Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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finde. Diese Dinge, die so ganz falsch sind, sind eben darum der Wahrheit unendlich viel näher; dagegen sind unsere meisten Landschafter Lügner, gerade weil sie zu lügen verabsäumen.«1223 Man möchte auf die ›nützliche Illusion‹ weniger Wert legen als auf die ›tragische Konzision‹. Baudelaire dringt auf den Zauber der Ferne; er mißt das Landschaftsbild geradezu am Maßstab von Malereien in Jahrmarktsbuden. Will er den Zauber der Ferne durchstoßen wissen, wie sich das für den Beschauer ereignen muß, der zu nahe an einen Prospekt herantritt? Das Motiv ist in einen der großen Verse der »Fleurs du mal« eingegangen:

      Le Plaisir vaporeux fuira vers l’horizon

       Ainsi qu’une sylphide au fond de la coulisse. 1224

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      Die »Fleurs du mal« sind das letzte lyrische Werk gewesen, das eine europäische Wirkung getan hat; kein späteres ist über einen mehr oder weniger beschränkten Sprachkreis hinausgedrungen. Dem ist zur Seite zu stellen, daß Baudelaire sein produktives Vermögen fast ausschließlich diesem einen Buch zugewandt hat. Und endlich ist nicht von der Hand zu weisen, daß unter seinen Motiven einige, von denen die vorliegende Untersuchung gehandelt hat, die Möglichkeit lyrischer Poesie problematisch machen. Dieser dreifache Tatbestand determiniert Baudelaire geschichtlich. Er zeigt, daß er unbeirrbar zu seiner Sache stand. Unbeirrbar war Baudelaire im Bewußtsein seiner Aufgabe. Das geht so weit, daß er es als sein Ziel »eine Schablone zu kreieren«1225 bezeichnet hat. Er sah darin die Kondition eines jeden künftigen Lyrikers. Von denen, die sich ihr nicht gewachsen zeigten, hielt er wenig. »Trinkt Ihr Kraftbrühen aus Ambrosia? Eßt Ihr Koteletts von Paros? Wieviel gibt man im Leihhaus auf eine Lyra?«1226 Der Lyriker mit der Aureole ist für Baudelaire antiquiert. Er hat ihm seine Stelle als Figurant in einem Prosastück angewiesen, das »Verlust einer Aureole« betitelt ist. Der Text ist erst spät ans Licht gekommen. Bei der ersten Sichtung des Nachlasses wurde er als »zur Publikation nicht geeignet« ausgeschieden. Bis heute blieb er in der Literatur über Baudelaire unbeachtet.

      »›Was sehe ich, mein Lieber! Sie! hier! In einem schlecht beleumundeten Lokal finde ich Sie – den Mann, der Essenzen schlürft, den Mann, der Ambrosia zu sich nimmt! Wirklich! für mich zum Verwundern!‹ – ›Sie wissen, mein Lieber, von der Angst, die mir Pferde und Wagen machen. Eben überquerte ich eilig den Boulevard, und wie ich in diesem bewegten Chaos, wo der Tod von allen Seiten auf einmal im Galopp auf uns zustürmt, eine verkehrte Bewegung mache, löst sich die Aureole von meinem Haupt und fällt in den Schlamm des Asphalts. Ich hatte den Mut nicht, sie aufzuheben. Ich habe mir gesagt, daß es minder empfindlich ist, seine Insignien zu verlieren als sich die Knochen brechen zu lassen. Und schließlich, habe ich mir gesagt, zu irgend etwas ist Unglück immer gut. Ich kann mich jetzt inkognito bewegen, schlechte Handlungen begehen und mich gemein machen wie ein gewöhnlicher Sterblicher. So bin ich, wie Sie sehen, hier, ganz wie Sie!‹ – ›Sie sollten doch den Verlust der Aureole bekanntgeben oder auf dem Fundbüro danach fragen lassen.‹ – ›Ich denke nicht daran! mir ist wohl hier! Nur Sie haben mich erkannt. Außerdem ist Würde mir langweilig. Und dann habe ich Freude an dem Gedanken, daß irgendein schlechter Dichter sie aufheben und keinen Anstand nehmen wird, sich mit ihr herauszuputzen. Einen Glücklichen machen! darüber geht mir nichts! Und vor allem einen Glücklichen, über den ich lache! Stellen Sie sich X. vor oder auch Z. Nein, wird das komisch sein!‹«1227 – Das gleiche Motiv steht in den Tagebüchern; der Schluß weicht ab. Der Dichter hebt die Aureole schnell wieder auf. Nun beunruhigt ihn aber das Gefühl, der Zwischenfall sei von böser Vorbedeutung12281229.

