeit mit Fremden in Verbindung traten, der Strenge der Gesetze aussetzten.

      Die Richter hörten das alles mit ernster Aufmerksamkeit an. Der Kaufmann, der einen starken Branntweingeruch um sich her verbreitete, nickte bei jedem Satze zustimmend mit dem Kopfe.

      Als der Präsident seine Ansprache beendet, wandte er sich den Angeklagten zu:

      »Simon Kartymkin, stehen Sie auf!«

      Simon zuckte nervös zusammen und seine Lippen bewegten sich schneller.

      »Ihr Name?«

      »Simon Petrowitsch Kartymkin,« versetzte der Angeklagte, der sich seine Antworten augenscheinlich schon vorher zurechtgelegt, in einem Zuge mit schwerfälliger Stimme.

      »Ihr Stand?«

      »Ich bin Bauer!«

      »Aus welchem Gouvernement? Aus welchem Bezirk?«

      »Aus dem Gouvernement Tula, Bezirk Krapivo, Gemeinde Kupianskoj, Dorf Borki.«

      »Wie alt?«

      »34 Jahre; ich bin achtzehnhundert ...«

      »Welcher Religion?«

      »Wir gehören der russischen orthodoxen Religion an.«

      »Verheiratet?«

      »Wir haben uns nie verheiratet!«

      »Was betrieben Sie für ein Gewerbe?«

      »Ich war im Korridor des Mauritania-Hotels angestellt.«

      »Haben Sie schon vor Gericht gestanden?«

      »Ich habe nie vor Gericht gestanden, denn, wie ich lebte ...«

      »Sie haben nie vor Gericht gestanden?«

      »So wahr es einen Gott giebt, nie!«

      »Haben Sie eine Abschrift der Anklage erhalten?«

      »Ja, die habe ich erhalten!«

      »Setzen Sie sich! Euphemia Iwanowna Botschkoff!« fuhr der Präsident, sich an eine der Frauen wendend, fort.

      Doch Simon blieb noch immer stehen


Скачать книгу