Der Schlüssel zur Tragödie. Caroline Dänzer

Der Schlüssel zur Tragödie - Caroline Dänzer


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festzuhalten, dass die Chorlieder nicht einfach willkürlich Übereinstimmungen oder Widersprüche in sich und zur Handlung aufweisen, sondern dass sie sich auf ein geordnetes System zurückführen lassen.

      Bishops Arbeiten zum Chor betonen diese strukturierte Komposition der Chorlieder. Er nimmt an, dass sich die Tragödie in zwei Stränge unterteilen lasse, die dramatic line, also die Bühnenhandlung, und die odic line, die Handlung in den Chorliedern.30 Diese beiden Ebenen verliefen zwar parallel zueinander und seien vielfältig miteinander verzahnt, doch für sich genommen autark.31 Dennoch ergebe sich der volle Sinn der beiden Komponenten erst durch ihr Zusammenspiel: „The odic line is only an interesting series of poems unless the dramatic line is there to work out the tragedy; the dramatic line is only a series of savage, blunt-edged disasters without the catastrophe-building functions of the odes.“32 Bishop legt sodann einen schematischen Ablauf fest, nach dem die Oden funktionierten: Das erste Lied (directive ode) erläutere allgemeine Prinzipien, alle weiteren verstärkten Einzelaspekte oder fügten neue hinzu.33 Dieser Aufbau lässt sich jedoch nicht konsequent durchhalten. Gerade bei Liedern, die einander zu widersprechen scheinen, müssen Unstimmigkeiten mühsam weginterpretiert oder ignoriert werden, um das Konstrukt beizubehalten. Insgesamt fehlt Bishops Arbeit eine tiefergehende interpretative Anwendung seines Systems. Erst in der Conclusio wird eine politische Ebene in Betracht gezogen und werden fragwürdige direkte Zuschreibungen einzelner Tragödienfiguren zu Zeitgenossen Senecas vorgenommen. Wie genau die Chorlieder zu dieser politischen Deutung beitragen, bleibt letztlich vage.34 Dennoch bildet Bishops These in Zusammenschau mit den zuvor genannten Ansätzen eine hilfreiche Grundlage, um das senecanischen Chorkonzept zu beschreiben.

      Das Problem der Widersprüchlichkeit der Chorlieder ist außerdem eng verzahnt mit der Frage nach der personalen Zuordnung des Chores. Gärtner fasst den senecanischen Chor nicht als homogene Gruppe auf, sondern unterteilt ihn in zwei Chorgruppen. So gebe es „zwei grundverschiedene Typen der Chorgestaltung […]: einerseits den unbeteiligt aus einer Position programmatisch gepriesener Mittelmäßigkeit heraus das Unglück der hochgestellten Helden beobachtenden und analysierenden Chor, andererseits die konträre Spielform eines selbst am Leiden der Großen beteiligten und in der Bewältigung dieses Leidens absorbierten Chors.“35 Auch Sutton trifft eine Unterscheidung in primary and secondary choruses.36 Strohs Darlegungen gehen in eine ähnliche, allerdings stärker auf die Dramaturgie konzentrierte Richtung, wenn er für die TroadesTragödienTroades unterschiedliche Chöre annimmt, die sich auf der Bühne abwechselten.37 Trotz seiner Variabilität ist es unwahrscheinlich, dass Seneca an den Einsatz unterschiedlicher Chöre in seinen Stücken gedacht hat. Vielmehr scheint der Chor als vielfältiges Medium konzipiert zu sein. Er verkörpert zwar zumeist eine bestimmte soziale Gruppe, doch diese Zuordnung wird nicht bis in die letzte Konsequenz verfolgt. Neben der Funktion, zwischen Lied und Aktgeschehen überzuleiten, sind die lyrischen Partien an sich in erster Linie Erklärinstanz der dramatischen Handlung. In seiner Rolle als Handlungsdeuter muss der Chor dabei nicht gesichtslos sein, sondern die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppierung, zumeist zu dem jeweiligen betroffenen Volk, erleichtert diese Aufgabe sogar. Indem der Chor durch die Handlung selbst betroffen wird, scheint seine Deutung unmittelbarer und glaubhafter als die eines außenstehenden Beobachters. Der Chor wird so auch zur Mittlerfigur zwischen Stück und Publikum. Dabei treibt er die Handlung nicht voran, sondern er vertieft ihre Deutung. In diesem Sinne dürfen die Chorlieder nicht als direkte Reaktion auf die Handlung, sondern als deren verknappte Zusammenfassung auf reflexiver Ebene gesehen werden. Dass sich hierbei Widersprüche ergeben, entspricht der natürlichen Abfolge einer Auseinandersetzung mit einem Problem, die verschiedene Argumente gegeneinander abzuwägen sucht. Kontroversen in der Gedankenführung sind hierbei nicht nur geduldet, sondern sogar erwünscht.

