Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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indem man so wenig wie möglich ›spielt‹ … Die letzte Entwicklung« sieht Arnheim 1932 darin, »den Schauspieler wie ein Requisit zu behandeln, das man charakteristisch auswählt und … an der richtigen Stelle einsetzt.«831 Damit hängt aufs engste etwas anderes zusammen. Der Schauspieler, der auf der Bühne agiert, versetzt sich in eine Rolle. Dem Filmdarsteller ist das sehr oft versagt. Seine Leistung ist durchaus keine einheitliche, sondern aus vielen einzelnen Leistungen zusammengestellt. Neben zufälligen Rücksichten auf Ateliermiete, Verfügbarkeit von Partnern, Dekor u. s. w. sind es elementare Notwendigkeiten der Maschinerie, die das Spiel des Darstellers in eine Reihe montierbarer Episoden zerfällen. Es handelt sich vor allem um die Beleuchtung, deren Installation die Darstellung eines Vorgangs, der auf der Leinwand als einheitlicher geschwinder Ablauf erscheint, in einer Reihe einzelner Aufnahmen zu bewältigen zwingt, die sich im Atelier unter Umständen über Stunden verteilten. Von handgreiflicheren Montagen zu schweigen. So kann ein Sprung aus dem Fenster im Atelier in Gestalt eines Sprungs vom Gerüst gedreht werden, die sich anschließende Flucht aber gegebenenfalls wochenlang später bei einer Außenaufnahme. Im übrigen ist es ein leichtes, noch weit paradoxere Fälle zu konstruieren. Es kann, nach einem Klopfen gegen die Tür, vom Darsteller gefordert werden, daß er zusammenschrickt. Vielleicht ist dieses Zusammenfahren nicht wunschgemäß ausgefallen. Da kann der Regisseur zu der Auskunft greifen, gelegentlich, wenn der Darsteller wieder einmal im Atelier ist, ohne dessen Vorwissen in seinem Rücken einen Schuß abfeuern zu lassen. Das Erschrecken des Darstellers in diesem Augenblick kann aufgenommen und in den Film montiert werden. Nichts zeigt drastischer, daß die Kunst aus dem Reich des »schönen Scheins« entwichen ist, das solange als das einzige galt, in dem sie gedeihen könne.832

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      In der Repräsentation des Menschen durch die Apparatur hat dessen Selbstentfremdung eine höchst produktive Verwertung erfahren. Diese Verwertung kann man daran ermessen, daß das Befremden des Darstellers vor der Apparatur, wie Pirandello es schildert, von Hause aus von der gleichen Art ist, wie das Befremden des Menschen vor seiner Erscheinung im Spiegel, bei der die Romantiker zu verweilen liebten. Nun aber ist dieses Spiegelbild von ihm ablösbar, es ist transportabel geworden. Und wohin wird es transportiert? Vor die Masse.833 Das Bewußtsein davon verläßt den Filmdarsteller natürlich nicht einen Augenblick. Er weiß, während er vor der Apparatur steht, hat er es in letzter Instanz mit der Masse zu tun. Diese Masse ist’s, die ihn kontrollieren wird. Und gerade sie ist nicht sichtbar, noch nicht vorhanden, während er die Kunstleistung absolviert, die sie kontrollieren wird. Die Autorität dieser Kontrolle wird durch jene Unsichtbarkeit gesteigert. Freilich darf nicht vergessen werden, daß die politische Auswertung dieser Kontrolle so lange auf sich wird warten lassen, bis sich der Film aus den Fesseln seiner kapitalistischen Ausbeutung befreit haben wird. Denn durch das Filmkapital werden die revolutionären Chancen dieser Kontrolle in gegenrevolutionäre verwandelt. Der von ihm geförderte Starkultus konserviert nicht allein jenen Zauber der Persönlichkeit, welcher schon längst im fauligen Schimmer ihres Warencharakters besteht, sondern sein Komplement, der Kultus des Publikums, befördert zugleich die korrupte Verfassung der Masse, die der Faschismus an die Stelle ihrer klassenbewußten zu setzen sucht.834

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      Es hängt mit der Technik des Films genau wie mit der des Sports zusammen, daß jeder den Leistungen, die sie ausstellen, als halber Fachmann beiwohnt. Man braucht nur einmal eine Gruppe von Zeitungsjungen, auf ihre Fahrräder gestützt, die Ergebnisse eines Radrennens diskutieren gehört zu haben, um diesem Zusammenhang auf die Spur zu kommen. Für den Film beweist die Wochenschau klipp und klar, daß jeder einzelne in die Lage kommen kann, gefilmt zu werden. Aber mit dieser Möglichkeit ist es nicht getan. Jeder heutige Mensch hat einen Anspruch, gefilmt zu werden. Diesen Anspruch verdeutlicht am besten ein Blick auf die geschichtliche Situation des heutigen Schrifttums.

