Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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von dramaturgischen Realien, wie die politische Anthropologie und Typologie der Trauerspiele es darstellt, ist Vorbedingung zur Befreiung aus den Verlegenheiten eines Historismus, der seinen Gegenstand als notwendige aber wesenlose Übergangserscheinung erledigt. Im Zusammenhange dieser Realien kommt die besondere Bedeutung des barocken Aristotelismus, der eine oberflächliche Betrachtung irre zu führen bestimmt ist, zur Geltung. Als diese »wesensfremde Theorie«464 durchdrang die Interpretation, aus deren Kraft das Neue durch die Geste einer Unterwerfung die bündigste Autorität sich sichert, die Antike. Die Macht der Gegenwart in deren Medium zu erschauen, war dem Barock gegeben. Daher verstand es seine eigenen Formen als ›naturgemäß‹ und nicht sowohl als Gegensatz denn als die Überwindung und Erhöhung der Rivalin. Auf dem Triumphwagen des barocken Trauerspiels ist die antike Tragödie die gefesselte Sklavin.

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      (Zweiter Teil)

      Hier in dieser Zeitligkeit

      Ist bedecket meine Crohne

      Mit dem Flohr der Traurigkeit;

      Dorten/ da sie mir zum Lohne

      Aus Genaden ist gestellet/

      Ist sie frey/ und gantz umhellet.

      Johann Georg Schiebel: Neuerbauter Schausaal465

      Es sind die Elemente der griechischen Tragödie – die tragische Fabel, der tragische Held und der tragische Tod – die man, wie immer unter den Händen verständnisloser Nachahmer entstellt, im Trauerspiel, und zwar als wesentliche, hat wiedererkennen wollen. Andererseits – und das hätte in der kritischen Geschichte der Kunstphilosophie weit mehr Belang – hat man in der Tragödie, in der der Griechen nämlich, eine frühe Form des Trauerspiels, wesensverwandt der spätern, sehen wollen. Die Philosophie der Tragödie ist demgemäß ohne alle Beziehung auf historische Sachgehalte in einem System von allgemeinen Sentiments, das man in den Begriffen ›Schuld‹ und ›Sühne‹ logisch unterbaut sich dachte, als Theorie der sittlichen Weltordnung durchgeführt worden. Diese Weltordnung wurde, der naturalistischen Dramatik zuliebe, in der Theorie der dichtenden und philosophierenden Epigonen der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts mit ganz erstaunlicher Naivität natürlicher Kausalverknüpfung angenähert und somit das tragische Schicksal zu einer Verfassung, »die sich in dem Zusammenwirken des Einzelnen mit der gesetzmäßig geordneten Umwelt zum Ausdruck bringt«.466 So jene »Ästhetik des Tragischen«, die eine förmliche Kodifikation der genannten Vorurteile ist und auf der Annahme beruht, das Tragische vermöge voraussetzungslos in gewissen faktischen Konstellationen, wie das Leben sie kennt, zur Gegebenheit gebracht werden. Nichts anderes will es besagen, wenn »die moderne Weltanschauung« als das Element bezeichnet wird, »in dem allein das Tragische seine ungehemmt kraftvolle und folgerichtige Entwicklung finden kann«.467 »So muß die moderne Weltanschauung denn auch über den tragischen Helden, dessen Schicksale von den wunderbaren Eingriffen einer transzendenten Macht abhängen, urteilen, daß er in eine unhaltbare, einer geläuterten Einsicht nicht standhaltende Weltordnung hineingestellt ist, und daß die von ihm dargestellte Menschlichkeit den Charakter des Eingeengten, Belasteten, Unfreien an sich trägt.«468 Diese so ganz vergebliche Bemühung, das Tragische als allgemeinmenschlichen Gehalt zu vergegenwärtigen erklärt zur Not, wie seiner Analyse mit Vorbedacht der Eindruck kann zugrunde gelegt werden, »den wir moderne Menschen empfangen, wenn wir die Gestalten, die alte Völker und vergangene Zeiten dem tragischen Schicksal in ihren Dichtungen gegeben haben, künstlerisch auf uns wirken lassen«.469 Nichts ist in Wahrheit problematischer, als die Kompetenz der ungeleiteten Gefühle des ›modernen Menschen‹, zumal im Urteil über die Tragödie. Und diese Einsicht ist nicht nur in der vierzig Jahre vor der »Ästhetik des Tragischen« erschienenen »Geburt der Tragödie« mit Gründen belegt, sondern durch das bloße Faktum, daß die moderne Bühne keine Tragödie, die der der Griechen ähnelt, aufweist, höchlich nahgelegt. Mit der Verleugnung dieses Sachverhalts bekunden solche Lehren von dem Tragischen die Anmaßung, Tragödien müßten heut noch zu verfassen sein. Sie ist ihr wesentliches, ihr verborgenes Motiv und eine Theorie des Tragischen, geeignet dies Axiom der kulturellen Hoffart zu erschüttern, war eben dadurch verdächtig. Geschichtsphilosophie ward ausgeschieden. Wenn aber ihre Perspektiven als unerläßliches Stück einer Tragödienlehre sich erweisen sollten, so leuchtet ein, daß diese dort nur zu erwarten ist, wo eine Forschung in den Stand der eigenen Epoche Einsicht aufweist. Dies ist denn auch der archimedische Punkt, den neuere Denker, insbesondere Franz Rosenzweig und Georg Lukács, in Nietzsches Jugendwerk ergriffen haben. »Vergebens wollte unsere demokratische Zeit eine Gleichberechtigung zum Tragischen durchsetzen; vergeblich war jeder Versuch, den seelisch Armen dieses Himmelreich zu öffnen.«470

