Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
zu motivieren« aufrechnet? Wenn man argumentiert, der Tod stehe im »Hamlet« »in absolut gar keiner Beziehung zum Konflikt. Hamlet, der innerlich daran zu Grunde geht, daß er keine andere Lösung des Daseinsproblems finden konnte als die Negierung des Lebens, stirbt an einem vergifteten Rapier! Also an einer durchaus äußerlichen Zufälligkeit … Genau genommen hebt diese einfältige Sterbescene Hamlets die Tragik des Dramas vollkommen auf.«553 So die Ausgeburten einer Kritik, die im Ehrgeiz ihrer philosophischen Informiertheit Versenkung in die Werke eines Genius sich erspart. Der Tod des Hamlet, der mit dem tragischen nicht mehr gemein hat als der Prinz mit Aiax, ist in seiner vehementen Äußerlichkeit fürs Trauerspiel charakteristisch und allein darum seines Meisters schon würdig, weil Hamlet, wie das Gespräch mit Osrik es erkennen läßt, die schicksalsschwere Luft wie Stickstoff in einem tiefen Zuge atmen will. Er will am Zufall sterben und wie die schicksalhaften Requisiten sich um ihn als um ihren Herrn und ihren Kundigen scharen, blitzt in dem Abschluß dieses Trauerspiels das Schicksalsdrarna, als in ihm einbeschlossenes, freilich überwundenes, auf. – Wenn die Tragödie mit Entscheidung – sei’s auch der ungewissesten – sich endet, so liegt im Wesen des Trauerspiels, und seines Todes zumal, ein Appell, wie ihn denn Märtyrer auch formulieren. Sehr gut hat man die Sprache vorshakespearescher Trauerspiele als »blutigen Aktendialog«554 bezeichnet. Man darf wohl den Exkurs in das Juristische noch weiter treiben und im Sinne der mittelalterlichen Klageliteratur von dem Prozeß der Kreatur sprechen, deren Klage gegen den Tod – oder gegen wen sonst sie ergehen mag – am Ende des Trauerspiels halb nur bearbeitet zu den Akten gelegt wird. Die Wiederaufnahme ist im Trauerspiel angelegt und bisweilen aus ihrer Latenz getreten. Dies freilich wieder nur in seiner reichern spanischen Entfaltung. Im »Leben ein Traum« ist die Wiederholung der Hauptsituation ins Zentrum gestellt. – Immer wieder behandeln die Trauerspiele des XVII. Jahrhunderts die gleichen Gegenstände und behandeln sie so, wie sie sich wiederholen können, ja müssen. Aus der stets gleichen theoretischen Befangenheit hat man das verkannt und Lohenstein »eigentümliche Irrtümer« über das Tragische nachweisen wollen, »wie der ist, daß der tragische Effekt der Handlung verstärkt werde, wenn diese selbst durch Zusatz ähnlicher Ereignisse in ihrem Umfange vermehrt wird. Denn statt mit Zuspitzung neuer wichtiger Vorfälle den Gang plastisch umzugestalten, zieht es Lohenstein vor seine Hauptmomente mit willkührlichen Arabesken, welche den alten gleichen, zu zieren, als ob eine Statue an Schönheit gewänne, wenn man die kunstvollsten Glieder an ihr im Marmor verdoppelt!«555 – Die Aktzahl dieser Dramen sollte nicht, wie es in Anlehnung an die der griechischen der Fall war, ungerade sein; viel mehr im Sinn des wiederholbaren Geschehens, das sie schildern, liegt die gerade. Im »Leo Armenius« zumindest ist die Handlung mit dem vierten Akte zu Ende. Mit der Emanzipation vom Schema der drei und der fünf Akte führt die moderne Dramatik eine Tendenz des Barock zum Siege.556
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Trauerspiel und Tragödie
(Dritter Teil)
Ich sitz/ ich lieg/ ich steh/ ist alles in Gedancken.
