Faust & Helena. Claudia Schmölders
zur Ausfahrt lockte – dies aber in Deutschland seit 1755 mit einem Fahrtenbuch völlig eigener Art. In diesem Jahr erschien ein Manifest mit dem Titel »Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst«, verfasst von einem unbekannten jungen Kunstforscher namens Johann Joachim Winckelmann. Geboren 1717 in der Hansestadt Stendal, Sohn eines Schusters, hoch begabt, wurde er nach und nach von Lehrern und Priestern entdeckt und gefördert. Die Begegnung mit der griechischen Kultur, vor allem in der großen Bibliothek des Grafen Bünau auf Schloß Nöthnitz, entrückte den Jungen in eine ideale Welt, klimatisch, politisch, ästhetisch, sozial. Auch wenn man es ihm zunächst im kargen Preußen und mit harten Arbeitsbedingungen schwer machte, lernte er unter Entbehrungen Griechisch, befreundete sich mit den alten Autoren und studierte, erotisch bezaubert, die Gestalten der hellenischen Bildhauer in Abgüssen und Bildwerken. Hier herrschte das richtige Leben im falschen, und zwar richtig in jeder Hinsicht. Mit diesem Fazit eröffnete Winckelmann apodiktisch gleich seine erste Schrift. »Der gute Geschmack, welcher sich mehr und mehr durch die Welt ausbreitet, hat sich angefangen zuerst unter dem griechischen Himmel zu bilden. Alle Erfindungen fremder Völker kamen gleichsam nur als der erste Same nach Griechenland, und nahmen eine andere Natur und Gestalt an in dem Lande, welches Minerva, sagt man, vor allen Ländern, wegen der gemäßigten Jahreszeiten, die sie hier angetroffen, den Griechen zur Wohnung angewiesen, als ein Land, welches kluge Köpfe hervorbringen würde.«
Das Echo auf diesen Aufruf in der gebildeten Welt war enorm. Ein Jahr später konnte Winckelmann in einer zweiten Auflage, alsbald auch mit Übersetzungen ins Französische und Englische, seine Devise für zukünftige Jahrhunderte wuchtig verbreiten: »Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten.« Mit diesem paradoxen Ehrgeiz – wie konnte man durch Nachahmung unnachahmlich werden? – setzte sich Winckelmann unvermittelt von der bisher dominierenden französischen Kunstdeutung ab. Ähnlich wie Luther nach den originalen Quellen der Bibel, suchte er nach den originalen Kulturvätern der Deutschen, und diese sprachen Griechisch. Was aus Frankreich kam, war nicht wirklich griechisch inspiriert, sondern lateinisch, römisch und christlich. Er aber liebte das Heidentum, mindestens in Form von Kunst. Nur widerwillig, dann aber doch von der eigenen Leidenschaft verführt, wurde Winckelmann schließlich katholisch, um in das Mekka der Ästheten und Sammler nach Rom zu kommen. Rom galt noch Goethes Vater als geistiges Zentrum der Deutschen; und nach Rom reiste sein Sohn fluchtartig in einer Lebenskrise. Hier machte Winckelmann erstaunlich Karriere. 1763 ernannte ihn Papst Clemens XIII. zum Aufseher der sogenannten »Altertümer« sowie zum scrittore der Biblioteca Vaticana; und mit dem Zugang zu ältesten Manuskripten und Werken, im Umgang mit Kardinälen und Künstlern, schrieb er nun an seiner großen Kunstgeschichte, endlich angekommen in einer südlichen, wärmeren und hellenisch kultivierten Weltstadt.
Italien war damals wie heute ein gigantischer Sammelplatz griechischer Kunstwerke, nicht nur auf, sondern auch unter der Erde. Als Fluchtort während der Renaissance, als die Türken 1453 Konstantinopel eroberten und das hellenistische Byzanz unterwarfen, war das Land samt Vatikan zum Hort der antiken Kulturerbschaft geworden. Italien bedeutete Magna Graecia: Großgriechenland; es war der Vorraum aller späteren deutschen Griechenliebhaber, die nicht in das Land selber zu fahren wagten, wie bis zur Wende um 1900 fast alle deutschen Dichter und Denker. Winckelmanns »Geschichte der Kunst des Altertums«, gespeist und gesättigt aus italienischer Anschauung, oft auch aus zweiter Hand, erschien 1764 und war wieder ein Werk mit wuchtig normativem Anspruch: ein Lehrgebäude sollte es sein. Die Idee der Schönheit war definiert, der Horizont festgesetzt, und die Apotheose auf eine Statue des Gottes Apoll eröffnete eine neue Epoche der Kunstbeschreibung. Es war die Prosa eines Liebenden: »Die Statue des Apollo ist das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Altertums, welche der Zerstörung derselben entgangen sind. Der Künstler derselben hat dieses Werk gänzlich auf das Ideal gebaut, und er hat nur eben so viel von der Materie dazu genommen, als nötig war, seine Absicht auszuführen und sichtbar zu machen. Dieser Apollo übertrifft alle andern Bilder desselben so weit, als der Apollo des Homerus den, welchen die folgenden Dichter malen. Über die Menschheit erhaben ist sein Gewächs, und sein Stand zeugt von der ihn erfüllenden Größe. Ein ewiger Frühling, wie in den glücklichen Elysien, bekleidet die reizende Männlichkeit vollkommener Jahre mit gefälliger Jugend und spielt mit sanften Zärtlichkeiten auf dem stolzen Gebäude seiner Glieder.«
Das Buch begeisterte Winckelmanns Leser mit Beobachtungsfülle, genauer Darstellung und historischer Kenntnis. Es galt und gilt als die erste Kunstgeschichte Deutschlands, wenn nicht Europas. Ein großer Erfolg wurde es nicht zuletzt, weil Winckelmann das Studium der einzelnen Kunstwerke wichtiger nahm als die biographische Kenntnis der Künstler. Statt die griechische Welt als Ruinenstätte zu betrauern, konnte er jede Statue, selbst jeden Torso, der ihn begeisterte, eindringlich, aber zugleich auch präzise beschreiben. Madame de Staël nannte ihn gar einen Physiognomen, weil Statuen unter seinem Blick zum Leben erwachten; dabei machte sein eigener schrecklicher Tod – er wurde 1768 von einem diebischen Hotelgast in Triest erstochen – ihn vor allem tragisch bekannt.
