Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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Gewicht, das auf seinem Kultwert lag, in erster Linie zu einem Instrument der Magie wurde, das man als Kunstwerk gewissermaßen erst später erkannte, so wird heute das Kunstwerk durch das absolute Gewicht, das auf seinem Ausstellungswert liegt, zu einem Gebilde mit ganz neuen Funktionen, von denen die uns bewußte, die künstlerische, als diejenige sich abhebt, die man später als eine beiläufige erkennen mag. So viel ist sicher, daß gegenwärtig der Film die brauchbarsten Handhaben zu dieser Erkenntnis gibt. Sicher ist weiter, daß die geschichtliche Tragweite dieses Funktionswandels der Kunst, der im Film am vorgeschrittensten auftritt, deren Konfrontation mit der Urzeit der Kunst nicht nur methodisch, sondern auch materiell erlaubt.

      Die Kunst der Urzeit hält, im Dienste der Magie, gewisse Notierungen fest, die der Praxis dienen. Und zwar wahrscheinlich als Ausübung magischer Prozeduren (das Schnitzen einer Ahnenfigur ist selbst eine magische Verrichtung), wie auch als Anweisung zu solchen (die Ahnenfigur macht eine rituelle Haltung vor), wie auch endlich als Gegenstände einer magischen Kontemplation (die Betrachtung der Ahnenfigur stärkt die Zauberkraft des Betrachtenden). Gegenstände solcher Notierungen boten der Mensch und seine Umwelt dar, und abgebildet wurden sie nach den Erfordernissen einer Gesellschaft, deren Technik nur erst verschmolzen mit dem Ritual existiert. Diese Technik ist an der maschinellen gemessen natürlich rückständig. Aber nicht das ist für die dialektische Betrachtung das Wichtige. Für sie kommt es auf den tendenziellen Unterschied zwischen jener Technik und der unsrigen an, der darin besteht, daß die erste Technik den Menschen so sehr, daß die zweite ihn so wenig wie möglich einsetzt. Die technische Großtat der ersten Technik ist gewissermaßen das Menschenopfer, die der zweiten liegt auf der Linie der fernlenkbaren Flugzeuge, die keine Bemannung brauchen. Das Ein für allemal gilt für die erste Technik (da geht es um die nie wiedergutzumachende Verfehlung oder den ewig stellvertretenden Opfertod). Das Einmal ist keinmal gilt für die zweite (sie hat es mit dem Experiment und seiner unermüdlichen Variierung der Versuchsanordnung zu tun). Der Ursprung der zweiten Technik ist da zu suchen, wo der Mensch zum ersten Mal und mit unbewußter List daran ging, Abstand von der Natur zu nehmen. Er liegt mit anderen Worten im Spiel.

      Ernst und Spiel, Strenge und Unverbindlichkeit treten in jedem Kunstwerk verschränkt auf, wenn auch mit Anteilen sehr wechselnden Grades. Damit ist schon gesagt, daß die Kunst der zweiten wie der ersten Technik verbunden ist. Allerdings ist hierbei anzumerken, daß die »Naturbeherrschung« das Ziel der zweiten Technik nur auf höchst anfechtbare Weise bezeichnet; sie bezeichnet es vom Standpunkt der ersten Technik. Die erste hat es wirklich auf Beherrschung der Natur abgesehen; die zweite viel mehr auf ein Zusammenspiel zwischen der Natur und der Menschheit. Die gesellschaftlich entscheidende Funktion der heutigen Kunst ist Einübung in dieses Zusammenspiel. Insbesondere gilt das vom Film. Der Film dient, den Menschen in denjenigen Apperzeptionen und Reaktionen zu üben, die der Umgang mit einer Apparatur bedingt, deren Rolle in seinem Leben fast täglich zunimmt. Der Umgang mit dieser Apparatur belehrt ihn zugleich, daß die Knechtung in ihrem Dienst erst dann der Befreiung durch sie Platz machen wird, wenn die Verfassung der Menschheit sich den neuen Produktivkräften angepaßt haben wird, welche die zweite Technik erschlossen hat.826

