Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke - Walter  Benjamin


Скачать книгу
Gance z. B. den Film mit den Hieroglyphen: »Da sind wir denn, infolge einer höchst merkwürdigen Rückkehr ins Dagewesene, wieder auf der Ausdrucksebene der Ägypter angelangt … Die Bildersprache ist noch nicht zur Reife gediehen, weil unsere Augen ihr noch nicht gewachsen sind. Noch gibt es nicht genug Achtung, nicht genug Kult für das, was sich in ihr ausspricht.«827 Oder Séverin-Mars schreibt: »Welcher Kunst war ein Traum beschieden, der … poetischer und realer gleichzeitig gewesen wäre! Von solchem Standpunkt betrachtet würde der Film ein ganz unvergleichliches Ausdrucksmittel darstellen, und es dürften in seiner Atmosphäre sich nur Personen adligster Denkungsart in den vollendetsten und geheimnisvollsten Augenblicken ihrer Lebensbahn bewegen.«828 Es ist sehr lehrreich zu sehen, wie das Bestreben, den Film der »Kunst« zuzuschlagen, diese Theoretiker nötigt, mit einer Rücksichtslosigkeit ohnegleichen kultische Elemente in ihn hineinzuinterpretieren. Und doch waren zu der Zeit, da diese Spekulationen veröffentlicht wurden, schon Werke vorhanden wie »L’opinion publique« und »La ruée vers l’or«. Das hindert Abel Gance nicht, den Vergleich mit den Hieroglyphen heranzuziehen, und Séverin-Mars spricht vom Film wie man von Bildern des Fra Angelico sprechen könnte. Kennzeichnend ist, daß auch heute noch besonders reaktionäre Autoren die Bedeutung des Films in der gleichen Richtung suchen und wenn nicht geradezu im Sakralen so doch im Übernatürlichen. Anläßlich der Reinhardtschen Verfilmung des Sommernachtstraums stellt Werfel fest, daß es unzweifelhaft die sterile Kopie der Außenwelt mit ihren Straßen, Intérieurs, Bahnhöfen, Restaurants, Autos und Strandplätzen sei, die bisher dem Aufschwung des Films in das Reich der Kunst im Wege gestanden hätte. »Der Film hat seinen wahren Sinn, seine wirklichen Möglichkeiten noch nicht erfaßt … Sie bestehen in seinem einzigartigen Vermögen, mit natürlichen Mitteln und mit unvergleichlicher Überzeugungskraft das Feenhafte, Wunderbare, Übernatürliche zum Ausdruck zu bringen.«829

      —————

      Es ist eine andere Art der Reproduktion, die die Photographie einem Gemälde, und eine andere, die sie einem im Filmatelier gestellten Vorgang zuteilwerden läßt. Im ersten Falle ist das Reproduzierte ein Kunstwerk, und seine Produktion ist es nicht. Denn die Leistung des Kameramanns am Objektiv schafft ebensowenig ein Kunstwerk, wie die eines Dirigenten an einem Symphonieorchester; sie schafft bestenfalls eine Kunstleistung. Anders bei der Aufnahme im Filmatelier. Hier ist schon das Reproduzierte kein Kunstwerk und die Reproduktion ihrerseits ist es ebensowenig wie in dem ersten Fall. Das Kunstwerk entsteht hier erst auf Grund der Montage. Einer Montage, von der jedes einzelne Bestandstück die Reproduktion eines Vorgangs ist, der ein Kunstwerk weder an sich ist, noch in der Photographie ein solches ergibt. Was sind diese im Film reproduzierten Vorgänge, da sie doch keine Kunstwerke sind?

      Die Antwort muß von der eigentümlichen Kunstleistung des Filmdarstellers ausgehen. Ihn unterscheidet vom Bühnenschauspieler, daß seine Kunstleistung in ihrer originalen Form, in der sie der Reproduktion zu Grunde liegt, nicht vor einem zufälligen Publikum, sondern vor einem Gremium von Fachleuten vor sich geht, die als Produktionsleiter, Regisseur, Kameramann, Tonmeister, Beleuchter u. s. w. jederzeit in die Lage geraten können, in seine Kunstleistung einzugreifen. Es handelt sich hier um eine gesellschaftlich sehr wichtige Kennmarke. Das Eingreifen eines sachverständigen Gremiums in eine Kunstleistung ist nämlich charakteristisch für die sportliche Leistung und im weiteren Sinn für die Testleistung überhaupt. Ein solches Eingreifen bestimmt in der Tat den Prozeß der Filmproduktion durchgehend. Viele Stellen werden bekanntlich in Varianten gedreht. Ein Hilfeschrei beispielsweise kann in verschiedenen Ausfertigungen registriert werden. Unter diesen nimmt der Cutter dann eine Wahl vor; er statuiert gleichsam den Rekord unter ihnen. Ein im Aufnahmeatelier dargestellter Vorgang unterscheidet sich also von dem entsprechenden wirklichen so, wie das Werfen eines Diskus auf einem Sportplatz in einem Wettbewerb unterschieden ist von dem Werfen der gleichen Scheibe am gleichen Ort auf die gleiche Strecke, wenn es geschähe, um einen Mann zu töten. Das erste wäre eine Testleistung, das zweite nicht.

