Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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machen. Fällt sie aus, so würde sich grundsätzlich der freudige oder (meist) unlustbetonte Schreck einstellen, der nach Freud den Ausfall der Chockabwehr sanktioniert. Diesen Befund hat Baudelaire in einem grellen Bild festgehalten. Er spricht von einem Duell, in dem der Künstler, ehe er besiegt wird, vor Schrecken aufschreit1133. Dieses Duell ist der Vorgang des Schaffens selbst. Baudelaire hat also die Chockerfahrung ins Herz seiner artistischen Arbeit hineingestellt. Diesem Selbstzeugnis kommt große Bedeutung zu. Äußerungen mehrerer Zeitgenossen stützen es. Dem Schrecken preisgegeben, ist es Baudelaire nicht fremd, selber Schrecken hervorzurufen. Vallès überliefert sein exzentrisches Mienenspiel1134; Pontmartin stellt nach einem Porträt von Nargeot Baudelaires konfiszierte Visage fest; Cladel verweilt bei dem schneidenden Tonfall, der ihm im Gespräch zur Verfügung stand; Gautier spricht von den ›Sperrungen‹, wie Baudelaire sie beim Deklamieren liebte1135; Nadar beschreibt seinen abrupten Schritt1136.

      Die Psychiatrie kennt traumatophile Typen. Baudelaire hat es zu seiner Sache gemacht, die Chocks mit seiner geistigen und physischen Person zu parieren, woher sie kommen mochten. Das Gefecht stellt das Bild dieser Chockabwehr. Wenn er seinen Freund Constantin Guys beschreibt, so sucht er ihn um die Zeit, da Paris im Schlaf liegt, auf, »wie er dasteht, über den Tisch gebeugt, mit der gleichen Schärfe das Blatt visierend wie am Tag die Dinge um ihn herum; wie er mit seinem Stift, seiner Feder, dem Pinsel ficht; Wasser aus seinem Glas zur Decke spritzen und die Feder an seinem Hemd sich versuchen läßt; wie er geschwind und heftig hinter der Arbeit her ist, als fürchte er, die Bilder entwischten ihm; so ist er streitbar, wenn auch allein, und pariert seine eigenen Stöße«1137. In solch phantastischem Gefecht begriffen, hat Baudelaire sich selbst in der Anfangsstrophe des Gedichts »Le soleil« porträtiert; und das ist wohl die einzige Stelle der »Fleurs du mal«, die ihn bei der poetischen Arbeit zeigt.

      Le long du vieux faubourg, où pendent aux masures

      Les persiennes, abri des secrètes luxures,

      Quand le soleil cruel frappe à traits redoublés

      Sur la ville et les champs, sur les toits et les blés,

      Je vais m’exercer seul à ma fantasque escrime,

      Flairant dans tous les coins les hasards de la rime,

      Trébuchant sur les mots comme sur les pavés,

       Heurtant parfois des vers depuis longtemps rêvés. 1138

      Die Erfahrung des Chocks gehört zu denen, die für Baudelaires Faktur bestimmend geworden sind. Gide handelt von den Intermittenzen zwischen Bild und Idee, Wort und Sache, in denen die poetische Erregung bei Baudelaire ihren eigentlichen Sitz vorfinde1139. Rivière hat auf die unterirdischen Stöße hingewiesen, von denen der Baudelairesche Vers erschüttert wird. Es ist dann, als stürze ein Wort in sich zusammen. Rivière hat solche hinfälligen Worte aufgezeigt1140:

      Et qui sait si les fleurs nouvelles que je rêve

      Trouveront dans ce sol lavé comme une grève

      Le mystique aliment qui ferait leur vigueur?1141

      Oder auch

      Cybèle, qui les aime, augmente ses verdures.1142

      Hierher gehört weiter der berühmte Gedichtanfang

      La servante au grand cœur dont vous étiez jalouse.1143

      Diesen verborgenen Gesetzlichkeiten auch außerhalb des Verses ihr Recht werden zu lassen, war die Absicht, der Baudelaire im »Spleen de Paris« – seinen Gedichten in Prosa – nachgegangen ist. In seiner Widmung der Sammlung an den Chefredakteur der »Presse«, Arsène Houssaye, heißt es: »Wer unter uns hätte nicht schon in den Tagen des Ehrgeizes das Wunderwerk einer poetischen Prosa erträumt? sie müßte musikalisch ohne Rhythmus und Reim sein, sie müßte geschmeidig und spröde genug sein, um sich den lyrischen Regungen der Seele, den Wellenbewegungen der Träumerei, den Chocks des Bewußtseins anzupassen. Dieses Ideal, das zur fixen Idee werden kann, wird vor allem von dem Besitz ergreifen, der in den Riesenstädten mit dem Geflecht ihrer zahllosen einander durchkreuzenden Beziehungen zu Hause ist.«1144

