Das vernetzte Kaiserreich. Jens Jäger
Auswanderung stand immer auch eine Einwanderung entgegen, die zeitgenössisch aber weniger auffiel. Im Kaiserreich lebten immer auch zugewanderte Menschen. 1871 wurden offiziell 207 000 fremde Staatsangehörige gezählt (weniger als 0,5 Prozent der Bevölkerung). Die größte Gruppe, bis zu 50 Prozent, kam aus Österreich-Ungarn, gefolgt von Niederländern, Russen und Italienern. Diese Reihenfolge blieb auch bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs bestehen. 1910 lebten offiziell 1,2 Millionen Ausländer im Kaiserreich, was einer Quote von etwa 1,8 Prozent der Gesamtbevölkerung entsprach.23
Allerdings wurden Saisonarbeiter und – logischerweise – Illegale nicht mitgezählt. Gerade die sozialdemokratische und gewerkschaftsnahe Presse kritisierte immer wieder, wie niedrige Löhne den Arbeitern aus Italien, Russland, Österreich-Ungarn, aber auch aus Schweden, gezahlt wurden, so dass diese angeblich den einheimischen Arbeitern Lohn und Brot nahmen. »So berichteten wir«, schrieb das sozialdemokratische Berliner Volkblatt am 7. August 1885, »kürzlich noch aus Bayern, daß dort zahlreiche italienische Arbeiter beschäftigt würden, und in Oberschlesien wimmelt es ja bekanntlich von polnisch-russischen Arbeitern.« Vor allem die Lohndrückerei und ein nicht näher beschriebener »schlechter Einfluss« waren Thema des Artikels; gleichwohl beeilte sich der Autor zu betonen, »daß uns ausländische talentvolle und bedürfnisvolle Arbeiter willkommen in Deutschland sind«.24
Saisonarbeiter waren gerade in der preußischen Landwirtschaft wichtige Arbeitskräfte, die meist aus dem Zarenreich und Österreich-Ungarn kamen. Und diese spezielle Migration zog sehr wohl zeitgenössische Aufmerksamkeit auf sich. Weite Teile der Öffentlichkeit und die Regierung wollten vermeiden, dass sich diese Menschen dauerhaft im Kaiserreich niederließen – und das gelang ihnen im Allgemeinen auch. Dass es diese Einwanderer und Saisonarbeiter dennoch gab, belegt jedoch, dass das Kaiserreich verhältnismäßig attraktiv war – dementsprechend übertraf spätestens seit 1900 die Zahl der Einwanderer jene der Auswanderer. Das Kaiserreich war zu einem Einwanderungsland geworden.
Fassen wir zusammen: Die vier Jahrzehnte waren geprägt vom Wachstum der Bevölkerung, die zudem jünger, urbaner und (in Maßen) westlicher wurde. Doch trotz des Wachstums wurden auch Bedenken laut: Die Fertilität ließ nach, die Stadt galt vielen als »ungesund«. Ebenso prägend für die Zeit war die hohe Mobilität der Menschen innerhalb des Landes, aber auch die Auswanderung blieb ein gesellschaftliches Thema: In den 1870ern machte sich das Phänomen weniger bemerkbar, doch in den 1880ern bis Mitte der 1890er war es sehr ausgeprägt und blieb auch danach (in geringem Umfang, aber kontinuierlich) sichtbar und ein stetiges Gesprächsthema.
Einwanderung ins Kaiserreich hatte es ebenfalls immer gegeben, und in den späteren 1890er Jahren begann sie die Auswanderung zu übertreffen, was aber in der Öffentlichkeit nicht oder nur wenig zur Kenntnis genommen wurde. Kritische Blicke wurden eher auf Saisonarbeiter aus dem Osten gerichtet, die die Deutschen nicht dauerhaft im Land haben wollten. Auch die ab den 1880er Jahren vermehrte jüdische Durch- oder Einwanderung aus dem zaristischen Russland wurde eher abgelehnt. Die meisten anderen Zuwanderer hingegen scheinen damals nicht als überlokales Problem wahrgenommen worden zu sein.
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