Ich finde nirgends Ruh/ muß selber mit mir zancken/
Andreas Tscherning: Melancholey Redet selber557
Die großen deutschen Dramatiker des Barock waren Lutheraner. Während in den Jahrzehnten der gegenreformatorischen Restauration der Katholizismus mit der gesammelten Macht seiner Disziplin das profane Leben durchdrang, hatte von jeher das Luthertum antinomisch zum Alltag gestanden. Der rigorosen Sittlichkeit der bürgerlichen Lebensführung, die es lehrte, stand seine Abkehr von den ›guten Werken‹ gegenüber. Indem es die besondere, geistliche Wunderwirkung diesen absprach, die Seele auf die Gnade des Glaubens verwies und weltlich-staatlichen Bereich zur Probstatt eines religiös nur mittelbaren, zum Ausweis bürgerlicher Tugenden bestimmten Lebens machte, hat es im Volke zwar den strengen Pflichtgehorsam angesiedelt, in seinen Großen aber den Trübsinn. Schon bei Luther selbst, dessen letzte zwei Lebensjahrzehnte von steigender Seelenbeladenheit erfüllt sind, meldet sich ein Rückschlag auf den Sturm gegen das Werk. Ihn freilich trug noch der ›Glaube‹ darüber hin, aber der verhinderte nicht, daß das Leben schal ward. »Was ist der Mensch, | Wenn seiner Zeit Gewinn, sein höchstes Gut | Nur Schlaf und Essen ist? Ein Vieh, nichts weiter, | Gewiß, der uns mit solcher Denkkraft schuf | Voraus zu schaun und rückwärts, gab uns nicht | Die Fähigkeit und göttliche Vernunft, | Um ungebraucht in uns zu schimmeln«558 – dies, Hamlets, Wort ist wittenbergische Philosophie und ist: Aufruhr dagegen. Ein Stück germanischen Heidentums und finsteren Glaubens an die Schicksalsverfallenheit sprach sich in jener überladnen Reaktion aus, die zuletzt das gute Werk schlechthin, nicht seinen Verdienst- und Bußcharakter allein, aus dem Felde schlug. Jeder Wert war den menschlichen Handlungen genommen. Etwas Neues entstand: eine leere Welt. Der Calvinismus – wie düster er war – begriff diese Unmöglichkeit und korrigierte sie in etwas. Der lutherische Glaube sah mit Argwohn auf diese Verflachung und widersetzte sich ihr. Welchen Sinn hatte das Menschenleben, wenn nicht einmal, wie im Calvinismus, der Glaube bewährt werden mußte? Wenn er einerseits nackt, absolut, wirksam war, andererseits die Menschenhandlungen sich nicht unterschieden? Man hatte keine Antwort, es sei denn in der Moral der kleinen Leute – ›Treue im Kleinen‹, ›rechtschaffen leben‹ – die damals heranwuchs und der das taedium vitae der reichen Naturen sich gegenüberstellte. Denn die tiefer Schürfenden sahen sich in das Dasein als in ein Trümmerfeld halber, unechter Handlungen hineingestellt. Dagegen schlug das Leben selbst aus. Tief empfindet es, daß es dazu nicht da ist, um durch den Glauben bloß entwertet zu werden. Tief erfaßt es ein Grauen bei dem Gedanken, so könne sich das ganze Dasein abspielen. Tief entsetzt es sich vor dem Gedanken an Tod. Trauer ist die Gesinnung, in der das Gefühl die entleerte Welt maskenhaft neubelebt, um ein rätselhaftes Genügen an ihrem Anblick zu haben. Jedes Gefühl ist gebunden an einen apriorischen Gegenstand und dessen Darstellung ist seine Phänomenologie. Die Theorie der Trauer, wie sie als Pendant zu der von der Tragödie absehbar sich zeigte, ist demnach nur in der Beschreibung jener Welt, die unterm Blick des Melancholischen sich auftut, zu entrollen. Denn die Gefühle, wie vage immer sie der Selbstwahrnehmung scheinen mögen, erwidern als motorisches Gebaren einem gegenständlichen Aufbau der Welt. Wenn für das Trauerspiel im Herzen der Trauer die Gesetze, entfaltet teils, teils unentfaltet, sich finden, so ist es weder der Gefühlszustand des Dichters noch des Publikums, dem ihre Darstellung sich widmet, vielmehr ein vom empirischen Subjekt gelöstes und innig an die Fülle eines Gegenstands gebundenes Fühlen. Eine motorische Attitüde, die in der Hierarchie der Intentionen ihren wohlbestimmten Ort hat und Gefühl nur darum heißt, weil es nicht der höchste ist. Bestimmt wird er durch die erstaunliche Beharrlichkeit der Intention, die unter den Gefühlen außer diesem vielleicht – und das nicht spielweis – nur der Liebe eignet. Denn während im Bereiche der Affektivität nicht selten Anziehung mit der Entfremdung in dem Verhältnis einer Intention zum Gegenstande alterniert, ist Trauer zur besondern Steigerung, kontinuierlichen Vertiefung ihrer Intention befähigt. Tiefsinn eignet vor allem dem Traurigen. Auf der Straße zum Gegenstande – nein: auf der Bahn im Gegenstande selbst – progrediert diese Intention so langsam und feierlich wie die Aufzüge der Machthaber sich bewegen. Der leidenschaftliche Anteil am Prunke der Haupt- und Staatsaktionen, ein Ausbruch aus den Schranken frommer Häuslichkeit zum einen Teil, entsprang zu einem andern jener Neigung, mit welcher Tiefsinn sich zur Gravität gezogen fühlt. In ihr erkennt er seinen eigenen Rhythmus wieder. Die Verwandtschaft von Trauer und Ostentation, wie sie so großartig von den Sprachbildungen des Barock belegt wird, hat hierin eine ihrer Wurzeln; nicht minder die Versunkenheit, der diese großen Konstellationen der Weltchronik als ein Spiel vor Augen stehen, das Anschaun zwar um der Bedeutung willen lohnen mag, die zuverlässig sich darin enträtseln läßt, dessen unabsehbare Wiederholung aber die Lebensunlust melancholischen Geblütes zur trostlosen Herrschaft befördert. Selbst dem Erbe der Renaissance gewann das Zeitalter die Stoffe ab, die den kontemplativen Starrkrampf vertiefen mußten. Von der stoischen ἀπάϑεια zur Trauer ist es nur ein Schritt, möglich freilich erst im Raume des Christentums. Pseudoantik wie alles Antikische des Barock erweist sich auch seine Stoik. Für sie fällt eine Rezeption des rationalen Pessimismus viel weniger ins Gewicht als die Verödung, der die stoische Praxis den Menschen entgegenführt. Die Ertötung der Affekte, mit der die Lebenswellen verebben, aus denen sie sich im Leibe erheben, vermag die Distanz von der Umwelt bis zur Entfremdung