      Mit seiner Einsicht in die Bindung der Tragödie an die Sage und in die Unabhängigkeit des Tragischen vom Ethos hat Nietzsches Werk dergleichen Thesen unterbaut. Um die zögernde, man möchte sagen mühselige Nachwirkung dieser Einsichten zu erklären, bedarf es nicht des Hinweises auf die Befangenheit der folgenden Forschergeneration. Vielmehr trug Nietzsches Werk in seiner schopenhauerschen und wagnerschen Metaphysik die Stoffe in sich, die sein Bestes versehren mußten. Bereits in der Bestimmung des Mythos sind sie wirksam. »Er führt die Welt der Erscheinung an die Grenzen, wo sie sich selbst verneint und wieder in den Schooß der wahren und einzigen Realität zurückzuflüchten sucht … So vergegenwärtigen wir uns, an den Erfahrungen des wahrhaft ästhetischen Zuhörers, den tragischen Künstler selbst, wie er, gleich einer üppigen Gottheit der individuatio, seine Gestalten schafft, in welchem Sinne sein Werk kaum als ›Nachahmung der Natur‹ zu begreifen wäre – wie dann aber sein ungeheurer dionysischer Trieb diese ganze Welt der Erscheinungen verschlingt, um hinter ihr und durch ihre Vernichtung eine höchste künstlerische Urfreude im Schooße des Ur-Einen ahnen zu lassen.«471 Der tragische Mythos gilt, wie diese Stelle hinreichend deutlich macht, Nietzsche als rein ästhetisches Gebilde und das Widerspiel von apollinischer und dionysischer Kraft bleibt ebensowohl, als Schein und Auflösung des Scheines, in die Bereiche des Ästhetischen gebannt. Mit dem Verzicht auf eine geschichtsphilosophische Erkenntnis des Mythos der Tragödie hat Nietzsche die Emanzipation von der Schablone einer Sittlichkeit, die man dem tragischen Geschehen aufzulegen pflegte, teuer erkauft. Die klassische Formulierung dieses Verzichts: »Denn dies muß uns vor allem, zu unserer Erniedrigung und Erhöhung, deutlich sein, daß die ganze Kunstkomödie durchaus nicht für uns, etwa unsrer Besserung und Bildung wegen, aufgeführt wird, ja daß wir ebensowenig die eigentlichen Schöpfer jener Kunstwelt sind: wohl aber dürfen wir von uns selbst annehmen, daß wir für den wahren Schöpfer derselben schon Bilder und künstlerische Projectionen sind und in der Bedeutung von Kunstwerken unsre höchste Würde haben – denn nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt: – während freilich unser Bewußtsein über diese unsre Bedeutung kaum ein andres ist, als es die auf Leinwand gemalten Krieger von der auf ihr dargestellten Schlacht haben.«472 Der Abgrund des Ästhetizismus tut sich auf, an den diese geniale Intuition zuletzt alle Begriffe verlor, so daß Götter und Heroen, Trotz und Leid, die Pfeiler des tragischen Baus, in nichts sich verflüchtigen. Wo die Kunst dergestalt die Mitte des Daseins bezieht, daß sie den Menschen zu ihrer Erscheinung macht anstatt gerade ihn als ihren Grund – nicht als ihren Schöpfer, sondern sein Dasein als den ewigen Vorwurf ihrer Bildungen – zu erkennen, entfällt die nüchterne Besinnung überhaupt. Und ob mit der Entsetzung des Menschen aus der Mitte der Kunst das Nirwana, der entschlummernde Wille zum Leben, an seine Stelle tritt, wie bei Schopenhauer, oder die »Menschwerdung der Dissonanz«473 es ist, die wie, bei Nietzsche, die Erscheinungen der Menschenwelt so auch den Menschen erschaffen hat, es bleibt der gleiche Pragmatismus. Denn was verschlägt es, ob der Wille zum Leben oder zu seiner Vernichtung vorgeblich jedes Kunstwerk inspiriere, da es als Ausgeburt des absoluten Willens mit der Welt sich selber entwertet. Der in den Tiefen der bayreuther Kunstphilosophie behauste Nihilismus vereitelte – es war nicht anders möglich – den Begriff der harten, der geschichtlichen Gegebenheit der griechischen Tragödie. »Bilderfunken … lyrische Gedichte, die in ihrer höchsten Entfaltung Tragödien und dramatische Dithyramben heißen«474 – in Visionen des Chors und der Zuschauermenge löst die Tragödie sich auf. So führt


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