Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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den Zuschauern mitteilt als in seinen Personen zur Schau stellt. Unter ihnen vollzieht er sich in der sprachlosen Konkurrenz des Agon. Die Unmündigkeit des tragischen Helden, welche die Hauptfigur der griechischen Tragödie gegen jeden späteren Typus abhebt, hat die Analyse des ›metaethischen Menschen‹ durch Franz Rosenzweig zu einem Grundstein der Tragödienlehre gemacht. »Denn das ist das Merkzeichen des Selbst, das Siegel seiner Größe wie auch das Mal seiner Schwäche: es schweigt. Der tragische Held hat nur eine Sprache, die ihm vollkommen entspricht: eben das Schweigen. So ist es von Anfang an. Das Tragische hat sich gerade deshalb die Kunstform des Dramas geschaffen, um das Schweigen darstellen zu können … Indem der Held schweigt, bricht er die Brücken, die ihn mit Gott und Welt verbinden, ab und erhebt sich aus den Gefilden der Persönlichkeit, die sich redend gegen andre abgrenzt und individualisiert, in die eisige Einsamkeit des Selbst. Das Selbst weiß ja von nichts außer sich, es ist einsam schlechthin. Wie soll es diese seine Einsamkeit, dieses starre Trotzen in sich selbst, anders betätigen als eben indem es schweigt? Und so tut es in der äschyleischen Tragödie, wie schon den Zeitgenossen auffiel.«485 Das tragische Schweigen, wie diese Worte es bedeutungsvoll vorstellen, darf doch vom Trotz allein nicht beherrscht gedacht werden. Dieser Trotz bildet vielmehr in der Erfahrung der Sprachlosigkeit ebenso sich heran, wie sie an ihm sich bestärkt. Der Gehalt der Heroenwerke gehört der Gemeinschaft wie die Sprache. Da die Volksgemeinschaft ihn verleugnet, so bleibt er sprachlos im Helden. Und der muß jedes Tun und jedes Wissen je größer, je weiter hinaus wirkend es wäre desto gewaltsamer in die Grenzen seines physischen Selbst förmlich einschließen. Nur seiner Physis, nicht der Sprache dankt er, wenn er zu seiner Sache halten kann und daher muß er es im Tode tun. Den gleichen Zusammenhang visiert Lukács, wenn er in der Darstellung der tragischen Entscheidung bemerkt: »Das Wesen dieser großen Augenblicke des Lebens ist das reine Erlebnis der Selbstheit.«486 Deutlicher bekundet eine Stelle bei Nietzsche es, daß der Sachverhalt des tragischen Schweigens ihm nicht entgangen ist. Ohne daß er dessen Bedeutung als Phänomen des Agonalen in dem tragischen Bereich vermutet hätte, berührt seine Konfrontation von Bild und Rede ihn genau. Die tragischen »Helden sprechen gewissermaßen oberflächlicher als sie handeln; der Mythus findet in dem gesprochnen Wort durchaus nicht seine adäquate Objectivation. Das Gefüge der Scenen und die anschaulichen Bilder offenbaren eine tiefere Weisheit, als der Dichter selbst in Worte und Begriffe fassen kann.«487 Schwerlich freilich handelt es sich dabei, wie Nietzsche weiterhin meint, um ein Mißlungensein. Je weiter das tragische Wort hinter der Situation zurückbleibt – die tragisch nicht mehr heißen darf, wo es sie erreicht – desto mehr ist der Held den alten Satzungen entronnen, denen er, wo sie am Ende ihn ereilen, nur den stummen Schatten seines Wesens, jenes Selbst als Opfer hinwirft; während die Seele ins Wort einer fernen Gemeinschaft hinübergerettet ist. Der tragischen Darstellung der Sage wuchs daraus unerschöpfliche Aktualität zu. Im Angesicht des leidenden Helden lernt die Gemeinde den ehrfürchtigen Dank für das Wort, mit dem dessen Tod sie begabte – ein Wort, das mit jeder neuen Wendung, die der Dichter der Sage abgewann, an anderer Stelle als erneuertes Geschenk aufleuchtete. Das tragische Schweigen weit mehr noch als das tragische Pathos wurde zum Hort einer Erfahrung vom Erhabnen des sprachlichen Ausdrucks, die soviel intensiver im antiken Schrifttum zu leben pflegt als in dem späteren. – Die griechische, die entscheidende Auseinandersetzung mit der dämonischen Weltordnung gibt auch der tragischen Dichtung ihre geschichtsphilosophische Signatur. Das Tragische verhält sich zum Dämonischen wie das Paradoxon zur Zweideutigkeit. In allen Paradoxien der Tragödie – im Opfer, das, alter Satzung willfahrend, neue stiftet, im Tod, der Sühne ist und doch das Selbst nur hinrafft, im Ende, das den Sieg dem Menschen dekretiert und dem Gotte auch – ist die Zweideutigkeit, das Stigma der Dämonen, im Absterben. Überall ist, wie schwach auch immer, der Akzent gesetzt. So auch im Schweigen des Helden, das Verantwortung weder findet noch sucht und dergestalt den Verdacht auf die Instanz der Verfolger zurückwirft. Denn seine Bedeutung schlägt um: nicht die Betroffenheit des Angeschuldigten, sondern das Zeugnis sprachlosen Leidens erscheint in den Schranken und die Tragödie, die da gewidmet schien dem Gerichte über den Helden, wandelt sich zur Verhandlung über die Olympischen, bei der jener den Zeugen abgibt und wider Willen der Götter »die Ehre Des Halbgotts«488 kundmacht. Der tiefe aischyleische Zug nach Gerechtigkeit489 beseelt die widerolympische Prophetie aller tragischen Dichtung. »Nicht das Recht, sondern die Tragödie war es, in der das Haupt des Genius aus dem Nebel der Schuld sich zum ersten Male erhob, denn in der Tragödie wird das dämonische Schicksal durchbrochen. Nicht aber, indem die heidnisch unabsehbare Verkettung von Schuld und Sühne durch die Reinheit des entsühnten und mit dem reinen Gott versöhnten Menschen abgelöst würde. Sondern in der Tragödie besinnt sich der heidnische Mensch, daß er besser ist als seine Götter, aber diese Erkenntnis verschlägt ihm die Sprache, sie bleibt dumpf. Ohne sich zu bekennen sucht sie heimlich ihre Gewalt zu sammeln … Es ist gar keine Rede davon, daß die ›sittliche Weltordnung‹ wieder hergestellt werde, sondern es will der moralische Mensch noch stumm, noch unmündig – als solcher heißt er der Held – im Erbeben jener qualvollen Welt sich aufrichten. Das Paradoxon der Geburt des Genius in moralischer Sprachlosigkeit, moralischer Infantilität ist das Erhabene der Tragödie.«490

