Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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Gegensatz von Publicum und Chor gab: denn alles ist nur ein großer erhabener Chor von tanzenden und singenden Satyrn oder von solchen, welche sich durch diese Satyrn repräsentiren lassen … Der Satyrchor ist zu allererst eine Vision der dionysischen Masse« – d. i. der Zuschauer – »wie wiederum die Welt der Bühne eine Vision dieses Satyrchors ist.«475 Solch extreme Betonung des apollinischen Scheins, eine Voraussetzung der ästhetischen Auflösung der Tragödie, ist unhaltbar. Philologisch »fehlt … für den tragischen chor im cultus jede anknüpfung«.476 Und: der Ekstatiker, sei es die Masse, sei’s ein Einzelner, ist wenn nicht starr, so nur in leidenschaftlichster Aktion zu denken; den Chor, der da gemessen und erwägend eingreift, zugleich als Subjekt der Visionen anzusetzen ist unmöglich, von einem Chor, der, selber die Erscheinung einer Masse, ein Träger weiterer Visionen würde, ganz zu schweigen. Vor allem sind die Chöre und das Publikum durchaus nicht Einheit. Das wird, soweit der Abgrund zwischen beiden, die Orchestra, durch ihr Vorhandensein es nicht belegt, zu sagen bleiben.

      Nietzsches Untersuchung hat von der epigonalen Tragödientheorie sich abgekehrt ohne sie zu widerlegen. Denn mit ihrem Kernstück, der Lehre von tragischer Schuld und tragischer Sühne sich auseinanderzusetzen, fand er keine Veranlassung, weil er allzu bereitwillig das Feld moralischer Debatten ihr preisgab. Indem er eine solche Kritik verabsäumte, blieb ihm der Zugang zu den geschichts- oder religionsphilosophischen Begriffen, in denen zuletzt die Entscheidung über das Wesen der Tragödie sich ausprägt, verschlossen. Wo immer die Erörterung einsetzt, kann sie ein Vorurteil nicht schonen, das wie es scheint unangefochten steht. Es ist die Annahme, Handlungen und Verhaltungsweisen, die bei erdichteten Personen begegnen, seien für die Erörterung moralischer Probleme so zu nutzen wie das Phantom für anatomische Belehrung. Dem Kunstwerk, das man so leichthin sonst als naturgetreue Wiedergabe kaum zu fassen wagt, traut man bedenkenlos die exemplarische Kopie moralischer Phänomene zu, ohne die Frage nach deren Abbildbarkeit auch nur aufzuwerfen. Es steht dabei durchaus nicht die Bedeutung moralischer Sachverhalte für die Kritik eines Kunstwerks, sondern ein anderes, ein doppeltes vielmehr, in Frage. Eignet den Handlungen, Verhaltungsweisen, wie sie ein Kunstwerk darstellt, moralische Bedeutung als den Abbildern der Wirklichkeit? Und: Sind es moralische Einsichten, als in denen zuletzt der Gehalt eines Werks adäquat zu erfassen ist? Die Bejahung – vielmehr die Ignorierung – dieser beiden Fragen verleiht der landläufigen Interpretation und Theorie des Tragischen so wie nichts anderes ihr Gepräge. Und eben die Verneinung dieser Fragen ist’s, mit der sich die Notwendigkeit erschließt, den moralischen Gehalt tragischer Poesie nicht als ihr letztes Wort, sondern als Moment ihres integralen Wahrheitsgehaltes zu fassen: nämlich geschichtsphilosophisch. Gewiß ist die Negierung jener ersten Frage um soviel eher in anderen Zusammenhängen zu begründen als die der zweiten Angelegenheit vorwiegend einer Kunstphilosophie. Doch soviel leuchtet auch für jene ein: Erdichtete Personen existieren nur in der Dichtung. Sie sind wie Gobelinsüjets in ihren Webgrund ins Ganze ihrer Dichtung so verwoben, daß sie als Einzelne aus ihr auf keine Weise können ausgehoben werden. Die menschliche Gestalt der Dichtung, ja der Kunst schlechtweg, steht darin anders als die wirkliche, an der die in so vieler Hinsicht nur scheinbare Isolierung des Leibes wahrnehmungsmäßig gerade als der Ausdruck moralischer Vereinsamung mit Gott ihren untrügerischen Gehalt hat. ›Du sollst dir kein Bildnis machen‹ – das gilt nicht der Abwehr des Götzendienstes allein. Mit unvergleichlichem Nachdruck beugt das Verbot der Darstellung des Leibs dem Anschein vor, es sei die Sphäre abzubilden, in der das moralische Wesen des Menschen wahrnehmbar ist. Alles Moralische ist gebunden ans Leben in seinem drastischen Sinn, dort nämlich, wo es im Tode als Stätte der Gefahr schlechtweg sich innehat. Und dieses Leben, welches uns moralisch, das heißt in unserer Einzigkeit, betrifft, erscheint vom Standpunkt jeder Kunstgestaltung aus als negativ oder sollte doch so erscheinen. Denn ihrerseits kann Kunst in keinem Sinn es zugestehn, sich zum Gewissensrat in ihren Werken promoviert und das Dargestellte statt der Darstellung selbst beachtet zu sehen. Der Wahrheitsgehalt dieses Ganzen, der niemals in dem abgezogenen Lehrsatz, geschweige im moralischen, sondern allein in der kritischen, kommentierten Entfaltung des Werkes selbst begegnet,477 schließt gerade moralische Verweise nur höchst vermittelt ein.478 Wo sie als Pointe der Untersuchung sich vordrängen, wie es die Tragödienkritik des deutschen Idealismus kennzeichnet – wie typisch ist nicht Solgers Sophoklesabhandlung479 –, da hat das Denken von der sehr viel edleren Mühe, den geschichtsphilosophischen Standort eines Werkes oder einer Form zu erkunden, um den billigen Preis einer Reflexion sich losgekauft, die uneigentlich und darum nichtssagender ist als jede noch so philiströse sittliche Doktrin. Jene Mühe hat für die Tragödie eine sichere Lenkung in der Betrachtung von ihrem Verhältnis zur Sage.