      Der Verfasser dieser Niederschriften ist kein Flaneur. Sie legen ironisch die gleiche Erfahrung nieder, die Baudelaire ohne jedwede Ausstaffierung, im Vorbeigehen dem Satze anvertraut: »Perdu dans ce vilain monde, coudoyé par les foules, je suis comme un homme lassé dont l’œil ne voit en arrière, dans les années profondes, que désabusement et amertume, et, devant lui, qu’un orage où rien de neuf n’est contenu, ni enseignement ni douleur.«1230 Von der Menge mit Stößen bedacht worden zu sein, hebt Baudelaire unter allen Erfahrungen, die sein Leben zu dem gemacht haben, was es geworden ist, als die maßgebende heraus, als die unverwechselbare. Ihm ist der Schein einer in sich bewegten, in sich beseelten Menge, in den der Flaneur vergafft war, ausgegangen. Um sich ihre Niedertracht einzuschärfen, faßt er den Tag ins Auge, an dem sogar die verlorenen Frauen, die Ausgestoßenen, so weit sein werden, einer geordneten Lebensweise das Wort zu reden, über die Libertinage den Stab zu brechen und nichts mehr außer dem Gelde bestehen zu lassen. Verraten von diesen seinen letzten Verbündeten, geht Baudelaire gegen die Menge an; er tut es mit dem ohnmächtigen Zorne dessen, der gegen den Regen oder den Wind angeht. So ist das Erlebnis beschaffen, dem Baudelaire das Gewicht einer Erfahrung gegeben hat. Er hat den Preis bezeichnet, um welchen die Sensation der Moderne zu haben ist: die Zertrümmerung der Aura im Chockerlebnis. Das Einverständnis mit dieser Zertrümmerung ist ihn teuer zu stehen gekommen. Es ist aber das Gesetz seiner Poesie. Sie steht am Himmel des zweiten Kaiserreiches als »ein Gestirn ohne Atmosphäre«1231.

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      〈1〉

      Laforgues Hypothese über Baudelaires Verhalten im Bordell rückt die gesamte psychoanalytische Betrachtung, die er Baudelaire angedeihen laßt, ins rechte Licht. Diese Betrachtung reimt sich Stück für Stück mit der konventionellen »literarhistorischen«⁠〈.〉

      Die besondere Schönheit sovieler baudelairescher Gedichtanfänge ist: das Auftauchen aus dem Abgrunde.

      George hat spleen et idéal mit »Trübsinn und Vergeistigung« übersetzt und damit die wesentliche Bedeutung des Ideals bei Baudelaire getroffen.

      Wenn man sagen kann, daß das moderne Leben bei Baudelaire der Fundus der dialektischen Bilder ist, so ist dabei eingeschlossen die Tatsache, daß Baudelaire dem modernen Leben ähnlich gegenüber stand wie das siebenzehnte Jahrhundert der Antike.

      Will man sich vergegenwärtigen, wie sehr Baudelaire als Dichter eigene Setzungen, eigene Einsichten und eigene Tabus zu respektieren hatte, wie genau umschrieben auf der andern Seite die Aufgaben seiner poetischen Arbeit waren, so kommt ein heroischer Zug in seine Erscheinung.

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      Spleen als Staudamm gegen den Pessimismus. Baudelaire ist kein Pessimist. Er ist es nicht, weil bei ihm ein Tabu auf der Zukunft liegt. Dies ist es, was seinen Heroismus am deutlichsten gegen den von Nietzsche abhebt. Es gibt bei ihm keinerlei Reflexion auf die Zukunft der bürgerlichen Gesellschaft und das ist angesichts des Charakters seiner intimen Aufzeichnungen erstaunlich. An diesem einzigen Umstand ist zu ermessen, wie wenig er für die Fortdauer seines Werkes auf den Effekt rechnete und wie sehr die Struktur der Fleurs du mal eine monadologische ist.

      Die Struktur der Fleurs du mal wird nicht durch irgendwelche ingeniöse Anordnung der einzelnen Gedichte, geschweige durch einen geheimen Schlüssel bestimmt; sie liegt in der unnachsichtlichen Ausschließung jeden lyrischen Themas, das nicht von der eigensten leidvollen Erfahrung Baudelaires geprägt war. Und gerade weil Baudelaire wußte, daß sein Leiden, der spleen, das taedium vitae uralt ist, war er imstande, auf das genaueste die Signatur seiner eigenen Erfahrung an ihm abzuheben. Darf man eine Vermutung aufstellen, so ist es die, daß weniges ihm einen so hohen Begriff von seiner Originalität gegeben haben dürfte wie die Lektüre der römischen Satiriker.

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      Die »Würdigung« oder Apologie ist bestrebt, die revolutionären Momente des Geschichtsverlaufs zu überdecken. Ihr liegt die Herstellung einer Kontinuität am Herzen. Sie legt nur auf diejenigen Elemente des Werks Gewicht, die schon in seine Nachwirkung eingegangen sind. Es entgehen ihr die Schroffen und Zacken, die demjenigen einen


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