Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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Er nennt ihn bald darauf, die Erfahrung des Chocks umschreibend, »ein Kaleidoskop, das mit Bewußtsein versehen ist«1170. Wenn Poes Passanten noch scheinbar grundlos Blicke nach allen Seiten werfen, so müssen die heutigen das tun, um sich über die Verkehrssignale zu orientieren. So unterwarf die Technik das menschliche Sensorium einem Training komplexer Art. Es kam der Tag, da einem neuen und dringlichen Reizbedürfnis der Film entsprach. Im Film kommt die chockförmige Wahrnehmung als formales Prinzip zur Geltung. Was am Fließband den Rhythmus der Produktion bestimmt, liegt beim Film dem der Rezeption zugrunde.

      Nicht umsonst betont Marx, wie sehr beim Handwerk der Zusammenhang der Arbeitsmomente ein flüssiger ist. Dieser Zusammenhang tritt am Fließband dem Fabrikarbeiter verselbständigt als ein dinglicher gegenüber. Unabhängig vom Willen des Arbeiters gelangt das Werkstück in dessen Aktionsradius. Und es entzieht sich ihm ebenso eigenwillig. »Aller kapitalistischen Produktion …«, schreibt Marx, »ist es gemeinsam, daß nicht der Arbeiter die Arbeitsbedingung, sondern umgekehrt die Arbeitsbedingung den Arbeiter anwendet, aber erst mit der Maschinerie erhält diese Verkehrung technisch handgreifliche Wirklichkeit.«1171 Im Umgang mit der Maschine lernen die Arbeiter, ihre »eigne Bewegung der gleichförmig stetigen Bewegung eines Automaten«1172 zu koordinieren. Mit diesen Worten fällt ein eigenes Licht auf die Gleichförmigkeiten absurder Art, mit denen Poe die Menge behaften will. Gleichförmigkeiten der Kleidung und des Benehmens, nicht zuletzt Gleichförmigkeiten des Mienenspiels. Das Lächeln gibt zu denken. Es ist vermutlich das heute im keep smiling geläufige und figuriert dort als mimischer Stoßdämpfer. – »Alle Arbeit an der Maschine erfordert«, heißt es im oben berührten Zusammenhang, »frühzeitige Dressur des Arbeiters.«1173 Von Übung muß diese Dressur unterschieden werden. Übung, im Handwerk allein bestimmend, hatte in der Manufaktur noch Raum. Auf deren Grundlage »findet jeder besondere Produktionszweig in der Erfahrung die ihm entsprechende technische Gestalt; er vervollkommnet sie langsam.« Er kristallisiert sie freilich rasch, »sobald ein gewisser Reifegrad erreicht ist«1174. Aber dieselbe Manufaktur erzeugt andrerseits »in jedem Handwerk, das sie ergreift, eine Klasse sogenannter ungelernter Arbeiter, die der Handwerksbetrieb streng ausschloß. Wenn sie die durchaus vereinseitigte Spezialität auf Kosten des ganzen Arbeitsvermögens zur Virtuosität entwickelt, beginnt sie auch schon den Mangel aller Entwicklung zu einer Spezialität zu machen. Neben die Rangordnung tritt die einfache Scheidung der Arbeiter in gelernte und ungelernte.«1175 Der ungelernte Arbeiter ist der durch die Dressur der Maschine am tiefsten Entwürdigte. Seine Arbeit ist gegen Erfahrung abgedichtet. An ihr hat die Übung ihr Recht verloren1176. Was der Lunapark in seinen Wackeltöpfen und verwandten Amüsements zustande bringt, ist nichts als eine Kostprobe der Dressur, der der ungelernte Arbeiter in der Fabrik unterworfen wird (eine Kostprobe, die ihm zeitweise für das gesamte Programm zu stehen hatte; denn die Kunst des Exzentriks, in der sich der kleine Mann in den Lunaparks konnte schulen lassen, stand zugleich mit der Arbeitslosigkeit hoch im Flor). Poes Text macht den wahren Zusammenhang zwischen Wildheit und Disziplin einsichtig. Seine Passanten benehmen sich so, als wenn sie, angepaßt an die Automaten, nur noch automatisch sich äußern könnten. Ihr Verhalten ist eine Reaktion auf Chocks. »Wenn man sie anstieß, so grüßten sie diejenigen tief, von denen sie ihren Stoß bekommen hatten.«

