Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke - Walter  Benjamin


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der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt, so daß wir nun zwischen ihren weitverstreuten Trümmern gelassen abenteuerliche Reisen unternehmen. Unter der Großaufnahme dehnt sich der Raum, unter der Zeitlupe die Bewegung in ihm. So wird handgreiflich, daß es eine andere Natur ist, die zu der Kamera als die zum Auge spricht. Anders vor allem so, daß an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter tritt. Ist es schon üblich, daß einer vom Gang der Leute, beispielsweise, sei es auch nur im Groben, sich Rechenschaft ablegt, so weiß er bestimmt nichts mehr von ihrer Haltung im Sekundenbruchteil des Ausschreitens. Ist uns schon im Groben der Griff geläufig, den wir nach dem Feuerzeug oder dem Löffel tun, so wissen wir doch kaum von dem was sich zwischen Hand und Metall dabei eigentlich abspielt, geschweige wie das mit den verschiednen Verfassungen schwankt, in denen wir uns befinden. Hier greift die Kamera mit ihren vielen Hilfsmitteln – ihrem Stürzen und Steigen, ihrem Unterbrechen und Isolieren, ihrem Dehnen und Raffen des Ablaufs, ihrem Vergrößern und ihrem Verkleinern ein. Vom Optisch-Unbewußten erfahren wir erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse. Im übrigen bestehen zwischen beiden die engsten Zusammenhänge. Denn die mannigfachen Aspekte, die die Aufnahmeapparatur der Wirklichkeit abgewinnen kann, liegen zum großen Teile nur außerhalb eines normalen Spektrums der Sinneswahrnehmungen. Viele der Deformationen und Stereotypien, der Verwandlungen und Katastrophen, die die Welt der Gesichtswahrnehmung in den Filmen betreffen können, betreffen sie in der Tat in Psychosen, in Halluzinationen, in Träumen. Und so sind jene Verfahrungsweisen der Kamera ebensoviele Prozeduren, dank deren sich die Kollektivwahrnehmung des Publikums die individuellen Wahrnehmungsweisen des Psychotikers oder des Träumenden zu eigen zu machen vermag. In die alte heraklitische Wahrheit – die Wachenden haben ihre Welt gemeinsam, die Schlafenden jeder eine für sich – hat der Film eine Bresche geschlagen. Und zwar viel weniger mit Darstellungen der Traumwelt als mit der Schöpfung von Figuren des Kollektivtraums wie der erdumkreisenden Micky-Maus. Wenn man sich davon Rechenschaft gibt, welche gefährlichen Spannungen die Technisierung mit ihren Folgen in den großen Massen erzeugt hat – Spannungen, die in kritischen Stadien einen psychotischen Charakter annehmen – so wird man zu der Erkenntnis kommen, daß diese selbe Technisierung gegen solche Massenpsychosen sich die Möglichkeit psychischer Impfung durch gewisse Filme geschaffen hat, in denen eine forcierte Entwicklung sadistischer Phantasien oder masochistischer Wahnvorstellungen deren natürliches und gefährliches Reifen in den Massen verhindern kann. Den vorzeitigen und heilsamen Ausbruch derartiger Massenpsychosen stellt das kollektive Gelächter dar. Die ungeheuren Massen grotesken Geschehens, die zur Zeit im Film konsumiert werden, sind ein drastisches Anzeichen der Gefahren, die der Menschheit aus den Verdrängungen drohen, die die Zivilisation mit sich bringt. Die amerikanischen Groteskfilme und die Filme Disneys bewirken eine therapeutische Sprengung des Unbewußten. Ihr Vorgänger ist der Excentric gewesen. In den neuen Spielräumen, die durch den Film entstanden, ist er als erster zu Hause gewesen; ihr Trockenbewohner. In diesen Zusammenhängen hat Chaplin als historische Figur seinen Platz.

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      Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewesen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Zeit noch nicht gekommen ist. Die Geschichte jeder Kunstform hat kritische Zeiten, in denen diese Form auf Effekte hindrängt, die sich zwanglos erst bei einem veränderten technischen Standard, d. h. in einer neuen Kunstform ergeben können. Die derart, zumal in den sogenannten »Verfallszeiten« sich ergebenden Extravaganzen und Kruditäten der Kunst gehen in Wirklichkeit aus ihrem reichsten historischen Kräftezentrum hervor. An solchen Barbarismen hat noch zuletzt der Dadaismus seine Freude gehabt. Sein Impuls dabei wird erst jetzt erkennbar: Der Dadaismus versuchte, die Effekte, die das Publikum heute im Film sucht, mit den Mitteln der Malerei (beziehungsweise der Literatur) zu erzeugen.

