Post mortem. Amalia Zeichnerin

Post mortem - Amalia Zeichnerin


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gegessen und sich daran tödlich verschluckt. Oder …« Er hielt einen Moment inne. »Oder irgendetwas stimmte mit der Praline nicht.«

      Das war in der Tat eine gute Frage.

      »Bromleys …« Doktor Tyner betrachtete die Schachtel von allen Seiten. »Das ist doch eine Konditorei in der Belgrave Road. Meine Gattin – Gott hab sie selig – hat dort früher gelegentlich Kuchen gekauft oder sich mit einer Freundin auf einen Tee getroffen. Die Konditorei gibt es schon ziemlich lange – ein Familienunternehmen, soweit ich weiß.« Er wandte seinen Blick von der Schachtel und sah Clarence fest in die Augen. »Ich sage Ihnen, was ich tun werde. Ich nehme die Pralinen mit ins Labor und untersuche sie. Nur vorsichtshalber.«

      Mabel riss die Augen auf. Ihr Mund formte ein stummes »Oh«, ehe sie zu sprechen begann. »Meinen Sie, die wurden vergiftet?«

      Doktor Tyner runzelte die Stirn. »Zunächst einmal meine ich gar nichts. Lassen Sie uns lieber keine voreiligen Schlüsse ziehen.« Er beugte sich ein weiteres Mal über die bedauernswerte Miss Westray. »Hm. Lippen und Augenlider sind geschwollen. Und dann diese Rötungen. Und sehen Sie hier, diese Quaddeln.« Er deutete auf eine Stelle des Halses, an der sich kleine, unregelmäßig geformte, teilweise punktförmige Erhebungen befanden, die ebenfalls leicht gerötet waren.

      »Ich denke, einen Erstickungstod durch Verschlucken können wir wohl ausschließen.« Er nahm seine Brille ab und rieb sich über die Nasenwurzel. »Das sind jedenfalls keine Anzeichen, die bei einer Erstickung durch Verlegung der Luftwege entstehen. Ich musste gerade an Mumps denken, aber dabei treten Schwellungen eher im Bereich der Wangen auf, allerdings natürlich nicht binnen Sekunden. Mumps können wir also ebenfalls ausschließen.«

      Doktor Tyner wirkte nachdenklich. »Wie viel Zeit ist vergangen, seit Sie den Tod festgestellt haben?«, fragte er und setzte sich die Brille wieder auf.

      Clarence zog die silberne Taschenuhr aus seiner Westentasche und warf einen kurzen Blick darauf. »Etwa eine Stunde.«

      Der Doktor nickte. »Ich habe heute viel zu tun«, erklärte er. »Mrs Fox, würden Sie mich zurück ins Leichenschauhaus begleiten und Miss Westrays Leichnam selbst untersuchen? Oder sind Sie befangen, weil Sie die Dame persönlich kannten?«

      »Nun, also … ich …« Mabel suchte nach Worten. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihm im Leichenschauhaus half, Obduktionen durchzuführen, zumeist als Assistentin. Nachdem die Kinder ausgezogen waren, hatte sie sich nach einer Beschäftigung gesehnt, die über die Haushaltsführung hinausging. Im Anschluss an eine Einladung zum Tee bei Doktor Tyner war eines zum anderen gekommen. Sie beide hängten Mabels gelegentliche Betätigung im Leichenschauhaus nicht an die große Glocke, denn im Grunde war es unerhört, dass eine verheiratete Frau überhaupt arbeitete – zumindest in der Mittelschicht, der sie angehörte. So manch einer aus ihrem Bekanntenkreis hätte mit Befremden darauf reagiert. Aber Clarence erlaubte es ihr.

      Die Männer, die im Leichenschauhaus arbeiteten, waren ein Völkchen für sich und akzeptierten sie, denn sie waren froh über die Hilfe. Gelegentlich hatte sie selbst schon unter Doktor Tyners Anleitung Obduktionen durchgeführt.

      Normalerweise hätte sie dem Arzt sofort zugesagt. Angesichts dieser Situation jedoch wütete ein Wirbelsturm aus Emotionen in ihrem Kopf. Immerhin ging es um Miss Westray. Nicht gerade eine enge Freundin, aber doch eine Bekannte. Sie warf einen Blick auf den Leichnam, auf die inzwischen leicht wächserne Haut, und verspürte erneut ein verräterisches Kribbeln in den Augen. Was sollte sie nur tun? Am liebsten wäre sie hinauf in die Wohnung und hätte die Tür hinter sich zugeschlagen. Aber was geschehen war, war geschehen. Der Tod hatte Miss Westray zu sich geholt und Tränen halfen der armen Frau nun auch nicht mehr. Aber sie konnte etwas anderes für sie tun. Einen letzten Dienst.

