Der Schlüssel zur Tragödie. Caroline Dänzer

Der Schlüssel zur Tragödie - Caroline Dänzer


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an das Lied enger erscheinen. Nach einigen Prodigien und dem Auftritt weiterer Gestalten aus der Unterwelt2 kommt Laius aus dem Totenreich herauf. Anstatt seinen Mörder zu benennen, prangert er an, dass Theben dem Frevel des maternus amor (629) verfallen sei.3 Er führt dies auch als den Grund für das Leiden seines Vaterlandes an, Götterzorn sei auszuschließen (patria, non ira deum, / sed scelere raperis, 630–631). Schließlich enthüllt Laius die Identität seines Mörders und denunziert einen König, sowohl den Vatermord als auch die Blutschande begangen zu haben (634–635). OedipusTragödienOedipus greift an diesem Punkt der Berichterstattung noch nicht in Creons Rede ein, da er immer noch keine Verbindung zu seiner eigenen Person sieht.TragödienOedipus4 Auch weitere Hinweise, so beispielsweise auf die Sphinx (640–641), führen nicht dazu, dass OedipusTragödienOedipus begreift. Erst als Creon von der konkreten Aufforderung an die Thebaner berichtet, ihren König zu vertreiben, um sich von der Pest zu befreien (647–653), beginnt OedipusTragödienOedipus zu ahnen, wer gemeint ist. Der beschworene Geist prophezeit gar noch in Andeutungen die Blendung (655–658), bevor er seinem Sohn Rache schwört und verschwindet. OedipusTragödienOedipus wird von heftiger Furcht ergriffen, doch er glaubt weiterhin an einen Irrtum, hält er doch Merope und Polybus für seine leiblichen Eltern. Auch für den Mord an Laius fühlt er sich nicht verantwortlich, denn er sieht keine Verbindung zu dem Mann, den er vor seiner Ankunft in Theben einst erschlug. Schließlich kommt er zu dem für ihn einzig logischen Schluss: Er wittert eine Verschwörung zwischen Creon und dem Seher Tiresias, die ihn vom Thron vertreiben wollten (669–670). Es folgt ein kurzer rhetorischer Schlagabtausch zwischen OedipusTragödienOedipus und Creon, der versucht, die Vorwürfe von sich zu weisen, und den König ermahnt, sich lieber in sein Schicksal zu fügen (tibi iam necesse est ferre fortunam tuam, 681).5 OedipusTragödienOedipus gebärdet sich jedoch despotisch und lässt sich zu einigen fragwürdigen Herrschaftsaussagen hinreißen (regna custodit metus, 704). Als Creon dem König immer wieder rhetorisch gewandt Paroli bietet, greift dieser schließlich zu Brachialgewalt, um den vermeintlichen Widersacher zum Schweigen zu bringen: Der König lässt seinen Schwager in Ketten legen und ins Verlies werfen. Diese Handlung zeugt von Tyrannei, doch dahinter steht vor allem die blanke Angst vor den unbegreiflichen Geschehnissen und Ahnungen, die ihn zu überwältigen drohen. Es geht hier nicht in erster Linie um die politische Zeichnung eines Tyrannen,6 sondern um die Illustration eines Gemütszustandes. OedipusTragödienOedipus befindet sich an dieser Stelle auf dem Gipfel seiner Verblendung und paradoxerweise am weitesten von der Wahrheit entfernt, wo sie doch das erste Mal im Stück klar ausgesprochen wurde.TragödienOedipusTragödienOedipusTragödienOedipus7 Den letzten konsequenten Schritt zur Lösung des Rätsels kann er nicht gehen, da er nicht in der Lage ist, das Pestleiden aus einem weitreichenden Ursachenkomplex zu lösen und es auf sich selbst zu beziehen.

      Auf dem Höhepunkt von OedipusTragödienOedipus’ Verzweiflung interveniert nun der Chor mit seinem dritten Lied (709–763). Die Anfangsverse wirken zunächst wie eine Entlastung des OedipusTragödienOedipus: Nicht er sei der Grund für Thebens Leid, sondern alter Götterzorn (non tu tantis causa periclis, / non haec Labdacidas petunt / fata, sed veteres deum / irae secuntur, 709–712). Es wird eine Erbschuld des thebanischen Volkes erwogen. Hierbei ist im Gegensatz zum zweiten Lied auffällig, dass allen folgenden Beispielen gemein ist, dass der göttliche Frevel nicht wissentlich begangen wurde.