      Daß nicht in Rang und Abkunft der Personen sich das Erhabne des Gehalts erklärt – dieser Hinweis würde sich erübrigen, wenn nicht merkwürdige Spekulationen und naheliegende Verwechslungen sich an das Königtum so vieler Helden angeschlossen hätten. Sie beide meinen diesen Stand an und für sich und im modernen Sinne. Aber nichts ist einleuchtender, als daß er ein akzidentelles Moment ist, herrührend aus dem Sachbestand der Überlieferung, die den Grund der tragischen Dichtung abgibt. Gruppiert doch diese in der Urzeit sich um Herrscher, derart, daß königliche Abkunft der dramatischen Person den Ursprung im Heroenalter anweist. Und nur darin ist diese Abkunft belangvoll, darin freilich entscheidend. Denn die Schroffheit des heroischen Selbst – die kein Charakterzug, sondern geschichtsphilosophische Signatur des Helden ist – entspricht derjenigen seines herrschaftlichen Standorts. Diesem einfachen Tatbestand gegenüber erscheint die Auslegung des tragischen Königtums durch Schopenhauer als eine jener Nivellierungen ins Allgemeinmenschliche, welche die Wesensverschiedenheit von antiker und moderner Dramatik unkenntlich machen. »Die Griechen nahmen zu Helden des Trauerspiels durchgängig königliche Personen; die Neuern meistentheils auch. Gewiß nicht, weil der Rang dem Handelnden oder Leidenden mehr Würde giebt: und da es bloß darauf ankommt, menschliche Leidenschaften ins Spiel zu setzen; so ist der relative Werth der Objekte, wodurch dies geschieht, gleichgültig, und Bauerhöfe leisten so viel, wie Königreiche … Personen von großer Macht und Ansehn sind jedoch deswegen zum Trauerspiel die geeignetesten, weil das Unglück, an welchem wir das Schicksal des Menschenlebens erkennen sollen, eine hinreichende Größe haben muß, um dem Zuschauer, wer er auch sei, als furchtbar zu erscheinen … Nun aber sind die Umstände, welche eine Bürgerfamilie in Noth und Verzweiflung versetzen, in den Augen der Großen oder Reichen meistens sehr geringfügig und durch menschliche Hilfe, ja bisweilen durch eine Kleinigkeit, zu beseitigen: solche Zuschauer können daher von ihnen nicht tragisch erschüttert werden. Hingegen sind die Unglücksfälle der Großen und Mächtigen unbedingt furchtbar, auch keiner Abhülfe von außen zugänglich; da Könige durch ihre eigene Macht sich helfen müssen, oder untergehen. Dazu kommt, daß von der Höhe der Fall am tieffsten ist. Den bürgerlichen Personen fehlt es demnach an Fallhöhe.«491 Was hier als Standeswürde der tragischen Person begründet – in einer geradezu barocken Weise aus den unseligen Vorfällen der ›Tragödie‹ begründet – wird, hat mit dem Rang der zeitentrückten Heroengestalten nichts zu schaffen; wohl aber hat der Fürstenstand für das moderne Trauerspiel die exemplarische und weit präzisere Bedeutung, welcher ihres Ortes gedacht wurde. Was Trauerspiel und griechische Tragödie in dieser täuschenden Verwandtschaft trennt, hat noch die jüngste Forschung nicht bemerkt. Und unfreiwillig wirkt es höchst ironisch, wenn zu Schillers tragischen Versuchen in der »Braut von Messina«, welche dank der romantischen Haltung so vehement ins Trauerspiel umschlagen mußten, Borinski, weil er Schopenhauer folgt, mit Rücksicht auf die nachhaltig vom Chor betonte Standeshöhe der Personen meint: »Wie recht hatte doch die Renaissancepoetik – nicht im ›pedantischen‹, sondern im lebendig menschlichen Geiste – an den ›Königen und Heroen‹ der antiken Tragödie peinlich festzuhalten.«492

      Schopenhauer hat die Tragödie als Trauerspiel aufgefaßt; unter den großen deutschen Metaphysikern


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