      Die Stelle legt eine doppelte Konstatierung nahe. Sie unterrichtet einmal über den innigen Zusammenhang, der bei Baudelaire zwischen der Figur des Chocks und der Berührung mit den großstädtischen Massen besteht. Sie unterrichtet weiter darüber, was unter diesen Massen eigentlich zu denken ist. Von keiner Klasse, von keinem irgendwie strukturierten Kollektivum kann die Rede sein. Es handelt sich um nichts anderes als um die amorphe Menge der Passanten, um Straßenpublikum1145. Diese Menge, deren Dasein Baudelaire nie vergißt, hat ihm zu keinem seiner Werke Modell gestanden. Sie ist aber seinem Schaffen als verborgene Figur eingeprägt, wie sie auch die verborgene Figur des oben zitierten Fragments darstellt. Das Bild des Fechters läßt sich aus ihr entziffern: die Stöße, welche er austeilt, sind bestimmt, ihm durch die Menge den Weg zu bahnen. Freilich sind die faubourgs, durch die der Dichter des »Soleil« sich hindurchschlägt, menschenleer. Aber die geheime Konstellation (in ihr wird die Schönheit der Strophe bis auf den Grund durchsichtig) ist wohl so zu fassen: es ist die Geistermenge der Worte, der Fragmente, der Versanfänge, mit denen der Dichter in den verlassenen Straßenzügen den Kampf um die poetische Beute ausficht.

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      Die Menge – kein Gegenstand ist befugter an die Literaten des neunzehnten Jahrhunderts herangetreten. Sie traf Anstalten, sich in breiten Schichten, denen Lesen geläufig geworden war, als ein Publikum zu formieren. Sie wurde Auftraggeber; sie wollte sich, wie die Stifter auf den Bildern des Mittelalters, im zeitgenössischen Roman wiederfinden. Der erfolgreichste Autor des Jahrhunderts ist diesem Verlangen aus innerer Nötigung nachgekommen. Menge hieß ihm, fast im antiken Sinn, die Menge der Klienten, des Publikums. Hugo spricht als erster die Menge in Titeln an: »Les miserables«, »Les travailleurs de la mer«. Hugo war in Frankreich der einzige, der mit dem Feuilletonroman konkurrieren konnte. Der Meister der Gattung, die für die kleinen Leute Quelle einer Offenbarung zu werden anfing, ist, wie bekannt, Eugène Sue gewesen. Er wurde 1850 mit großer Stimmenmehrheit als Vertreter der Stadt Paris in das Parlament gewählt. Kein Zufall, daß der junge Marx Anlaß fand, mit den »Mystères de Paris« ins Gericht zu gehen. Aus der amorphen Masse, der damals ein schöngeistiger Sozialismus zu schmeicheln suchte, die eherne des Proletariats herauszuschlagen, stand ihm als Aufgabe früh vor Augen. Darum präludiert die Beschreibung, die Engels dieser Masse in seinem Jugendwerk abgewinnt, wie schüchtern immer, einem der Marxschen Themen. In der »Lage der arbeitenden Klasse in England« heißt es: »So eine Stadt wie London, wo man stundenlang wandern kann, ohne auch nur an den Anfang des Endes zu kommen, ohne dem geringsten Zeichen zu begegnen, das auf die Nähe des platten Landes schließen ließe, ist doch ein eigen Ding. Diese kolossale Centralisation, diese Anhäufung von dritthalb Millionen Menschen auf Einem Punkt hat die Kraft dieser dritthalb Millionen verhundertfacht … Aber die Opfer, die … das gekostet hat, entdeckt man erst später. Wenn man sich ein paar Tage lang auf dem Pflaster der Hauptstraßen herumgetrieben … hat, dann merkt man erst, daß diese Londoner das beste Theil ihrer Menschheit aufopfern mußten, um alle die Wunder der Civilisation zu vollbringen, von denen ihre Stadt wimmelt, daß hundert Kräfte, die in ihnen schlummerten, untäthig blieben und unterdrückt wurden … Schon das Straßengewühl hat etwas Widerliches, etwas, wogegen sich die menschliche Natur empört. Diese Hunderttausende von allen Klassen und aus allen Ständen, die sich da an einander vorbeidrängen, sind sie nicht Alle Menschen, mit denselben Eigenschaften und Fähigkeiten, und mit demselben Interesse, glücklich zu werden? … Und doch rennen sie an einander vorüber, als ob sie gar Nichts gemein, gar Nichts mit einander zu thun hätten, und doch ist die einzige Übereinkunft zwischen ihnen die stillschweigende, daß Jeder sich auf der Seite des Trottoirs hält, die ihm rechts liegt, damit die beiden an einander vorbeischießenden Strömungen des Gedränges sich nicht gegenseitig aufhalten; und doch fällt es Keinem ein, die Andern auch nur eines Blickes zu würdigen. Die brutale Gleichgültigkeit, die gefühllose Isolirung jedes Einzelnen


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