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      In der Photographie beginnt der Ausstellungswert den Kultwert auf der ganzen Linie zurückzudrängen. Dieser weicht aber nicht widerstandslos. Er bezieht eine letzte Verschanzung, und die ist das Menschenantlitz. Keineswegs zufällig steht das Porträt im Mittelpunkt der frühen Photographie. Im Kult der Erinnerung an die fernen oder die abgestorbenen Lieben hat der Kultwert des Bildes die letzte Zuflucht. Im flüchtigen Ausdruck eines Menschengesichts winkt aus den frühen Photographien die Aura zum letzten Mal. Das ist es, was deren schwermutvolle und mit nichts zu vergleichende Schönheit ausmacht. Wo aber der Mensch aus der Photographie sich zurückzieht, da tritt erstmals der Ausstellungswert dem Kultwert überlegen entgegen. Diesem Vorgang seine Stätte gegeben zu haben, ist die unvergleichliche Bedeutung von Atget, der die Pariser Straßen um neunzehnhundert in menschenleeren Aspekten festhielt. Sehr mit Recht hat man von ihm gesagt, daß er sie aufnahm wie einen Tatort. Auch der Tatort ist menschenleer. Seine Aufnahme erfolgt der Indizien wegen. Die photographischen Aufnahmen beginnen bei Atget Beweisstücke im historischen Prozeß zu werden. Das macht ihre verborgene politische Bedeutung aus. Sie fordern schon eine Rezeption in bestimmtem Sinne. Ihnen ist die freischwebende Kontemplation nicht mehr angemessen. Sie beunruhigen den Betrachter; er fühlt: zu ihnen muß er einen bestimmten Weg suchen. Wegweiser beginnen ihm gleichzeitig die illustrierten Zeitungen aufzustellen. Richtige oder falsche – gleichviel. In ihnen ist die Beschriftung zum ersten Mal obligat geworden. Und es ist klar, daß sie einen ganz anderen Charakter hat als der Titel eines Gemäldes. Die Direktiven, die der Betrachter von Bildern in der illustrierten Zeitschrift durch die Beschriftung erhält, werden bald darauf noch präziser und gebieterischer im Film, wo die Auffassung von jedem einzelnen Bild durch die Folge aller vorangegangenen vorgeschrieben erscheint.

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      Die Griechen kannten nur zwei Verfahren technischer Reproduktion von Kunstwerken: den Guß und die Prägung. Bronzen, Terrakotten und Münzen waren die einzigen Kunstwerke, die von ihnen massenweise hergestellt werden konnten. Alle übrigen waren einmalig und technisch nicht zu reproduzieren. Daher mußten sie für die Ewigkeit gemacht sein. Die Griechen waren durch den Stand ihrer Technik darauf angewiesen, in der Kunst Ewigkeitswerte zu produzieren. Diesem Umstand verdanken sie ihren ausgezeichneten Ort in der Kunstgeschichte, an dem Spätere ihren eigenen Standort bestimmen können. Es ist kein Zweifel, daß der unsrige sich an dem den Griechen entgegengesetzten Pol befindet. Niemals vorher sind Kunstwerke in so hohem Maß und in so weitem Umfang technisch reproduzierbar gewesen wie heute. Im Film haben wir eine Form, deren Kunstcharakter zum ersten Mal durchgehend von ihrer Reproduzierbarkeit bestimmt wird. Diese Form in ihren Einzelheiten mit der griechischen Kunst zu konfrontieren wäre müßig. Wohl aber ist das in einem exakten Punkt aufschlußreich. Mit dem Film nämlich ist für das Kunstwerk eine Qualität ausschlaggebend geworden, die ihm die Griechen wohl zuletzt zugebilligt oder doch als seine unwesentlichste angesehen haben würden. Das ist seine Verbesserungsfähigkeit. Der fertige Film ist nichts weniger als eine Schöpfung aus einem Wurf; er ist aus sehr vielen Bildern und Bildfolgen montiert, zwischen denen der Monteur die Wahl hat – Bildern, die im übrigen von vornherein in der Folge der Aufnahmen bis zum endgültigen Gelingen beliebig zu verbessern gewesen waren. Um seine »Opinion publique«, die 3000 m lang ist, herzustellen, hat Chaplin 125 000 m drehen lassen. Der Film ist also das verbesserungsfähigste Kunstwerk, Und diese seine Verbesserungsfähigkeit hängt mit seinem radikalen Verzicht auf den Ewigkeitswert zusammen. Das geht aus der Gegenprobe hervor: für die Griechen, deren Kunst auf die Produktion von Ewigkeitswerten angewiesen war, stand an der Spitze der Künste die am allerwenigsten verbesserungsfähige Kunst, nämlich die Plastik, deren Schöpfungen buchstäblich aus einem Stück sind. Der Niedergang der Plastik im Zeitalter des montierbaren Kunstwerks ist unvermeidlich.

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      Der Streit, der im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts zwischen der Malerei und der Photographie um den Kunstwert ihrer Produkte durchgefochten wurde, wirkt heute abwegig und verworren. Das spricht aber nicht gegen seine Bedeutung, könnte sie vielmehr eher unterstreichen. In der Tat war dieser Streit der Ausdruck einer weltgeschichtlichen Umwälzung, die als solche keinem der beiden Partner bewußt war. Indem das Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit die Kunst von ihrem kultischen Fundament löste, erlosch auf immer der Schein ihrer Autonomie. Die Funktionsveränderung der Kunst aber, die damit gegeben war, fiel aus dem Blickfeld des Jahrhunderts heraus. Und auch dem zwanzigsten, das die Entwicklung des Films erlebte, entging sie lange.

      Hatte man vordem vielen vergeblichen Scharfsinn an die Entscheidung der Frage gewandt, ob die Photographie eine Kunst sei – ohne die Vorfrage sich gestellt zu haben: ob nicht durch die Erfindung der Photographie der Gesamtcharakter der Kunst sich verändert habe – so übernahmen die Filmtheoretiker bald die entsprechende voreilige Fragestellung. Aber die Schwierigkeiten, welche die Photographie der


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