Die Krone der Schöpfung. Lola Randl

Die Krone der Schöpfung - Lola Randl


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empfunden, obwohl durchaus Potenzial für Momente der Besinnung vorhanden wäre. In der Ruhe vor dem Sturm lässt sich schlecht etwas Neues anfangen.

      Hier auf dem Dorf war die Ruhe vor dem Sturm nur schwer von der ganz normalen Ruhe zu unterscheiden. Nur aus dem Internet wusste man, dass das hier jetzt die Ruhe vor dem Sturm war. Immer mehr Bilder von leeren Plätzen, die sonst niemals leer waren, wurden gezeigt, und Kurven mit Zahlen, die Anstalten machten, hochzuschnellen. Bald kamen einem alle Menschen, die sich noch nicht in Sicherheit gebracht hatten, unverantwortlich, ja fast lebensmüde vor. Komischerweise fiel mir da der Titel für die Zombieserie ein: Honka. Oder besser: Honka, Bar des Vergessens. Ich hatte erst vor ein paar Tagen von einer Bar mit diesem komischen Namen geträumt. Es war ein seltsamer Traum, deshalb habe ich ihn auch nicht gleich wieder vergessen wie andere Träume. Ich betrieb die Bar zusammen mit einigen Schulfreunden, mit denen ich schon längst nichts mehr zu tun hatte, und die neuen Nachbarn kamen als Gäste. Die Familie mit den zwei Kindern war erst vor Kurzem gegenüber eingezogen. Sie verwirklichten ihren Traum vom Leben auf dem Land und ich hatte sehr stark daran mitgewirkt, sie davon zu überzeugen, dass genau hier der richtige Ort dafür wäre. Aber jetzt, da ich sie in die Bar kommen sah, hatte ich so eine Vorahnung, dass sie über mich etwas herausfinden würden, was sie vielleicht vom Gegenteil überzeugen könnte. Aber genau konnte ich mich eigentlich nur an den Schriftzug mit dem Namen dieser Bar erinnern, der mit schwarzer Farbe über die Eingangstür gesprüht war.

      KLEINER LEBEREGEL

      Zuerst lebt der Kleine Leberegel in der Atemhöhle der Schnecke. Von dort wird er als Schneckenschleim ausgehustet, für den sich besonders die Ameise interessiert. Nachdem die Ameise den Schleim zu sich genommen hat, klettert sie nachts auf einen Grashalm und wartet darauf, dass ein Schaf sie frisst. Wenn kein Schaf sie bis zum Morgengrauen gefressen hat, klettert sie wieder herunter und geht zurück zu den anderen Ameisen in ihren Bau. Der Erreger bringt die infizierte Ameise aber dazu, jede Nacht aufs Neue an die Spitzen der Grashalme zu klettern, bis sie endlich von einem Schaf gefressen wird. Durch diesen Trick, die Ameise in eine Kamikazeameise zu verwandeln, gelangt der Erreger in das Schaf, dessen Gallengänge der erwachsene Kleine Leberegel sein Zuhause nennt.

      Der Kleine Leberegel hat lange gebraucht, um den besten Weg von Schaf zu Schaf herauszufinden. Menschen, die sich genauer mit dem Kleinen Leberegel beschäftigen, vermuten, der Kleine Leberegel habe diese Strategie erfinden müssen, weil er in der Ameise in eine Sackgasse geraten war: Er war in sie hineingekommen, kam aber nicht mehr aus ihr heraus. Natürlich war nicht nur ein Kleiner Leberegel in diese Sackgasse geraten, sondern Abertausende, und es brauchte Millionen von Jahren, bis einer von ihnen herausgefunden hatte, wie er in das Gehirn der Ameise vordringen und die Ameise dazu bringen konnte, sich für ihn zu opfern.

      HELDENREISE

      Nach einem amerikanischen Professor der Mythologie aus dem Staat New York sind die allermeisten Geschichten der Menschheit, also zumindest die, die sich gut verkaufen, ihrer Struktur nach Heldenreisen. In der Heldenreise gerät der Held, der eine wichtige Aufgabe zu erfüllen hat, in eine schwierige Situation, die nur durch das besondere Geschick des Helden zu lösen ist. Dabei erhält der Held meist von unerwarteter Seite Unterstützung oder zumindest den entscheidenden Tipp, der ihn dann vor dem Untergang rettet. Es ist also nur verständlich, dass in einer Situation, in der das Virus unaufhaltsam jeden Einzelnen bedroht, jeder Einzelne begierig alle verfügbaren Informationen aufsaugt, die ihm eine bessere Überlebenschance im Falle der entscheidenden Auseinandersetzung ermöglichen. Jede noch so kleine Randnotiz, etwa, dass Ibuprofen die Wahrscheinlichkeit zu erkranken verstärkt, ist jetzt von allergrößtem Interesse. Ich habe in der Schublade im Badezimmer nachgesehen, ob ich überhaupt Ibuprofen habe, und zum Glück keins gefunden.

