Post mortem. Amalia Zeichnerin

Post mortem - Amalia Zeichnerin


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ab und sah sich um. Nur das Nötigste an Mobiliar fand sich hier: ein altes Bett, ein Kleiderschrank, ein kleiner Toilettentisch mit Waschschüssel, ein weiterer, etwas größerer Tisch, dazu zwei Stühle. Eine Küchennische und ein Heizofen komplettierten die Einrichtung. An der Wand hing zudem ein schmales Bücherregal mit drei Böden. Die Toilette, die sich offenbar mehrere der Bewohner des Hauses teilten, befand sich auf halber Treppe außerhalb der Wohnung. Sie waren an einer entsprechenden Tür vorbeigegangen.

      Mabel trat mit der Öllampe an das Bücherregal. »Hier sind jede Menge Noten«, sagte sie. »Ich vermute, für Gesangsstücke. Ah, Jacques Offenbach, der Name sagt mir etwas. Er hat mehrere Operetten geschrieben, soweit ich weiß. Und diesen Giuseppe Verdi scheint Miss Westray ebenfalls bevorzugt zu haben.«

      Clarence konnte noch immer nicht das Unbehagen abschütteln, in einer fremden Wohnung herumzuschnüffeln. Er betrachtete die Rücken der wenigen Bücher; ausschließlich Sachliteratur zum Thema Musik und Gesang. Belletristische Werke konnte er nicht entdecken. »Offenbar hat Miss Westray nicht zu den Damen gezählt, die gern Romane lesen«, sagte er.

      »Was ist denn in dem Behältnis dort?« Mabel deutete auf eine Schachtel aus festem Karton, die mit einem zarten, leicht verblassten Blumenmuster bemalt war. Im Schein der Lampe hob Clarence den Deckel an.

      In der Schachtel lagen drei Bündel mit Briefen, alle fein säuberlich mit einem roten Stoffband verschnürt. Darunter befanden sich Schreibutensilien – eine Feder, ein Gläschen Tinte, ein unbeschriebenes Blatt Papier, blutrotes Siegelwachs sowie ein schlichter Siegelstempel.

      Eine ganze Menge Briefe … »Dann wollen wir doch einmal sehen, ob wir hier die gewünschten Adressen finden.« Clarence hob die Briefbündel aus der Schachtel und legte sie auf den Tisch. Gemeinsam knüpften sie die Schnüre auf.

      »Sortieren wir sie am besten nach den Adressen«, schlug Mabel vor. »Sofern welche darauf vermerkt sind.«

      Sie sollte recht behalten, nicht auf allen Briefen war ein Absender zu finden. Briefe wurden dieser Tage ja zumeist nur zusammengefaltet und mit Siegelwachs geschlossen. Lediglich für hochoffizielle Schreiben verwendete man Briefumschläge. Ansonsten wurden diese im privaten Bereich, wenn überhaupt, nur von der Oberschicht und dem Adel genutzt, schließlich war Papier – bis auf jenes, das beim Druck von Zeitungen zum Einsatz kam – teuer.

      Eine kraftvoll geschwungene Schrift stach Clarence ins Auge.

      Liebste Pauline,

      es war mir eine Freude, mit dir wieder ein Konzert in der Canterbury Music Hall zu besuchen. Deine Augen leuchten immer so wunderbar, wenn du dich für Musik begeistert. Du bist die liebreizendste Frau, die ich jemals kennenlernen durfte.

      Wer auch immer das geschrieben hatte, sparte nicht mit Superlativen und Süßholzgeraspel. Auch die weiteren Zeilen lasen sich zutiefst schwärmerisch.

      Clarence überflog sie nur, ehe er sich das Porträt ansah, das dem Brief beigefügt war – ein Albuminabzug. Es zeigte einen jungen Mann, der mit einem angedeuteten Lächeln selbstbewusst in die Kamera blickte. Sein helles Haar war leicht gewellt und akkurat gekämmt. Er trug einen Anzug, der, zumindest oberflächlich betrachtet, maßgeschneidert wirkte und ihn vorteilhaft kleidete. Am Kinn hatte er ein kleines dunkles Muttermal. Ein gut aussehender Mann, dem gewiss die Herzen der Damen zuflogen.

      »Wie es aussieht, hatte Miss Westray einen Verehrer. Schau dir das hier an!« Clarence reichte Mabel den Brief und das Porträt.