      Wilamowitz definiert: »eine attische tragödie ist ein in sich abgeschlossenes stück der heldensage, poetisch bearbeitet in erhabenem stile für die darstellung durch einen attischen bürgerchor und zwei bis drei schauspieler, und bestimmt als teil des öffentlichen gottesdienstes im heiligtume des Dionysos aufgeführt zu werden.«480 An anderer Stelle: »so führt eine jede betrachtung zuletzt auf das verhältnis der tragödie zur sage zurück. darin liegt die wurzel ihres wesens, daher stammen ihre besondern vorzüge und schwächen, darin liegt der unterschied der attischen tragödie von jeder andern dramatischen poesie.«481 Die philosophische Bestimmung der Tragödie hat hier anzuheben und zwar wird sie es mit der Einsicht tun, daß diese nicht als bloße theatralische Gestalt der Sage sich ergreifen läßt. Denn die Sage ist ihrer Natur nach tendenzlos. Die Ströme der Überlieferung, wie sie von oft entgegengesetzten Seiten in heftiger Aufwallung niederstürzen, haben zuletzt im epischen Spiegel eines geteilten, vielarmigen Bettes sich beruhigt. Der epischen stellt sich die tragische Dichtung als tendenziöse Umformung der Tradition entgegen. Wie intensiv und wie bedeutungsvoll sie umzubilden wußte, zeigt das Ödipusmotiv.482 Dennoch haben ältere Theoretiker, wie Wackernagel, recht, wenn sie Erfindung für unvereinbar mit dem Tragischen erklären.483 Die Umbildung der Sage nämlich geschieht nicht auf der Suche nach tragischen Konstellationen, sondern in der Ausprägung einer Tendenz, die alle Bedeutung verlöre, wenn es nicht mehr Sage, Urgeschichte des Volks wäre, an der sie sich kund täte. Nicht also ein ›Niveaukonflikt‹484 zwischen dem Helden und der Umwelt schlechthin, wie Schelers Untersuchung »Zum Phänomen des Tragischen« ihn für bezeichnend erklärt, bildet die Signatur der Tragödie, sondern die einmalige griechische Art solcher Konflikte. Worin ist sie zu suchen? Welche Tendenz verbirgt sich im Tragischen? Wofür stirbt der Held? – Die tragische Dichtung ruht auf der Opferidee. Das tragische Opfer aber ist in seinem Gegenstande – dem Helden – unterschieden von jedem anderen und ein erstes und letztes zugleich. Ein letztes im Sinne des Sühnopfers, das Göttern, die ein altes Recht behüten, fällt; ein erstes im Sinn der stellvertretenden Handlung, in welcher neue Inhalte des Volkslebens sich ankündigen. Diese, wie sie zum Unterschiede von den alten todbringenden Verhaftungen nicht auf oberes Geheiß, sondern auf das Leben des Heros selbst zurückweisen, vernichten ihn, weil sie, inadäquat dem Einzelwillen, allein dem Leben der noch ungeborenen Volksgemeinschaft den Segen bringen. Der tragische Tod hat die Doppelbedeutung, das alte Recht der Olympischen zu entkräften und als den Erstling einer neuen Menschheitsernte dem unbekannten Gott den Helden hinzugeben. Aber auch dem tragischen Leiden, wie Aischylos in der »Orestie«, Sophokles im »Ödipus« es darstellt, kann diese Doppelkraft einwohnen. Tritt in dieser Gestalt der Sühnecharakter des Opfers weniger hervor, so desto klarer seine Verwandlung, welche Ersatz des Todverfallenseins durch einen Anfall ausdrückt, der dem alten Bewußtsein von Göttern und Opfer ebensowohl genugtat wie sichtlich in die Form des neuen sich kleidet. Tod wird dabei zur Rettung: Todeskrisis. Ein ältestes Beispiel ist die Ablösung der Schlachtung des Menschen am Altare durch Entlaufen vor dem Messer des Opferers, d. h. Herumlaufen um den Altar mit schließlichem Anfassen des Altars durch den Todgeweihten, wobei der Altar zum Asyl, der zornige Gott zum gnädigen, der zu Tötende zum Gottes-Gefangenen und -Diener wird. Dies ist ganz das Schema der »Orestie«. Diese agonale Prophetie unterscheidet ihre Beschränkung auf den Umkreis des Todes, ihre unbedingte Angewiesenheit auf die Gemeinde und vor allem die nichts weniger als garantierte Endgültigkeit ihrer Lösung und Erlösung von aller episch-didaktischen. Woher aber am Ende das Recht, von einer ›agonalen‹ Darstellung zu sprechen? ein Recht, welches aus der hypothetischen Ableitung des tragischen Vorgangs aus dem Opferlauf um die Thymele noch nicht hinreichend dürfte gestützt werden können. Zunächst darin erweist es sich, daß die attischen Bühnenspiele in Gestalt von Wettkämpfen


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