Der Schlüssel zur Tragödie. Caroline Dänzer

Der Schlüssel zur Tragödie - Caroline Dänzer


Скачать книгу
das Kind damals übergeben hatte, lassen keinen Zweifel mehr daran, dass es sich um OedipusTragödienOedipus gehandelt haben muss. Phorbas enthüllt schließlich auch das schreckliche Geheimnis des Inzests (coniuge est genitus tua, 867). Der folgende Monolog des OedipusTragödienOedipus kreist um die Strafe, die er für sich selbst für angemessen hält: Den Tod, an den er zunächst denkt, sieht er als unverhältnismäßig milde für seine Taten an und fordert sich zu einer noch härteren Selbstbestrafung auf (aude sceleribus dignum tuis, 879). Nach diesem Entschluss eilt er zum Palast, um Iocaste zu informieren.

      Der vierte Akt erklärt die Ursache der Pest: OedipusTragödienOedipus hat die Naturgesetze verletzt und somit seine ganze Stadt ins Unglück gestürzt. Die Tragik in der Figur des OedipusTragödienOedipus liegt darin, dass diese Missachtung der Natur nicht wissentlich geschieht, sondern gerade sein unbedingter Wille, die Prophezeiung zu vermeiden, ihn unerbittlich seinem Schicksal zuführt. OedipusTragödienOedipus hat versucht, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, ist damit jedoch gescheitert. Das vierte Lied (881–914) charakterisiert den Versuch einer freien Selbstbestimmung des Menschen als erstrebenswerte Utopie.

      Die ersten Verse äußern den Wunsch, das Leben nach eigenem Ermessen gestalten zu können (fata si liceat mihi / fingere arbitrio meo, 882–883). Ausgehend von der Prämisse der Selbstbestimmung spinnt der Chor diesen Gedanken weiter und erörtert die Lebensführung, die er nach eigenem Willen wählen würde, nämlich den Lebensweg an der goldenen Mitte zu orientieren (tuta me media vehat / vita decurrens via, 890–891). Dieses Ideal wird durch Seefahrtsmetaphern verdeutlicht (883–889).Horazcarm.HorazTragödienOedipus2 Der Chor untermalt die These sodann anhand des Beispiels von Daedalus und Icarus (892–908). Icarus wird äußerst negativ gezeichnet. So haften ihm in der Schilderung des Chores die Attribute der Unüberlegtheit (demens, 893) und Selbstüberschätzung (nimis imperat, 896–897) an, seine Flugbahn zeuge außerdem von Tollkühnheit. Das Meer wird nicht nach Icarus benannt,Horazcarm.Horaz3 sondern Icarus nimmt dem Meer gewaltsam seine ursprüngliche Bezeichnung (nomen eripuit freto, 897). Icarus wird als Paradebeispiel für das Missachten der aurea mediocritas dargestellt. Der Chor resümiert diese Beispiele und Metaphern in einer allgemeinen Lebensregel: Alles, was das Maß übersteigt, habe keine stabile Grundlage (quidquid excessit modum / pendet instabili loco, 909–910). Hier ist erneut eine Zuschauerassoziation mit OedipusTragödienOedipus intendiert, der sich die Königsherrschaft angemaßt habe. OedipusTragödienOedipus hatte im Prolog selbst über die Gefahren dieser exponierten Position reflektiert.4

      Der Chor wird an dieser Stelle jäh durch den Botenbericht eines Palastdieners unterbrochen. Es wirkt beinahe so, als hätte der Chor seinen Gedankengang noch nicht beendet, denn sein Bild des Lebens, das man nach freiem Willen und Maßgabe hehrer Ideale führen kann, verbleibt im Status einer Skizze, die noch schärferer Konturierung bedürfte. Doch die Weiterführung bleibt der Chor schuldig. Die Erklärung hierfür findet sich im letzten Chorlied. Auffällig im OedipusTragödienOedipus ist die Tatsache, dass es sich scheinbar um ein Stück mit sechs Akten und fünf Chorliedern handelt. Die letzten Akte sind jedoch eng miteinander verknüpft, was für die beiden letzten Chorlieder ebenso gilt. Das vierte Lied zeichnet die Utopie der Selbstbestimmung, das fünfte Lied beschreibt im direkten Anschluss daran die Realität des durch das fatum determinierten Menschen. Es handelt sich also vielmehr um eine Unterteilung der Lieder in 4a und 4b. Dasselbe gilt für die Schlussakte. Es würden sich für die letzten beiden Akte außergewöhnlich kurze Passagen ergeben. Auch inhaltlich ist der vermeintliche 6. Akt (998–1061) nicht mehr als ein kurzer Ausblick, um das Geschehen abzurunden, und hat somit den Status eines Epilogs. Es scheint plausibler, auch hier eine Unterteilung in 5a und 5b vorzunehmen.5