      Das größte Problem der Krankheit ist, habe ich gelesen, die Heftigkeit der eigenen Immunabwehr. Also sind diejenigen mit einer schwächer ausgeprägten Abwehr im Vorteil. Dann müsste es wohl am besten sein, wenn man gar keine Abwehr hat, wäre das nicht logisch? Für mich macht das alles keinen Sinn und ich muss sofort aufhören, weiter zu recherchieren. Ich muss mich von der Hoffnung verabschieden, im entscheidenden Moment durch zusätzliche Informationen bessere Überlebenschancen zu haben, und von der Idee, mein Schicksal in der eigenen Hand zu halten, am besten gleich mit.

      LIVETICKER

      Liveticker oder Newsticker oder Nachrichtenticker nennt man die Technik, die es einem ermöglicht, immer alle Nachrichten sofort zu haben. Früher, und daher kommt auch der Name »Ticker«, verwendete man, um immer auf dem Laufenden zu sein, Fernschreiber, und die machten ein tickendes Geräusch. Wenn man die Liveticker verschiedener Nachrichtenmagazine zusammennahm und überall den News-Alarm aktiviert hatte, konnte man minütlich auf dem Laufenden gehalten werden. Es war auf jeden Fall sehr wichtig, dass man nichts versäumte und alle Informationen, die es gab, parat hatte. Ohne die Nachrichten hätte hier auf dem Dorf sicherlich niemand etwas mitbekommen von der Krise und auch nichts von dem Virus. Um sicherzugehen, dass man auch nichts verpasst hatte, konnte man sich die Zusammenfassung zweimal täglich über Mail zukommen lassen, oder doch gleich jede neue Nachricht als Pushnachricht aufs Telefon. Ich war mir gar nicht sicher, ob ich das eigentlich wollte, als ich diese Funktion aktivierte, aber als ich sie dann wieder ausschaltete, kam mir alles noch viel gefährlicher und unheimlicher vor. Trotzdem schaltete ich ab da auch das Brummen auf meinem Telefon lieber aus und es machte einfach gar kein Geräusch mehr.

      AUFBRUCH

      Der Winter war passé, und auch, wenn sonst alles herunterfuhr, begann die Natur zu erwachen. Nichts und niemand konnte sie aufhalten, so wie sie bis jetzt noch jedes Jahr nichts und niemand hatte aufhalten können. Kraniche zogen in Keilformationen über den Himmel, Buschwindröschen blühten auf den jetzt noch lichtdurchfluteten Böden der Laubwälder und wie immer begab sich die Krötenschar mitten in einer Nacht zu ihrem Laichgewässer. Ich weiß das, weil das Laichgewässer der Kröten in Hörweite meines Schlafzimmerfensters liegt. Sie brechen zu einer Zeit auf, zu der ich zwar schon im Bett liege, aber noch etwas Wichtiges zu überdenken habe, und wenn sie angekommen sind im Tümpel, dann feiern sie mit lautem Quaken den Neubeginn.

      Die Tage wurden eindeutig wieder länger, was die Zirbeldrüsen in Mensch und Tier dazu veranlasste, weniger Schlafhormone auszuschütten und Gefühle der Leichtigkeit zu vermitteln. Doch in diesem Frühling waren die Menschen von der um sie herum sprießenden Natur eher irritiert. Sie hatten das Gefühl, dass sie diesmal nicht dabei sein durften.

      HOMESCHOOL

      Es kam mir vor, als ob es schon wochenlang so gegangen wäre, dabei sollte erst morgen der Ernstfall eintreten und die Schulen geschlossen werden. Gestern hatte ich mich mit den Nachbareltern getroffen, um zu beratschlagen, ob wir zusammen eine Homeschool aufmachen sollten, damit unsere Kinder zumindest die Vormittage über irgendetwas Vernünftiges machten. Ein bisschen Struktur schien uns hilfreich in den endlosen Tagen, die vor uns lagen.

      Die Nachbarn aus dem Traum mit der Bar, die jetzt gegenüber wohnten, hatten noch eine andere Familie nach sich gezogen, für die auch noch Platz im Haus der Nachbarn war. Jeder, der mit dem Traum vom Landleben angesteckt worden war, steckte damit für gewöhnlich noch andere an, und so waren wir mittlerweile schon eine kleine Gruppe ehemaliger Stadtmenschen, die jetzt Landmenschen sein wollten und in der Dorfmitte lebten. Um die Idee mit der Homeschool zu besprechen, setzten wir uns in einen Kreis, wie das wenige Tage oder Wochen zuvor noch ganz normal gewesen war. Der eine ganz neue Nachbar, der in gewaltfreier Kommunikation ausgebildet war, hat uns erklärt, dass es am besten wäre, erst mal eine Gesprächsrunde abzuhalten, bei der jeder sagt, wie es ihm oder ihr geht und was er oder sie alles denkt. Sprechen darf dabei immer nur der, der den Gesprächsstab hat. Als Stab nahmen wir den Zollstock, den der Mann in der Hosentasche hatte. Der Nachbar mit der gewaltfreien Kommunikation, also der ganz neue Nachbar, bekam den Zollstock als Erstes. Er war ziemlich aufgebracht. Nicht, dass er direkt an eine Verschwörung glaubte, aber die Art, wie die Medien Angst schürten


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