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      Dem Chockerlebnis, das der Passant in der Menge hat, entspricht das ›Erlebnis‹ des Arbeiters an der Maschinerie. Das erlaubt noch nicht anzunehmen, daß Poe von dem industriellen Arbeitsvorgang einen Begriff besessen hat. Auf alle Fälle ist Baudelaire von einem solchen Begriff weit entfernt gewesen. Er ist aber von einem Vorgang gefesselt worden, in dem der reflektorische Mechanismus, den die Maschine am Arbeiter in Bewegung setzt, am Müßiggänger wie in einem Spiegel sich näher studieren läßt. Diesen Vorgang stellt das Hasardspiel dar. Die Behauptung muß paradox erscheinen. Wo wäre ein Gegensatz glaubhafter etabliert als der zwischen der Arbeit und dem Hasard? Alain schreibt einleuchtend: »Der Begriff … des Spiels … beinhaltet …, daß keine Partie von der vorhergehenden abhängt … Das Spiel will von keiner gesicherten Position wissen … Verdienste, die vorher erworben sind, stellt es nicht in Rechnung, und darin unterscheidet es sich von der Arbeit. Das Spiel macht … mit der gewichtigen Vergangenheit, auf die sich die Arbeit stützt, kurzen Prozeß.«1177 Die Arbeit, die Alain bei diesen Worten im Sinne hat, ist die hochdifferenzierte (die, wie die geistige, gewisse Züge vom Handwerk bewahren dürfte); es ist nicht die der meisten Fabrikarbeiter, am wenigsten die der ungelernten. Zwar fehlt der letzteren der Einschlag des Abenteuers, die Fata Morgana, welche den Spieler lockt. Aber was ihr durchaus nicht abgeht, das ist die Vergeblichkeit, die Leere, das Nicht-vollenden-dürfen, welches vielmehr der Tätigkeit des Lohnarbeiters in der Fabrik innewohnt. Auch dessen vom automatischen Arbeitsgang ausgelöste Gebärde erscheint im Spiel, das nicht ohne den geschwinden Handgriff zustande kommt, welcher den Einsatz macht oder die Karte aufnimmt. Was der Ruck in der Bewegung der Maschinerie, ist im Hasardspiel der sogenannte coup. Der Handgriff des Arbeiters an der Maschine ist gerade dadurch mit dem vorhergehenden ohne Zusammenhang, daß er dessen strikte Wiederholung darstellt. Indem jeder Handgriff an der Maschine gegen den ihm vorauf gegangenen ebenso abgedichtet ist, wie ein coup der Hasardpartie gegen den jeweils letzten, stellt die Fron des Lohnarbeiters auf ihre Weise ein Pendant zu der Fron des Spielers. Beider Arbeit ist von Inhalt gleich sehr befreit.

      Es gibt eine Lithographie von Senefelder, die einen Spielklub darstellt. Nicht einer der auf ihr Abgebildeten geht in der üblichen Weise dem Spiel nach. Jeder ist von seinem Affekt besessen; einer von ausgelassener Freude, ein anderer von Mißtrauen gegen den Partner, ein dritter von dumpfer Verzweiflung, ein vierter von Streitsucht; einer macht Anstalten, um aus der Welt zu gehen. In den mannigfachen Gebarungen ist etwas verborgen Gemeinsames: die aufgebotenen Figuren zeigen, wie der Mechanismus, dem die Spieler im Hasardspiel sich anvertrauen, an Leib und Seele von ihnen Besitz ergreift, so daß sie auch in ihrer privaten Sphäre, wie leidenschaftlich sie immer bewegt sein mögen, nicht mehr anders als reflektorisch fungieren können. Sie benehmen sich wie die Passanten im Poeschen Text. Sie leben ihr Dasein als Automaten und ähneln den fiktiven Figuren Bergsons, die ihr Gedächtnis vollkommen liquidiert haben.

      Es scheint nicht, daß Baudelaire dem Spiel ergeben gewesen ist, wiewohl er für die, die ihm verfallen sind, Worte der Sympathie, ja der Huldigung gefunden hat1178. Das Motiv, das er in dem Nachtstück »Le jeu« behandelt hat, war in seiner Ansicht von der Moderne vorgesehen. Es zu schreiben, bildete einen Teil seiner Aufgabe. Das Bild des Spielers wurde bei Baudelaire das eigentlich moderne Komplement zum archaischen Bild des Fechters. Der eine ist ihm eine heroische Figur wie der andere. Mit Baudelaires Augen hat Börne gesehen, als er geschrieben hat: »Wenn man alle die Kraft und Leidenschaft …, die jährlich in Europa an Spieltischen vergeudet werden … zusammensparte – würde es ausreichen, ein römisches Volk und eine römische Geschichte daraus zu bilden? Aber das ist es eben! Weil jeder Mensch als Römer geboren wird, sucht ihn die bürgerliche Gesellschaft zu entrömern, und darum sind Hasard- und Gesellschaftsspiele, Romane, italienische Opern und elegante Zeitungen … eingeführt.«1179 Im Bürgertum ist das Hasardspiel erst mit dem neunzehnten Jahrhundert heimisch geworden; im achtzehnten spielte nur der Adel. Es war durch die napoleonischen Heere verbreitet worden und gehörte nun »zum Schauspiele des mondänen Lebens und der Tausende ungeregelter Existenzen, die in den Souterrains einer großen Stadt zuhause sind« – dem Schauspiel, in dem Baudelaire das Heroische sehen wollte, »wie es unsere Epoche zu eigen hat«1180.

      Will man den Hasard nicht sowohl in technischer als in psychologischer Hinsicht ins Auge fassen, so erscheint Baudelaires Konzeption noch bedeutungsvoller. Der Spieler geht auf Gewinn aus, das ist einsichtig. Doch wird man sein Bestreben, zu gewinnen und Geld zu machen, nicht einen Wunsch im eigentlichen Sinne des Wortes nennen wollen. Vielleicht erfüllt ihn im Inneren Gier, vielleicht eine finstere Entschlossenheit. Jedenfalls ist er in einer Verfassung, in der er nicht viel Aufhebens von der Erfahrung machen kann1181. Der Wunsch seinerseits gehört dagegen den Ordnungen der Erfahrung an. »Was man sich in der Jugend wünscht, hat man im Alter in Fülle«, heißt es bei Goethe. Je früher im Leben man einen Wunsch tut, desto größere Aussicht hat er, erfüllt zu werden. Je weiter ein Wunsch in die Ferne der Zeit


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