      4.1.5. Realität: Unausweichliche Determination durch das fatum

      An das Chorlied schließt sich der Auftakt des letzten Aktes an. Ein Botenbericht schildert die Selbstjustiz des OedipusTragödienOedipus nach der Anagnorisis. Dort wird auch wiedergegeben, wie OedipusTragödienOedipus seine Bestrafung begründet. Der Tod sei nicht hart genug, da er ermögliche, dem Schicksal zu entrinnen. Dies sei eine Erlösung und keine Strafe. Der Selbstmord als Ausweg bleibe somit Menschen vorbehalten, die sich weniger vorzuwerfen hätten. Der Tod sei zwar angemessen für einen Vatermörder, nicht aber für einen, der ein inzestuöses Verhältnis mit seiner Mutter gepflegt habe, da dies eine Perversion der Naturgesetze sei (natura in uno vertit Oedipoda, 943). An der Formulierung des Verses zeigt sich die innere Spannung, die OedipusTragödienOedipus zerreißt: Die treibende Macht der Katastrophe ist als Subjekt des Satzes die Natur selbst. OedipusTragödienOedipus ist nur Spielball ihrer Machenschaften. Gleichwohl befindet er sich seiner Vergehen schuldig, da er sie ja begangen hat.TragödienOedipus1 Sein ganzes Streben, dem Schicksalsspruch zu entgehen, muss ihm völlig sinnlos erscheinen, denn er erkennt nun, dass er dem Schicksal in die Hände gespielt hat. Er muss einen Weg finden, um sich vor dem Sturz in die Absurdität zu schützen. Sein SophoklesSchicksal im Nachhinein anzunehmen, kann nicht ausreichen. Es gilt, eine geeignete Bestrafung zu finden, um die Verbrechen zu sühnen. Die Ablehnung des Selbstmordes ist auffällig, da die Stoa diesen gerade für solch ausweglose Situationen empfiehlt.TragödienPhoenissae2 Doch OedipusTragödienOedipus will nicht fliehen, sondern strafen. Passend erscheint ihm die Methode der Blendung. Dies sei weitaus schlimmer TragödienPhoenissaeals der Tod, würde so doch ein langsames, besonders qualvolles Dahinsiechen befördert, das jeglichen Lebensgenuss verhindere TragödienTroades(949–951).3 Es ist allerdings fraglich, ob Seneca die Entscheidung des OedipusTragödienOedipus positiv bewerten wollte. Die grausige, detailgetreue Beschreibung des Aktes der Blendung selbst (958–974)TragödienOedipusTragödienOedipus4 hebt vielmehr ihre Unverhältnismäßigkeit hervor.TragödienOedipus5 Die Bestrafung des OedipusTragödienOedipus resultiert nicht aus rationaler Überlegung und bewusster Entscheidung, sondern aus einem übersteigerten Affekt.TragödienOedipus6 In scharfem Kontrast zu diesem drastischen Bild hebt nun der Chor zu seinem letzten Lied (980–997) an und entspinnt eine abschließende philosophische Reflexion, die an das vierte Lied anknüpft.

      Er singt von der Macht des Schicksals, der sich niemand widersetzen könne (fatis agimur: cedite fatis, 980). Die gleichmäßigen anapästischen Dimeter verleihen dem Lied eine bedrückende und resignierende Note. Die Parzen hielten die Lebensfäden stets fest in der Hand, eine Veränderung des Lebenslaufes sei nicht möglich (981–986). Der Mensch sei von der Wiege bis zur Bahre determiniert (primusque dies dedit extremum, 988). Kein Gott könne diese Tatsache verändern (non illa deo vertisse licet, 998), Beten sei zwecklos in Anbetracht dieser unumstößlichen Ordnung (it cuique ratus prece non ulla / mobilis ordo, 991–992). Sein Schicksal zu fürchten und vor ihm davonlaufen zu wollen, mache alles nur noch schlimmer (multis ipsum metuisse nocet / multi ad fatum venere suum / dum fata timent, 993–995).7 Anders als im vorhergehenden Lied verzichtet der Chor hier auf ein Exempel. Zuvor hatte das Icarus-Motiv dazu gedient, erneut Assoziationen mit OedipusTragödienOedipus zu wecken. Am Ende des letzten Liedes folgt stattdessen eine Überleitung (995–997), die den nach seiner Blendung auftretenden Oedipus TragödienOedipusankündigt. Der Zuschauer muss an dieser Stelle die Bezüge nicht mehr selbst herstellen: OedipusTragödienOedipus fungiert hier als lebendes Beispiel.

      Iocaste eilt hinzu und wird mit der rasenden Agaue verglichen (1004–1006). Der Vergleich mit der Mutter des Pentheus ist an dieser Stelle das erste Mal explizit aufgeführt und rundet so die Reihe der Anspielungen auf die Episode ab. Auch Iocaste hat von dem Inzest mit ihrem Sohn erfahren. Sie versucht, die Schuld dem Schicksal allein zuzuschreiben, denn niemand könne schuldig werden, wenn das Schicksal es von vorneherein bestimmt habe (fati ista culpa est: nemo fit fato nocens, 1019).8 Iocaste wählt hier die stoische Argumentationsweise der Schuldlosigkeit bei fehlendem Vorsatz. OedipusTragödienOedipus lässt sich jedoch auf diese Erklärungsstrategie nicht ein. Es stellt sich für ihn nicht die Frage nach der objektiv feststellbaren Schuld, für ihn ist klar, dass er im Bewusstsein seiner Taten nur über die Selbstbestrafung bis zu einem gewissen Grade seinen inneren Frieden wiedererlangen kann. Iocaste wählt daraufhin den Selbstmord und ersticht sich mit dem Schwert, bezeichnenderweise


Скачать книгу