      Jede von Grund auf neue, bahnbrechende Erzeugung von Nachfrage wird über ihr Ziel hinausschießen. Der Dadaismus tut das in dem Grade, daß er die Marktwerte, die dem Film in so hohem Maß eignen, zugunsten bedeutsamerer Intentionen – die ihm natürlich in der hier beschriebnen Gestalt nicht bewußt sind – opfert. Auf die merkantile Verwertbarkeit ihrer Kunstwerke legten die Dadaisten viel weniger Gewicht als auf ihre Unverwertbarkeit als Gegenstände kontemplativer Versenkung. Diese Unverwertbarkeit suchten sie nicht zum wenigsten durch eine grundsätzliche Entwürdigung ihres Materials zu erreichen. Ihre Gedichte sind »Wortsalat«, sie enthalten obszöne Ausrufe und allen nur vorstellbaren Abfall der Sprache. Garnicht anders ihre Gemälde, denen sie Knöpfe oder Fahrscheine aufmontierten. Was sie mit solchen Mitteln erreichen, ist eine rücksichtslose Vernichtung der Aura ihrer Hervorbringungen, denen sie mit den Mitteln der Produktion das Brandmal einer Reproduktion aufdrücken. Es ist unmöglich, vor einem Bild von Arp oder einem Gedicht August Stramms sich wie vor einem Bild Derains oder einem Gedicht von Rilke Zeit zur Sammlung und Stellungnahme zu lassen. Der Versenkung, die in der Entartung des Bürgertums eine Schule asozialen Verhaltens wurde, tritt die Ablenkung als eine Spielart sozialen Verhaltens gegenüber. Das durch den Dadaismus provozierte soziale Verhalten ist: Anstoß nehmen. In der Tat gewährleisteten seine Kundgebungen eine recht vehemente Ablenkung indem sie das Kunstwerk zum Mittelpunkt eines Skandals machten. Dieses Kunstwerk hatte vor allem einer Forderung Genüge zu leisten: öffentliches Ärgernis zu erregen. Aus einem lockenden Augenschein oder einem überredenden Klanggebilde wurde es zu einem Geschoß. Es stieß dem Betrachter zu. Und es stand damit im Begriff, die taktile Qualität, die der Kunst in den großen Umbauepochen der Geschichte die unentbehrlichste ist, für die Gegenwart zurückzugewinnen.

      Daß alles Wahrgenommene, Sinnenfällige ein uns Zustoßendes ist – diese Formel der Traumwahrnehmung, die zugleich die taktile Seite der künstlerischen umfaßt – hat der Dadaismus von neuem in Kurs gesetzt. Damit hat er die Nachfrage nach dem Film begünstigt, dessen ablenkendes Element ebenfalls in erster Linie ein taktiles ist, nämlich auf dem Wechsel der Schauplätze und Einstellungen beruht, welche stoßweise auf den Beschauer eindringen. Der Film hat also die physische Chockwirkung, welche der Dadaismus gleichsam in der moralischen noch verpackt hielt, aus dieser Emballage befreit. In seinen vorgeschrittensten Werken, vor allem bei Chaplin, hat er beide Chockwirkungen auf einer neuen Stufe vereinigt.

      Man vergleiche die Leinwand, auf der der Film abrollt, mit der Leinwand, auf der sich das Gemälde befindet. Das Bild auf der einen verändert sich, das Bild auf der andern nicht. Das letztere lädt den Betrachter zur Kontemplation ein; vor ihm kann er sich seinem Assoziationsablauf überlassen. Vor der Filmaufnahme kann er das nicht. Kaum hat er sie ins Auge gefaßt, so hat sie sich schon verändert. Sie kann nicht fixiert werden, weder wie ein Gemälde noch wie etwas Wirkliches. Der Assoziationsablauf dessen, der sie betrachtet, wird sofort durch ihre Veränderung unterbrochen. Darauf beruht die Chockwirkung des Films, die wie jede Chockwirkung durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen sein will. Der Film ist die der betonten Lebensgefahr, in der die Heutigen leben, entsprechende Kunstform. Er entspricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparats – Veränderungen wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im Großstadtverkehr, wie sie im weltgeschichtlichen Maßstab jeder Kämpfer gegen die heutige Gesellschaftsordnung erlebt.

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      Die Masse ist eine matrix, aus der gegenwärtig alles gewohnte Verhalten Kunstwerken gegenüber neu geboren hervorgeht. Die Quantität ist in Qualität umgeschlagen: die sehr viel größeren Massen der Anteilnehmenden haben eine veränderte Art des Anteils hervorgebracht. Es darf den Betrachter nicht irre machen, daß diese zunächst in verrufener Gestalt in Erscheinung tritt. Man klagt ihm, daß die Massen im Kunstwerk Zerstreuung suchten, während der Kunstfreund sich diesem mit Sammlung nahe. Für die Massen sei das Kunstwerk ein Anlaß der Unterhaltung, für den Kunstfreund sei es ein Gegenstand seiner Andacht. Hier heißt es nun, näher zusehen. Zerstreuung und Sammlung stehen in einem Gegensatz, der folgende Formulierung erlaubt: Der vor dem Kunstwerk sich Sammelnde versenkt sich darein; er geht in dieses Werk ein, wie die Legende es von einem chinesischen Maler beim Anblick seines vollendeten Bildes erzählt. Dagegen versenkt die zerstreute Masse ihrerseits das Kunstwerk in sich; sie umspielt es mit ihrem


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