      Mabel erwiderte Doktor Tyners fragenden Blick und fasste sich ein Herz. »Doch, ich denke, ich werde dazu in der Lage sein.«

      »Gut«, erwiderte er. »Ich kümmere mich darum, dass der Leichnam so schnell wie möglich ins Leichenschauhaus gebracht wird. Später informiere ich die Kollegen vom Polizeirevier. Wir können dann mit dem Leichenwagen direkt mitfahren. Möchten Sie sich dafür umziehen, Mrs Fox?«

      »Nein, das hier wird gehen.« Sie deutete auf ihr Kleid, das aus vier Teilen bestand – das graue geknöpfte Oberteil aus Leinen mit den am Saum aufgestickten Blüten, der hinten leicht aufgebauschte Rock in einem anderen Grauton, die etwas hellere Rockschürze, die darüber getragen wurde, sowie der Unterrock. Es war eines ihrer schlichteren Ensembles und schon etwas älter. Sie hatte es mehrfach geändert, um es an die neue Mode mit der Tournüre anzupassen, deren Silhouette in diesem Jahr vergleichsweise schmal war; weniger voluminös als in den Jahren zuvor.

      »Gut, dann sehen wir uns gleich, ich beeile mich«, erwiderte der Coroner, legte grüßend zwei Finger an seinen Bowler und verließ das Atelier.

      Während das Läuten der Türglocke verklang, wandte sich Mabel an Clarence. Sie griff nach seiner Hand, streichelte seinen Handrücken, eine Geste des Trostes. Er blickte sie traurig an und drückte leicht ihre Finger. »Hast du die Abbildung entwickelt?«, fragte sie ihn.

      »Ja, das schon. Aber sie ist etwas verwischt, vermutlich weil Miss Westray sich in ihrem … ihrem Todeskampf noch eine Weile bewegt hat.« Er hielt ihr einen rötlichen Albuminpapierabzug entgegen. Das gesamte Bild wirkte leicht verschwommen. Miss Westrays Kopf war gesenkt, sodass ihr Gesicht nicht zu erkennen war. Allerdings war die Rötung auf ihrem Hals nicht zu übersehen, zumal sie sich dunkel von den helleren Hautpartien abhob.

      »Ich denke, ich schließe das Atelier für heute«, sagte Clarence mit gefurchter Stirn. Seine Haltung war kraftlos und sein Gesicht blass. Er sah so aus, wie sie sich fühlte. »Ich werde mich wohl kaum noch aufs Ablichten und schon gar nicht auf Kundschaft konzentrieren können.«

      Mabel umarmte ihn. »Das kann ich gut verstehen, mein Lieber.«

      Er seufzte. »Wenn ich doch irgendetwas für die arme Frau hätte tun können!«

      Mabel strich ihm liebevoll über den Arm. »Ich bin selbst fassungslos. Aber vielleicht wissen wir bald mehr. Ich meine, woran sie gestorben ist.«

      Das Warten auf Doktor Tyner war eine Qual. Mabel war, als säße sie auf Kohlen. Unter anderen Umständen hätte sie oben in der Wohnung ihre Bedienstete Lindsey gebeten, einen Tee zuzubereiten. Diesen zu trinken, das war in jeder Lebenslage möglich und hatte etwas Tröstliches. Aber dafür war nun keine Zeit.

      Zum Glück hielt der Coroner sein Wort: Eine halbe Stunde später fuhr er mit der schlichten schwarzen Kutsche vor, die dem Leichenschauhaus für Leichentransporte diente.

      Williams, einer der Mitarbeiter, der auch die Aufgabe des Kutschers innehatte, kam mit einer großen Trage aus grobem, festem Stoff ins Atelier. Nachdem er sie beide begrüßt hatte, legte er den Leichnam mit Clarences Hilfe behutsam auf die Trage, was angesichts der Stoffmassen von Miss Westrays Kleid keine leichte Aufgabe war. Mabel musste an sich halten, um nicht wieder zu weinen.

      »Kommen Sie, Mrs Fox. Wir sollten uns beeilen. Die einsetzende Totenstarre ist zwar kein Hinderungsgrund für eine Untersuchung, aber wenn sich etwas in Miss Westrays Hals befindet, das zu ihrem Tod geführt hat, wird es sich mit der Zeit zersetzen, und das würde uns die Angelegenheit erschweren.«

      Sie straffte sich, nickte ihm zu und drehte sich zu ihrem Mann um. »Bis später, mein Lieber!«

      Er wagte den Versuch eines aufmunternden Lächelns, doch es wirkte eher gequält. Mabel konnte es ihm nachfühlen. Zunächst einmal würde sie Doktor Tyner unterstützen und damit der Verstorbenen einen letzten Dienst erweisen. Was war bloß mit der armen Frau geschehen? Hoffentlich fanden sie es bald heraus. Sie griff nach der Tasche der Toten und vergaß es auch nicht, die Pralinenschachtel hineinzulegen.

      Kurz darauf saß sie in der geräumigen Kutsche auf der schmalen Bank, der Coroner neben ihr und die Trage mit dem Leichnam auf dem Boden des Gefährts. Das Gesicht der Sängerin wirkte wächsern, ihr Hals war noch immer gerötet und von den Quaddeln bedeckt. Der Prozess der Verwesung streckte seine kalten Finger aus und würde schon bald sein Werk vollendet haben.


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