Vielleicht wegen dieses Todes blieb in der Folge berühmter noch als der Apollohymnus die eherne Kunstformel für die antike Statuengruppe namens »Laokoon« von 1755. Sie zeigte in meisterhafter Ausführung einen Vater mit zwei Söhnen um ihr Leben ringen, weil zwei Schlangen sie zu ersticken drohten. Laokoon war der Name eines Priesters in Troja, und der Eindruck, den der Künstler erweckte, verriet Todesmut. So also hieß es im Manifest über die »Nachahmung der Alten«: »Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeigt der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele.«
Meldete sich hier eine stoische Ästhetik – oder waren diese Sätze dem Priester des Poseidon geschuldet? Denn als Diener des Meergottes war Laokoon durch Vergil bekannt; angeblich hatte er die griechische List erkannt, die hinter dem berühmten Trojanischen Pferd steckte, und die Göttin Athene ließ ihn zur Strafe von zwei Schlangen töten. Wie auch immer, die Allegorese im Namen des Poseidon blieb offenbar Winckelmanns Sternbild. »Der erste Anblick schöner Statuen ist bei dem, welcher Empfindung hat, wie die erste Aussicht auf das offene Meer, worin sich unser Blick verliert« – mit diesem Aufatmen eines kunstliebenden Deutschen, der sein Paradies gleichsam an einem Strand findet, bahnte Winckelmann eine europäische Kulturrevolution an, ästhetisch, patriotisch, geopolitisch. Das alte Griechenland bedeutete für ihn eben nicht nur schöne Kunst, sondern glückliches Klima, vorbildlich demokratische Verfassung und unerhörte Philosophie. Es war das Land der Träume für jeden, der in einem kalten, zerspaltenen Land unter einem protestantisch versehrten militärischen Regime, einem ungeliebten Deutschland leben musste. Der junge Friedrich Hölderlin, Deutschlands liebster Lyriker, war begeistert, dass Katharina die Große zur Befreiung des griechischen Landes aus türkischer Herrschaft ansetzte, und das nicht nur aus geopolitischer Raison, sondern ausdrücklich auch im Gedenken an das glanzvolle Hellas. Sein Roman »Hyperion« spielte um 1800 vor diesem Hintergrund und gipfelte in einer schneidenden Kritik an seiner eigenen Heimat, wo »eigentlich das Leben schal und sorgenschwer und übervoll von kalter stummer Zwietracht ist, weil sie den Genius verschmähn, der Kraft und Adel in ein menschlich Tun, und Heiterkeit ins Leiden und Lieb und Brüderschaft den Städten und den Häusern bringt.«
Deutschkritisch heftig reagiert und über penible Kritik sich geärgert hatte zuvor schon Herder, der Völkerphilosoph und Winckelmann-Bewunderer in einem Nachruf im »Teutschen Merkur«: »… in der schrecklichen Einöde alter Nachrichten und Geschichte, da Plinius und Pausanius, wie ein paar abgerissene Ufer dastehn, auf denen man weder schwimmen, noch ernten kann; in einer solchen Lage der Sachen rings umher an eine Geschichte der Kunst des Altertums denken, die zugleich Lehrgebäude, keine Trümmer, sondern ein lebendiges, volkreiches Theben von sieben Pforten sei, durch deren jede Hunderte ziehen; gewiß, das konnte kein Kleinigkeitskrämer, kein Krittler an einem Zeh im Staube. Auch hat es Winckelmann in den letzten Jahren seines abgeschnittenen unvollendeten Lebens bitter gefühlt und beklagt, daß sein Vaterland in manchen ihm zutönenden Stimmen sich nach deutscher Weise an die einzelnen kleinen Fehler des Werkes hielt und die Mühe und den Geist des Ganzen verkannte. Aber so ist es in Deutschland und so wird es bleiben.«