      Zunächst beschreibt der Chor die Stadtgründung durch Cadmus, der sich auf der Suche nach seiner Schwester Europa schließlich auf Apolls Geheiß im thebanischen Gebiet niedergelassen habe (712–724). Sodann folgen einige Verse (726–730), die die Tötung des Drachen durch Cadmus beschreiben und der den Anfang einer Liste von nova monstra (724) bildet, die Theben im Laufe der Jahre heimsuchten. Die Tötung des Drachen ist deshalb von Belang, weil dieser ein Sohn des Ares war und Cadmus Theben somit bereits von der Gründung an Götterzorn aufgeladen hat. Allerdings lässt er sich auf den Kampf mit dem Ungeheuer nur ein, da dieses eine Quelle verteidigt, an der Cadmus Wasser für ein Jupiter-Opfer holen soll. Da der Drache dabei einen Großteil seiner Gefährten tötet, bleibt Cadmus nichts anderes übrig, als sich zu verteidigen. Die Tötung des Aressohnes ist also kein bewusster Fehltritt, denn Cadmus weiß nicht, um wen es sich bei seinem Gegner handelt, sondern im Gegenteil der Versuch, eine gottesfürchtige Handlung wie geheißen auszuführen. Für den Rezipienten des Chorliedes drängt sich erneut die Assoziation mit OedipusTragödienOedipus auf: Auch er begeht ohne Absicht ein nefas. Um zu verhindern, dass das Verhalten des Cadmus als vorsätzlicher Frevel wahrgenommen werden könnte, hält Seneca die Beschreibung der Begebenheiten bewusst knapp und spart Details aus. 8 Der ‚Nachwuchs‘, der aus den Zähnen des Drachen entsteht, die Sparten (731–750), die sich direkt nach ihrer Schöpfung bis auf wenige Ausnahmen gegenseitig töten, begründen die Tradition des Brudermords. Der Chor endet mit der Geschichte von Actaeon (751–763), der aufgrund des Zorns Dianas von seinen eigenen Hunden zerrissen wurde. Seit Ovid ist Actaeon vom Vorwurf der Hybris freigesprochen, da er die Göttin versehentlich erblickt und das Zusammentreffen nicht willentlich herbeigeführt hat.Ovidmet.Ovid9 Eine Abrundung des dritten Liedes fehlt. Dieser offene Schluss wirkt wie eine Einladung, die Geschichte bis zu OedipusTragödienOedipus selbst fortzuspinnen.10 Die Parallelen zwischen mythischer Vergangenheit und OedipusTragödienOedipus sind offensichtlich: Cadmus und OedipusTragödienOedipus erlangen beide ihr Reich durch Tötung eines Ungeheuers, beide müssen später ihr Leben in der Fremde beenden.11 Die Nennung der Sparten, die sich gegenseitig töten, verweist auf den kommenden Krieg zwischen Eteocles und Polyneices. Auch Actaeons Schicksal lässt sich mit dem des OedipusTragödienOedipus vergleichen, denn, wie Töchterle konstatiert: „Actaeon erkennt am Ausgangspunkt seines Übels, am Badeplatz der Diana, seine neue Natur, OedipusTragödienOedipus findet an seinem Ursprungsort seine wahre Identität.“12 Das dritte Chorlied mutete zunächst wie eine Exkulpierung von OedipusTragödienOedipus an. Dies scheitert jedoch, denn „[…] der Versuch des Chores, die Unschuldsbehauptung seines Königs mit mythologischen Beweisen zu stützen, schlägt für den Zuschauer ins Gegenteil um und stimmt ihn auf die Anagnorisis ein.“13 Neben den Anspielungen auf die thebanische Vergangenheit spiegelt das dritte Lied in der konzentrierten Form der mise-en-abyme vor allem die Frage nach der Ursache des Leidens wieder, die den dritten Akt dominiert hatte. Diese wird in einer Erbschuld gesehen, die eine höhere Macht verärgert habe. Dies erinnert zwar an die Antwort, die bereits das zweite Lied aufgezeigt hatte, doch die Konzeption ist hier eine andere: Hatten sich die Gegner des Bacchus im zweiten Lied noch bewusst auf ein Kräftemessen mit dem Gott eingelassen, geraten die Protagonisten der mythischen Beispiele hier unfreiwillig in eine Situation, die die Götter erzürnt. Seneca verzichtet hier interessanterweise auf eine erneute Anspielung auf den Pentheus-Mythos, obwohl er sich sonst im Stück wiederholt darauf bezieht.14 Da Pentheus ein Paradebeispiel für bewussten Götterfrevel ist, muss er ihn an dieser Stelle unbedingt aussparen. Obwohl in keinem der Beispiele also vorsätzlich ein Vergehen begangen wurde, ist die göttliche Strafe jedoch, unabhängig von der Motivation des Übeltäters, gleichermaßen hart. Die Situation erscheint somit am Ende des dritten Chorliedes unlösbar: Nefas wird bestraft, egal ob ein Vorsatz vorliegt oder nicht. Es findet keinerlei Differenzierung unter moralischen Kriterien statt, die bei einem scelus einen Täter entlasten könnten. Der vierte Akt setzt sich mit dieser hoffnungslosen Ausgangssituation auseinander.

      4.1.4. Utopie: Selbstbestimmung des Menschen

      OedipusTragödienOedipus erscheint wie verwandelt. So befindet er sich beinahe in derselben Stimmung wie im Prolog, als er, von dunklen Ahnungen geplagt, der Wahrheit schon nahe war. Er hat wieder eine reflexive Grundhaltung eingenommen, hält zum ersten Mal seit seiner Anfangsrede wieder einen Monolog (764–775) und besinnt sich auf sich selbst zurück.1 Er erinnert sich, lange vor seinem Regierungsantritt einen Mann im Streit erschlagen zu haben (768–769). Allerdings sieht er weiterhin keine Parallele zu dem Mord an Laius, hatte der Kampf doch fernab von Theben stattgefunden. Um einen Zusammenhang endgültig auszuschließen, forscht OedipusTragödienOedipus bei Iocaste genauer über die Umstände des Todes nach. OedipusTragödienOedipus muss in diesem Dialog (773–783) jedoch erkennen, dass tatsächlich er selbst Laius getötet hat (782–783). Um die Erkenntnis zu vervollkommnen, berichtet ein Bote vom Tod des Polybus


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