      Folgendes ist festzuhalten: Die Chorlieder nehmen trotz ihrer Eigenständigkeit vielfach Bezug auf das Aktgeschehen und müssen deshalb mit ihm in Verbindung gesetzt werden. Das Verhältnis von Chorpartien und dramatischer Handlung muss also auf ein komplexeres System zurückgeführt werden. Zunächst ist es zwingend notwendig, bei der Analyse des Chores niemals aus den Augen zu verlieren, worauf er referiert, und die Lieder deshalb an eben der Position ernst zu nehmen, an der sie sich im Stück befinden. Ferner ist es unmöglich, die Chorlieder auf eine einzige Deutungsrichtung hin reduzieren zu wollen.38 Die Stücke sind maßgeblich geprägt von ihrem Verfasser, der die Person des Philosophen, Politikers, Rhetors und Erziehers in sich vereint.39 Diese Prämisse gilt nicht nur für die Chorlieder, sondern für die Deutung der Tragödien insgesamt. Gerade diese Vielschichtigkeit erschwert gleichwohl ihre Fassbarkeit. Hierdurch besteht die Gefahr, das Wesentliche aus dem Blick zu verlieren.40 Es ist somit wichtig, sich vor dem Hintergrund der Mehrdeutigkeit die Frage nach der Hauptintention der Stücke zu stellen. Diese ist im Kern stets philosophisch-theologischer Natur, wobei die eingangs skizzierte Theodizeeproblematik eine wichtige Rolle spielt. Dass zusätzlich weitere Ideen aus anderen Bereichen einfließen, ergibt sich zwangsläufig aus der Person des Schreibers selbst, dessen Erfahrungen und Sichtweisen den Tragödien eine politische und pädagogische Couleur geben.

      Man muss also bei der Betrachtung von Senecas Tragödien nach der Leitidee suchen, die das Stück zusammenhält. Diese ist jedoch nicht nur implizit in die Handlung der Dramen eingewoben, sondern explizit formuliert in den jeweiligen Chorpartien: Die ‚odic line‘ ist nicht einfach nur erweiternde Parallelhandlung, sondern dient der Interpretation der ‚dramatic line‘. Allerdings darf nicht ein einzelnes Lied für sich als Interpretationsaussage gesehen werden, sondern die Gesamtheit aller Chorpartien in einer Tragödie. Der Chor fungiert gleichsam als Prozesshelfer, der den Rezipienten beim Verständnis der Tragödie unterstützt. Dabei bilden die einzelnen Lieder nacheinander den Verstehensprozess ab, der letztlich zur Erkenntnis der Stückaussage führt. Widersprüche und Kontraste sind deshalb erlaubt, da Fehlschlüsse und Rückschritte natürlicher Bestandteil dieses Vorgangs sind.

      3. Die Chorlieder als mise-en-abyme der Tragödie

      Den Chorliedern liegt ein Prinzip zugrunde, das sowohl alle wichtigen inhaltlichen Komponenten mitberücksichtigt als auch eine Handreichung zum Verständnis der Tragödien darstellt. Dass die Chorlieder maßgeblich zur Deutung der Tragödien beitragen, wurde oftmals bemerkt. So konstatiert Lefèvre mit Rückbezug auf Marx: „Wenn W. Marx zu Recht behauptet hat, Senecas Chor stehe über den Ereignissen, seine Lieder seien nicht ein Akt der Hingabe, sondern eher eine Zugabe, er gewinne keine Einsicht, sondern habe eine Ansicht, er fühle sich vom Geschehen nicht angesprochen, sondern sage etwas dazu – darf man erwarten, daß Seneca die Deutung des Geschehens in den Chorliedern vorträgt.“1 Allerdings wird dieser Ansatz nicht konsequent weiter verfolgt. Zwar wird der Chor als objektiver Deuter angesehen, gleichzeitig werden ihm jedoch logische BrücheTragödienThyestes2 vorgeworfen, wenn die Chorlieder nicht zum Aktgeschehen passen.3 Ein erhellendes Bild liefert Kirichenko: „Es ist fast so, als sei der Chor ein an einem offenen Fenster stehender Passant, der alles, was sich innerhalb des Hauses abspielt, beobachten und sich sogar mit seinen Bewohnern unterhalten kann, der aber nicht in der Lage ist, irgendetwas dagegen zu unternehmen, wenn die Bewohner entscheiden, das Fenster von innen zuzuschließen.“4 Allerdings bleibt es nicht bei dieser passiven Rolle des Chores: Er ist nicht nur Beobachter, sondern auch Betroffener und vor allem Deuter, der die Funktion übernimmt, dem Zuschauer die Geschehnisse im Haus zusammenzufassen und zu erklären.

      Diese Deutung des Geschehens erfolgt nach einem fest disponierten Ablauf. Die Chorlieder spiegeln in chronologischer Abfolge die Kernaussagen der einzelnen Akte wider. Senecas Chorliedern ist in seinen Tragödien eine Schlüsselrolle zugedacht. Sie sind dafür verantwortlich, den Kern der Tragödie zu verdichten.5 Ihre Aufgabe ist es, die wichtigen Leitideen, die tragend für das Stück sind, geordnet aufzuzeigen. Das maßgebliche System, auf das sie sich zurückführen lassen, ist also ein literarisches. Sie bilden gleichsam eine Tragödie im Kleinen, die jedoch von sämtlicher Handlung entschlackt ist. Die Chorlieder formen den Leitfaden zur Interpretation der Tragödien. Diese reduzierende Spiegelung des Wesentlichen lässt sich literaturtheoretisch mit dem Begriff der mise-en-abyme fassen. Dällenbach hat eine umfassende Monographie zur Erklärung dieses Konzeptes vorgelegt.6 Ursprünglich stammt der Begriff aus der Heraldik und findet sich beschrieben bei Ménestrier: „Abime est le milieu & le centre de l’Ecu, quand on suppose que l’Ecu est rempli


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