Der Schlüssel zur Tragödie. Caroline Dänzer

Der Schlüssel zur Tragödie - Caroline Dänzer


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wie auch insgesamt seine Tragödien – mitnichten als reine Rezeptionsprodukte der griechischen Stücke verstanden hat. Die Chorlieder haben bei Seneca einen stücktragenden, literarischen Wert, der ihre Eignung als Modell ausmacht: Der Chor wird zu einer maßgeblichen Erklärinstanz des Stückes, die dessen Interpretation verdichtet darlegt.

      Im ersten Teil der folgenden Untersuchung wird deshalb eine Neubestimmung des senecanischen Chores vorgenommen. Nach einer Darstellung grundlegender Forschungsprämissen sowie einer theoretischen Beschreibung des senecanischen Chorkonzeptes soll dieses anhand von Fallbeispielen verdeutlicht werden. Die Untersuchung bleibt aus Gründen der Übersichtlichkeit exemplarisch auf zwei Stücke beschränkt.17 Für die detaillierte Analyse bieten sich der OedipusTragödienOedipus und die TroadesTragödienTroades an, da die Stücke bezüglich der Thematik, die besonders in den Chorliedern zu Tage tritt, verwandt sind. Beide behandeln im weiteren Sinne die Frage des Determinationsprinzips und der Theodizee.18 Dieser Themenkreis ist für Baldes JephtiasJephtias von grundsätzlicher Bedeutung, da die Fragestellung hier aus Drama Georgicumchristlicher Perspektive beleuchtet wird und zahlreiche Motivübernahmen erkennbar sind.19 Durch die ausführliche Behandlung des senecanischen Chores leistet die vorliegende Arbeit einen Beitrag zum Verständnis der Seneca-Tragödien.

      Im zweiten Teil der Arbeit wird sodann gezeigt, dass Jakob Balde die Funktion des senecanischen Chores, einen Schlüssel zur Interpretation des Stückes zu liefern, erkannt, in sein dramatisches Werk aufgenommen und weiterentwickelt hat. Da explizite Aussagen, in denen Balde sich über sein Verständnis des Chores äußert, nicht vorliegen, ist es geboten, sein Chorverständnis aus allen seinen Werken dramatischen Charakters herauszuarbeiten. Nur in dieser Gesamtschau ist es möglich einzuordnen, wie Balde die Funktionen des Chores definiert und als wesentliches Element in seiner Dramatik verankert. Hierzu soll ein Blick auf den Chor des Iocus seriusIocus serius, des TillyTilly, der PhilomelaPhilomela und des Arion ScaldicusArion Scaldicus geworfen werden. Weiterhin erfolgt eine knappe Besprechung des Drama Georgicum, bei dem gerade das Fehlen eines dramatischen Chores aufschlussreich ist. Für Baldes Auffassung der Chorlieder Senecas und die Konzeption eines tragischen Chores ist außerdem die Untersuchung des Seneca aus dem Regnum poetarumRegnum poetarum unabkömmlich. Dieser steht der JephtiasJephtias sehr nahe, auf der das Hauptaugenmerk liegen wird, da es sich um die einzige komplette Drama GeorgicumTragödie im eigentlichen Sinne handelt. Mittels der Analyse der Chorpartien können entscheidende Erkenntnisse für die Interpretation und Struktur der Stücke insgesamt und damit über den Dramatiker Balde erlangt werden.

A. Der Chor in den Tragödien Senecas

      1. Grundlegende Prämissen

      1.1. Aufführbarkeit

      Bevor auf die Konzeption des senecanischen Chores eingegangen werden kann, muss zunächst zu einigen wesentlichen, bis heute umstrittenen Diskussionspunkten Stellung bezogen werden, um die Prämissen festzulegen, unter denen das Thema bearbeitet wird.

      So steht an erster Stelle die Frage nach der Aufführbarkeit der Stücke und damit nach ihrer Konzeption als Bühnen- oder Lesestücke.1 Aufführungen sind von der Renaissance bis heute zuhauf belegt,2 was zeigt, dass es zumindest möglich ist, die Stücke auf die Bühne zu bringen. Es ist jedoch Aristoteleszu bedenken, ob die Frage nach der Aufführbarkeit im Grunde nicht müßig ist:3 Dass die Stücke anders gestaltet sind als die griechischen Vorlagen, ist nur natürlich, da Seneca unter völlig veränderten zeitlichen Voraussetzungen schreibt.4 Welche Darbietungsform (Selbstständiges Lesen, Rezitieren oder Bühnenaufführung) letztlich gewählt wird, ändert nichts an der Tatsache, dass sich Seneca bewusst für die Gattung der Tragödie entschieden hat und sich damit vielleicht gerade die Vielfalt individuell an den Kontext anpassbarer Methoden offenhalten wollte.5 So konstatiert auch Grimal: „Il est donc effectivement possible que ces tragédies nʼaient jamais été que récitées et non jouées. Mais cela ne signifie point quʼelles nʼaient été conçues que pour la lecture et ne se rattachent pas à une tradition théâtrale.“6 Deswegen ist es bei der Betrachtung der Stücke vonnöten, die Dramaturgie mit zu beachten, denn als Konzept ist sie stets maßgeblich und darf nicht vernachlässigt werden. Ebenfalls muss in stärkerem Maße als etwa in einem philosophischen Traktat die Wirkung auf den Rezipienten oder gar das Publikum mitberücksichtigt werden.7 Viele zunächst erstaunlich wirkende Elemente sind dem Theaterkontext geschuldet. In diesem Sinne sollen die senecanischen Tragödien auch im Folgenden als das behandelt werden, was sie sind: Theaterstücke.

