Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
der Sippe des barocken Trauerspiels, den Haupt- und Staatsaktionen, dem Drama der Stürmer und Dränger, der Schicksalstragödie mit einer Sprödigkeit, die nicht sowohl im Unverständnis denn in einer Animosität, deren Gegenstand erst mit den metaphysischen Fermenten dieser Form zutage tritt, ihren Grund hat. Unter den Genannten scheint diese Sprödigkeit, ja die Verachtung mit mehr Recht keins zu treffen als das Schicksalsdrama. Sie ist im Recht, geht man von dem Niveau gewisser späterer Produkte dieser Gattung aus. Die hergebrachte Argumentation stützt sich jedoch aufs Schema dieser Dramen, nicht auf die brüchige Faktur von Einzelheiten. Und da ist denn ein Eingehen auf sie deswegen unerläßlich, weil dies Schema, so wie das obenhin schon anzudeuten war, dem des barocken Trauerspiels so nah verwandt ist, daß es als seine Spielart muß begriffen werden. Zumal im Werke Calderons tritt es als solche sehr deutlich und bedeutend an den Tag. Unmöglich, diese blühende Provinz des Dramas mit Klagen über die vermeintliche Beschränktheit ihres Herrschers zu umgehen, wie Volkelts Theorie des Tragischen mit einer grundsätzlichen Verleugnung aller echten Probleme ihres Gegenstandsbereiches das versucht. »Man« dürfe »nie vergessen«, meint er, »daß dieser Dichter unter dem Drucke eines stockkatholischen Glaubens und eines widersinnig gesteigerten Ehrbegriffes«530 gestanden habe. Dergleichen Divagationen begegnet schon Goethe: »Man gedenke Shakespeares und Calderons! Vor dem höchsten ästhetischen Richterstuhle bestehn sie untadelig, und wenn irgend ein verständiger Sonderer, wegen gewisser Stellen, hartnäckig gegen sie klagen sollte, so würden sie ein Bild jener Nation, jener Zeit, für welche sie gearbeitet, lächelnd vorweisen und nicht etwa dadurch bloß Nachsicht erwerben, sondern deshalb, weil sie sich so glücklich bequemen konnten, neue Lorbeern verdienen.«531 Also nicht um seine Bedingtheit ihm nachzusehen sondern die Art seiner Unbedingtheit erfassen zu lernen, fordert Goethe zum Studium des Spaniers auf. Diese Rücksicht ist für die Einsicht ins Schicksalsdrama geradezu ausschlaggebend. Denn Schicksal ist kein rein natürliches Geschehn – sowenig als ein rein historisches. Schicksal, wie immer sonst es heidnisch, mythologisch sich verkleiden mag, ist sinnerfüllt nur als naturgeschichtliche Kategorie im Geiste der Restaurationstheologie der Gegenreformation. Es ist die elementare Naturgewalt im historischen Geschehen, das selber nicht durchaus Natur ist, weil noch der Schöpfungsstand die Gnadensonne widerstrahlt. Gespiegelt aber in dem Pfuhl der adamitischen Verschuldung. Denn nicht der unentrinnbare Kausalzusammenhang an sich ist schicksalhaft. Es wird, so oft man es auch wiederholen mag, niemals wahr werden, daß dem Dramatiker die Aufgabe zufiele, ein Geschehen als eines, das kausalnotwendig wäre, auf dem Theater zu entwickeln. Wie sollte auch die Kunst einer These Nachdruck verleihen, die zu vertreten das Anliegen des Determinismus ist? Wenn philosophische Bestimmungen ins Kunstwerk eingehn, so sind es solche, die den Sinn des Daseins meinen, und Lehren über die naturgesetzliche Faktizität des Weltlaufs, ob sie ihn auch in der Totalität betreffen, bleiben belanglos. Die Anschauung des Determinismus kann keine Kunstform bestimmen. Anders der echte Schicksalsgedanke, dessen entscheidendes Motiv in einem ewigen Sinn solcher Determiniertheit zu suchen wäre. Von ihm aus braucht sie keineswegs sich nach Naturgesetzen zu vollziehen; ebensowohl vermag ein Wunder diesen Sinn zu weisen. Nicht in der faktischen Unentrinnbarkeit ist er gelegen. Kern des Schicksalsgedankens ist vielmehr die Überzeugung, daß Schuld, als welche in diesem Zusammenhang stets kreatürliche Schuld – christlich: die Erbsünde –, nicht sittliche Verfehlung des Handelnden ist, durch eine wie auch immer flüchtige Manifestierung Kausalität als Instrument der unaufhaltsam sich entrollenden Fatalitäten auslöst. Schicksal ist die Entelechie des Geschehens im Felde der Schuld. Durch solch ein isoliertes Kraftfeld ist es ausgezeichnet, in welchem alles Angelegte und Gelegentliche so sich steigert, daß die Verwicklungen, der Ehre etwa, durch ihre paradoxe Heftigkeit verraten: ein Schicksal hat dies Spiel galvanisiert. Wenn einer meinen würde: »Wo uns unwahrscheinliche Zufälle, ausgeklügelte Lagen, allzu verzwickte Intrigen … entgegentreten, dort ist es mit dem Eindruck des Schicksalsmäßigen … vorbei«,532 so wäre das grundfalsch. Denn gerade die entlegenen Kombinationen, die da nichts weniger als natürlich sind, entsprechen den verschiedenen Schicksalen in den verschiedenen Feldern des Geschehens. Der deutschen Schicksalstragödie freilich