      Jahrhundertelang lagen im Schrifttum die Dinge so, daß einer geringen Zahl von Schreibenden eine vieltausendfache Zahl von Lesenden gegenüber stand. Darin trat gegen Ende des vorigen Jahrhunderts ein Wandel ein. Mit der wachsenden Ausdehnung der Presse, die immer neue politische, religiöse, wissenschaftliche, berufliche, lokale Organe der Leserschaft zur Verfügung stellte, gerieten immer größere Teile der Leserschaft – zunächst fallweise – unter die Schreibenden. Es begann damit, daß die Tagespresse ihnen ihren »Briefkasten« eröffnete, und es liegt heute so, daß es kaum einen im Arbeitsprozeß stehenden Europäer gibt, der nicht grundsätzlich irgendwo Gelegenheit zur Publikation einer Arbeitserfahrung, einer Beschwerde, einer Reportage oder dergleichen finden könnte. Damit ist die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum im Begriff, ihren grundsätzlichen Charakter zu verlieren. Sie wird eine funktionelle, von Fall zu Fall so oder anders verlaufende. Der Lesende ist jederzeit bereit, ein Schreibender zu werden. Als Sachverständiger, der er wohl oder übel in einem äußerst spezialisierten Arbeitsprozeß werden mußte – sei es auch nur als Sachverständiger einer geringen Verrichtung –, gewinnt er einen Zugang zur Autorschaft. Die Arbeit selbst kommt zu Wort. Und ihre Darstellung im Wort macht einen Teil des Könnens, das zu ihrer Ausübung erforderlich ist. Die literarische Befugnis wird nicht mehr in der spezialisierten, sondern in der polytechnischen Ausbildung begründet, und so Gemeingut.

      Alles das läßt sich ohne weiteres auf den Film übertragen, wo Verschiebungen, die im Schrifttum Jahrhunderte in Anspruch genommen haben, sich im Laufe eines Jahrzehnts vollzogen. Denn in der Praxis des Films – vor allem des russischen – ist diese Verschiebung stellenweise bereits verwirklicht worden. Ein Teil der im russischen Film begegnenden Darsteller sind nicht Darsteller in unserem Sinn, sondern Leute, die sich – und zwar in erster Linie in ihrem Arbeitsprozeß – darstellen. In Westeuropa verbietet die kapitalistische Ausbeutung des Films dem legitimen Anspruch, den der heutige Mensch auf sein Reproduziertwerden hat, die Berücksichtigung. Im übrigen verbietet auch die Arbeitslosigkeit sie, welche große Massen von der Produktion ausschließt, in deren Arbeitsgang sie in erster Linie ihren Anspruch auf das Reproduziertwerden hätten. Unter diesen Umständen hat die Filmindustrie alles Interesse, die Anteilnahme der Massen durch illusionäre Vorstellungen und durch zweideutige Spekulationen zu stacheln. Zu diesem Zweck hat sie einen gewaltigen publizistischen Apparat in Bewegung gesetzt: sie hat die Karriere und das Liebesleben der Stars in ihren Dienst gestellt, sie hat Plebiszite veranstaltet, sie hat Schönheitskonkurrenzen einberufen. Alles das, um das ursprüngliche und berechtigte Interesse der Massen am Film – ein Interesse der Selbst- und somit auch der Klassenerkenntnis – auf korruptivem Weg zu verfälschen. Es gilt daher vom Filmkapital im besonderen, was vom Faschismus im allgemeinen gilt: daß ein unabweisbares Bedürfnis nach neuen sozialen Verfassungen insgeheim im Interesse einer besitzenden Minderheit ausgebeutet wird. Die Enteignung des Filmkapitals ist schon darum eine dringende Forderung des Proletariats.

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      Eine Film- und besonders eine Tonfilmaufnahme bietet einen Anblick wie er vorher nie und nirgends denkbar gewesen ist. Sie stellt einen Vorgang dar, dem kein einziger Standpunkt mehr zuzuordnen ist, von dem aus die zu dem Spielvorgang als solchem nicht zugehörige Aufnahmeapparatur, die Beleuchtungsmaschinerie, der Assistentenstab u. s. w. nicht in das Blickfeld des Beschauers fiele. (Es sei denn, die Einstellung seiner Pupille stimme mit der des Aufnahmeapparats überein.) Dieser Umstand, er mehr als jeder andere, macht die etwa bestehenden Ähnlichkeiten zwischen einer Szene im Filmatelier und auf der Bühne zu oberflächlichen und belanglosen. Das Theater kennt prinzipiell die Stelle, von der aus das Geschehen nicht ohne weiteres als illusionär zu durchschauen ist. Der Aufnahmeszene im Film gegenüber gibt es diese Stelle nicht. Dessen illusionäre Natur ist eine Natur zweiten Grades; sie ist ein Ergebnis des Schnitts. Das heißt: Im Filmatelier ist die Apparatur derart tief in die Wirklichkeit eingedrungen, daß deren reiner, vom Fremdkörper der Apparatur freier Aspekt das Ergebnis einer besonderen Prozedur, nämlich der Aufnahme durch den eigens eingestellten photographischen Apparat und ihrer Montierung mit anderen Aufnahmen von dergleichen Art ist. Der apparatfreie Aspekt der Realität ist hier zu ihrem künstlichsten geworden


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