      Auch sie überflog die Zeilen und ihre Augen weiteten sich. »Den hat sie mir gegenüber nie erwähnt. Aber das ist auch kein Wunder«, räumte sie ein, »wir waren schließlich keine innigen Freundinnen.« Sie drehte den Brief um. »Unterschrieben ist er mit ›G.‹. Keine Adresse. Und sieh nur, das Datum! Der Brief ist gerade mal drei Tage alt. Ach, da fällt mir ein, in ihrer Handtasche steckte eine Karte für ein Konzert in der Canterbury Music Hall in Lambeth. Dann waren die beiden, wer immer dieser ›G.‹ ist, wohl gemeinsam dort.«

      Clarence zuckte mit den Schultern. »Gut möglich.«

      »Ich werde einmal meine Bekannten fragen, ob sie diesen ›G.‹ kennen. Vielleicht hat Pauline ihn ja ihnen gegenüber erwähnt. Wenn die beiden so vertraut miteinander waren, sollte er erfahren, dass sie aus dem Leben gerissen wurde.«

      »Ja, das denke ich auch. Womöglich waren sie verlobt.«

      »Ach, das glaube ich nicht«, erwiderte Mabel. »Das hätte sie bestimmt erwähnt. Und sie trug ja auch keinen Verlobungsring.« Sie griff kurz an ihren eigenen Ehering.

      Das war Clarence allerdings auch aufgefallen. Ihm kam ein weiterer Gedanke dazu. »Es sei denn, die beiden wollten ihre Verbindung aus irgendwelchen Gründen geheim halten. Dann hätte sie einen solchen Ring gewiss nicht offen getragen.«

      Die beiden wären wohl kaum das erste Liebespaar, dessen Eltern mit einer Liaison nicht einverstanden waren.

      Clarence nahm den nächsten Brief zur Hand. »Ich frage mich, ob Miss Westrays Familie diesen Herrn kennt.«

      Währenddessen musterte Mabel das Bild von Miss Westrays Verehrer. »Der junge Mann sieht mir ein wenig nach einem eingebildeten Schönling aus.«

      »Aber du kennst ihn doch gar nicht!«, protestierte Clarence und lachte, weil ihn Mabels Beschreibung unfreiwillig amüsierte.

      Mabel sah ihn herausfordernd an. »Du sagst doch immer, das Aussehen eines Menschen lasse auf vieles schließen.«

      »Ja, schon. Aber ich bin nicht gerade ein Verfechter der Physiognomik, und das weißt du.«

      Er glaubte nicht daran, dass man allein aus den Gesichtszügen eines Menschen auf dessen Charaktereigenschaften schließen konnte. In seinem Atelier waren ihm mittlerweile viele Leute untergekommen, an denen sich die Physiognomiker die Zähne ausgebissen hätten. Da war zum Beispiel jener Herr mit dem rundlichen Gesicht gewesen, den diese Wissenschaft gewiss als gemütlich, faul und ein wenig einfältig beschrieben hätte. In ihrem Gespräch hatte sich jedoch herausgestellt, dass er eine geisteswissenschaftliche Lehrstelle an der Universität innehatte.

      »Nun …« Mabel deutete auf das Bild. »Vielleicht ist dieser Herr ja tatsächlich kein eingebildeter Schönling. Aber sei es drum, das werden wir wohl nie herausfinden.«

      Die weiteren Briefe enthielten eine ganze Reihe unterschiedlicher Absender, darunter mehrere weibliche, beispielsweise eine Angelica Beetham.

      »Schau einmal hier«, sagte Mabel nach einer Weile. »Mrs und Mr Paul Westray. Das könnten ihre Eltern sein. Eine Adresse ist ebenfalls vermerkt. Die Westrays wohnen offenbar in Hackney.«

      »In der Tat.« Clarence atmete erleichtert auf. »Ein Glück, damit haben wir eine Sorge weniger. Ich setze mich gleich zu Hause hin und schreibe an die beiden.«

      Mabel legte ihre Hand auf seine. »Mein lieber Fuchs, das kann ich auch gern tun.«

      »Fuchs«, so nannte ihn seine Frau immer, wenn ihr etwas wichtig war und sie ihm schmeicheln wollte. Er schmunzelte, wie so oft, wenn sie diesen Namen gebrauchte, auch wenn es genau genommen nur sein Nachname war. Ihr gemeinsamer Nachname, verbesserte er sich in Gedanken.

      »Es würde dem Ganzen eine persönlichere Note geben, weil ich mit der armen Miss Westray bekannt war«, fuhr Mabel fort. »Und dann schreibe ich Doktor Tyner eine Nachricht, damit er weiß, dass ich mich darum gekümmert habe. Ich werde in dem Schreiben an die Westrays seine Adresse und die des Leichenschauhauses mit einfügen.«

      »Das ist mir recht«, erwiderte Clarence. »Hoffentlich sind die Westrays nicht gerade verreist und können bald nach London kommen.«

      Aus purer Macht der Gewohnheit betrachtete er mithilfe der Öllampe die wenigen Bilder, die in der Wohnung hingen. Als Fotograf interessierte ihn stets, wie seine Kollegen Familienporträts und andere Abbildungen gestalteten.

      Eines der Bilder fing in besonderem Maße seine Aufmerksamkeit ein. »Schau einmal, Liebes«, sagte er zu seiner Frau. »Das könnten Miss Westrays Eltern und


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