fehlte ein Feld solcher Ideen wie Darstellung von Schicksal es erfordert. Die theologische Intention eines Werner konnte den Mangel einer heidnisch-katholischen Konvention, welche bei Calderon kleine Komplexe des Lebens der Wirksamkeit eines astralen oder magischen Schicksals darleiht, nicht ersetzen. Im Drama des Spaniers dagegen entfaltet das Schicksal sich als Elementargeist der Geschichte und es ist logisch, daß allein der König, der große Restaurator der aufgestörten Schöpfungsordnung, es zu schlichten vermag. Astrales Schicksal – souveräne Majestät, das sind die Pole Calderonscher Welt. Das deutsche Trauerspiel des Barock dagegen kennzeichnet sich durch seine große Armut nichtchristlicher Vorstellungen. Daher – fast wäre man versucht zu sagen: nur daher – vermochte es zum Schicksalsdrama nicht zu kommen. Insbesondere fällt auf, wie sehr die ehrbare Christlichkeit Astrologisches verdrängte. Wenn Lohensteins Masinissa bemerkt: »Des Himmels Reitzungen kan niemand überwinden«533 oder wenn die »Vereinbarung der Sterne und der Gemüther« eine Berufung auf ägyptische Lehren über die Abhängigkeit der Natur vom Gestirnlauf bringt,534 so bleibt das vereinzelt und ideologisch. Dagegen hat das Mittelalter – ein Gegenstück zum Fehlgriff neuerer Kritik, die das Schicksalsdrama unter den Gesichtspunkt des Tragischen stellt – das astrologische Verhängnis in der griechischen Tragödie gesucht. Sie wird von Hildebert von Tours im XI. Jahrhundert »bereits ganz im Sinne der Fratze beurteilt, die die moderne Auffassung in der ›Schicksalstragödie‹ daraus gemacht hat. Nämlich im grob mechanischen, oder wie man es damals nach dem durchschnittlichen Bilde der antik heidnischen Weltanschauung faßte: im astrologischen Verstande. Hildebert bezeichnet seine (leider unvollendete) ganz selbständig freie Bearbeitung des Oedipusproblems als ›liber mathematicus‹.«535
Schicksal rollt dem Tode zu. Er ist nicht Strafe sondern Sühne, ein Ausdruck der Verfallenheit des verschuldeten Lebens an das Gesetz des natürlichen. Im Schicksal und im Schicksalsdrama ist die Schuld zu Hause, um die man oft die Theorie des Tragischen gruppierte. Diese Schuld, die nach den alten Satzungen von außen durch das Unglück den Menschen zuwachsen sollte, nimmt im Verlauf des tragischen Geschehns ein Held auf sich und in sein Inneres. Indem er im Selbstbewußtsein sie reflektiert, entwächst er ihrer dämonischen Botmäßigkeit. Wenn »Bewußtheit ihrer Schicksalsdialektik« bei tragischen Helden gesucht, »mystischer Rationalismus« in den tragischen Reflexionen gefunden wurde,536, so ist vielleicht – doch der Zusammenhang läßt es bezweifeln und macht die Worte äußerst problematisch – die neue, die tragische Schuld des Helden gemeint. Paradox wie alle Manifestationen der tragischen Ordnung besteht sie nur im stolzen Schuldbewußtsein, in dem der Heldenhafte der ihm angesonnenen Verknechtung des ›Unschuldigen‹ unter die dämonische Schuld entwächst. Im Sinne des tragischen Helden und in diesem allein gilt, was Lukács ausführt: »Von außen gesehen gibt es keine Schuld, kann es keine geben; jeder sieht die Schuld des anderen als Verstrickung und Zufall an, als etwas, das jedes kleinste Anders-gewesen-sein eines Windhauches anders hätte gestalten können. Durch die Schuld aber sagt der Mensch Ja zu allem, was ihm geschehen ist … Die hohen Menschen … lassen nichts los, das einmal ihrem Leben gehört hat: darum haben sie die Tragödie als ihr Vorrecht.«537 Hegels berühmter Satz ist damit variiert: »Es ist die Ehre der großen Charaktere, schuldig zu sein.« Immer ist dies die Schuld der durch die Tat nicht, durch den Willen Schuldigen, während im Felde des dämonischen Schicksals nichts als der Akt es ist, dessen hämischer Zufall Schuldlose in den Abgrund allgemeiner Schuld hinabreißt.538 Der alte Fluch, der über Geschlechter hin sich erbte, wird in der tragischen Poesie zum innern, selbstgefundenen Gut der heldischen Person. Und so erlischt er. Dagegen wirkt er sich im Schicksalsdrama aus und dergestalt, in einer Unterscheidung der Tragödie von dem Trauerspiel, erhellt sich die Bemerkung, daß das »Tragische nur wie ein unsteter Geist zwischen den Personen der blutigen ›Tragödien‹ hin und her«539 zu ziehn pflege. »Das Subjekt des Schicksals ist unbestimmbar.«540 Daher kennt das Trauerspiel keinen Helden sondern nur Konstellationen. Die Mehrheit der Hauptpersonen, wie sie in so vielen barocken Dramen – Leo und Baibus im »Leo Armenius«, Catharina und Chach Abas in der »Catharina von Georgien«, Cardenio und Celinde im gleichnamigen Drama, Nero und Agrippina, Masinissa und Sophonisbe bei Lohenstein – begegnet, ist untragisch, dem traurigen Schauspiele aber angemessen.
Ausgeteilt ist das Verhängnis nicht allein unter