      1.2. Datierung

      Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Frage nach der Datierung. Hilfreiche Zeugnisse zur Abfassungszeit der Tragödien sind nicht vorhanden, und so wurde versucht, anhand verschiedener Kriterien eine zeitliche Verortung in Senecas Leben zu gewinnen. Datierungsversuche erstrecken sich beinahe über Senecas gesamte Biographie.1 Manche Vertreter plädieren für eine Abfassungszeit während Senecas Exil auf Korsika.2 So möchte Grimal in einigen Stücken manifeste Anspielungen auf die Regierungszeit des Claudius erkennen und datiert sie vor 52 n.Chr.3 Für den Hercules furensTragödienHercules furens wird ferner von manchen Interpreten eine Datierung vor 54 n.Chr. angenommen, da Züge der Herculesfigur in der ApocolocyntosisApocolocyntosis parodiert würden.4 Allerdings ist es ebenso möglich, dass erst die komische Herkulesversion existierte und Seneca später Teile der Figurencharakterisierung für seine Tragödie nutzbar machte.5

      Als Anhaltspunkt wird auch die Themenwahl der TroadesTragödienTroades genommen, die sich auf den lusus Troiae aus dem Jahre 47 n.Chr., an dem NeroNero wohl selbst teilnahm, beziehen könnte, da die Verse 777–779 darauf anzuspielen scheinen.6 Damit sei eine Datierung kurz nach dem Ereignis anzunehmen. Allerdings spielt schon VergilVergil auf den Ritus des lusus Troiae an, der bereits zuvor in Rom stattgefunden hatte. Da der trojanische Sagenkreis bei den Römern aus genealogischen Gründen ein beliebtes Thema war,7 erscheint dieser Bezug nicht ausreichend stichhaltig. Es ist genauso gut möglich, dass Seneca hier einfach aus der Tradition geschöpft hat.

      Außerdem wurden politische Bezüge zur Regierungszeit NerosNero herausgearbeitet und die Datierung deshalb später angesetzt.8 So nimmt Boyle beispielsweise für die TroadesTragödienTroades zwar keine direkte Datierung des Stückes vor, zeigt jedoch zahlreiche Einflüsse der Nerozeit auf und lehnt damit eine Abfassungszeit unter der Regierung von Caligula oder Claudius ab.9 Auch weitere Forscher datieren die Tragödien aufgrund inhaltlicher Khaben sich verschiedenste Ansätze herausgebildetriterien in die Zeit NerosNero. So verortet Lefèvre die Tragödien wegen ihrer negativen Grundeinstellung an Senecas Lebensende, als er sich nach dem Tod von Burrus 62 aus der Politik bereits zurückgezogen hatte. Auch Töchterle und teilweise Grimal neigen dieser Spätdatierung zu.10

      Ferner konzentrieren sich die Interpreten auf formale Gesichtspunkte, um eine relative Chronologie der Stücke zu gewinnen. So werden prosodische und metrische Aspekte in Betracht gezogen. Hier ist besonders die Untersuchung von Fitch zu nennen, die vielfach als plausibel bewertet wurde.11 Das Versmaß der Chorlieder im ThyestesTragödienThyestes, Hercules furensTragödienHercules furens und in den TroadesTragödienTroades sei einfacher gehalten und deshalb früher anzusetzen als beispielsweise der polymetrische OedipusTragödienOedipus. Dieses Argument ist freilich nur unzureichend begründbar, denn es ließe sich im Gegenteil behaupten, Seneca habe nach einer Experimentierphase wieder zu schlichteren Metren zurückgefunden. Auch die These, die Kürzung des auslautenden o zeige Abhängigkeiten verschiedener Tragödien auf, erscheint im Vergleich zu inhaltlichen Gesichtspunkten als schwächeres Argument. Über den Metriker Seneca ist insgesamt zu wenig bekannt, um daraus stichhaltige Rückschlüsse auf eine Entwicklung technischer Fertigkeiten ziehen zu können.12

      Zudem fehlen direkte Äußerungen über die Abfassungszeit sowohl bei Seneca als auch bei anderen zeitgenössischen Autoren sowie schlagende Beweise in den Tragödien selbst.13 Dass Seneca vermeidet, die eigenen Stücke zu erwähnen, weist allerdings darauf hin, dass er ein zu großes öffentliches Interesse an seinen Tragödien nicht zum Ziel hatte. Auffällig ist freilich die resignative Grundstimmung der Stücke, auf die im Laufe dieser


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