      Nun ist allerdings die Testleistung des Filmdarstellers eine vollkommen einzigartige. Worin besteht sie? Sie besteht in der Überwindung einer gewissen Schranke, welche den gesellschaftlichen Wert von Testleistungen in enge Grenzen schließt. Es ist hier nicht von der sportlichen Leistung die Rede, sondern von der Leistung am mechanisierten Test. Der Sportsmann kennt gewissermaßen nur den natürlichen. Er mißt sich an Aufgaben, wie die Natur sie bietet, nicht an denen einer Apparatur – es sei denn in Ausnahmefällen, wie Nurmi, von dem man sagte, daß er gegen die Uhr lief. Inzwischen ruft der Arbeitsprozeß, besonders seit er durch das laufende Band normiert wurde, täglich unzählige Prüfungen am mechanisierten Test hervor. Diese Prüfungen erfolgen unter der Hand: wer sie nicht besteht, wird aus dem Arbeitsprozeß ausgeschaltet. Sie erfolgen aber auch eingeständlich: in den Instituten für Berufseignungsprüfungen. In beiden Fällen stößt man auf die oben erwähnte Schranke.

      Diese Prüfungen sind nämlich, zum Unterschied von den sportlichen, nicht im wünschenswerten Maß ausstellbar. Und genau dies ist die Stelle, an der der Film eingreift. Der Film macht die Testleistung ausstellbar, indem er aus der Ausstellbarkeit der Leistung selbst einen Test macht. Der Filmdarsteller spielt ja nicht vor einem Publikum, sondern vor einer Apparatur. Der Aufnahmeleiter steht genau an der Stelle, an der bei der Eignungsprüfung der Versuchsleiter steht. Im Licht der Jupiterlampen zu spielen und gleichzeitig den Bedingungen des Mikrophons zu genügen, ist eine Testleistung ersten Ranges. Sie darstellen heißt, im Angesicht der Apparatur seine Menschlichkeit beibehalten. Das Interesse an dieser Leistung ist riesengroß. Denn eine Apparatur ist es, vor der die überwiegende Anzahl der Städtebewohner in Kontoren und in Fabriken während der Dauer des Arbeitstages ihrer Menschlichkeit sich entäußern muß. Abends füllen dieselben Massen die Kinos, um zu erleben, wie der Filmdarsteller für sie Revanche nimmt, indem seine Menschlichkeit (oder was ihnen so erscheint) nicht nur der Apparatur gegenüber sich behauptet, sondern sie dem eigenen Triumph dienstbar macht.

      —————

      Dem Film kommt es viel weniger darauf an, daß der Darsteller dem Publikum einen anderen, als daß er der Apparatur sich selbst darstellt. Einer der ersten, der diese Umänderung des Darstellers durch die Testleistung gespürt hat, ist Pirandello gewesen. Es beeinträchtigt die Bemerkungen, die er in seinem Roman »Es wird gefilmt« darüber macht, nur wenig, daß sie sich darauf beschränken, die negative Seite der Sache hervorzuheben. Noch weniger, daß sie an den stummen Film anschließen. Denn der Tonfilm hat an dieser Sache nichts Grundsätzliches geändert. Entscheidend bleibt, daß für eine Apparatur – oder, im Fall des Tonfilms, für zwei – gespielt wird. »Der Filmdarsteller, schreibt Pirandello, fühlt sich wie im Exil. Exiliert nicht nur von der Bühne sondern von seiner eigenen Person. Mit einem dunklen Unbehagen spürt er die unerklärliche Leere, die dadurch entsteht, daß sein Körper zur Ausfallserscheinung wird, daß er sich verflüchtigt und seiner Realität, seines Lebens, seiner Stimme und der Geräusche, die er verursacht, indem er sich rührt, beraubt wird, um sich in ein stummes Bild zu verwandeln, das einen Augenblick auf der Leinwand zittert und sodann in der Stille verschwindet … Die kleine Apparatur wird mit seinem Schatten vor dem Publikum spielen; und er selbst muß sich begnügen, vor ihr zu spielen.«830 Man kann den gleichen Tatbestand folgendermaßen kennzeichnen: Zum ersten Mal – und das ist das Werk des Films – kommt der Mensch in die Lage, zwar mit seiner gesamten lebendigen Person, aber unter Verzicht auf deren Aura wirken zu müssen. Denn die Aura ist an sein Hier und Jetzt gebunden. Es gibt kein Abbild von ihr. Die Aura, die auf der Bühne um Macbeth ist, kann von der nicht abgelöst werden, die für das lebendige Publikum um den Schauspieler ist, welcher ihn spielt. Das Eigentümliche der Aufnahme im Filmatelier aber besteht darin, daß sie an die Stelle des Publikums die Apparatur setzt. So muß die Aura, die um den Darstellenden ist, fortfallen – und damit zugleich die um den Dargestellten.

      Daß gerade ein Dramatiker, wie Pirandello, in der Charakteristik des Filmdarstellers unwillkürlich den Grund der Krise berührt, von der wir das Theater befallen sehen, ist nicht erstaunlich. Zu dem restlos von der technischen Reproduktion erfaßten, ja – wie der Film – aus ihr hervorgehenden Kunstwerk gibt es in der Tat keinen entschiedeneren Gegensatz als das der Schaubühne.


Скачать книгу