Das Traummosaik. Paul Walz

Das Traummosaik - Paul Walz


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sich nichts anmerken und schlenderte plaudernd über den mit Linoleum ausgelegten Flur in Richtung Finklers Büro.

      Abteilung III beschäftigte nur eine Handvoll Beamte, die alle darauf spezialisiert waren, der organisierten Kriminalität zu Leibe zu rücken. Hier hatte sich scheinbar nichts verändert. Wände, die einen Anstrich vertragen hätten, Türrahmen, die von aneckenden Aktenwagen beschädigt waren, armselige Pflanzen, die schon auf den Fensterbänken gestanden hatten, bevor Finkler ausgefallen war.

      Eine der Türen stand offen. Kommissar Matthias Schäfer, der Glatzkopf, saß wie immer vor dem Bildschirm und analysierte die Ergebnisse irgendwelcher Spurenanalysen. Er nickte Finkler mit zurückhaltendem Lächeln zu.

      »Wieder da?«

      Finkler nickte zurück und Schäfer widmete sich ohne weitere Fragen wieder seiner Arbeit. Mehr nicht, nach sechs Monaten Koma und Reha. Finkler schluckte.

      »Ich muss dich vorwarnen«, sagte Bender in einem ernsteren Ton, »in deinem Büro sitzt ein Neuer. Er …«

      Finkler blieb konsterniert stehen.

      »Wie bitte? Aber das …«

      Er brach ab.

      »Wir brauchten Ersatz, die Arbeit macht sich nicht von selbst und Güdner kommt nicht wieder.«

      Finkler versuchte, die Fassung wiederzuerlangen. Aber natürlich, die Welt drehte sich weiter und leere Schreibtische wurden wieder besetzt.

      »Was ist mit Achims Sachen?«

      »Wir haben alles Private an seine Frau gegeben.«

      Finkler schwieg. Als sie vor seinem Büro angekommen waren, schloss er seine Hand um den Griff, nickte Bender zu und gab ihm zu verstehen, dass er das jetzt alleine machen würde. Bender nickte und legte ihm ermutigend die Hand auf die Schulter.

      »Gut, dass du es bis hierhin geschafft hast. Den Rest kriegst du auch noch gebacken.«

      Finkler wartete, bis der Kollege um die Ecke verschwunden war. Das letzte Mal, dass er an dieser Tür gestanden hatte, war an einem hellen Maitag gewesen und Güdner hatte von den Plänen fürs kommende Wochenende erzählt: eine Familienwanderung im Taunus. Mittlerweile lagen Lebkuchen in den Regalen und die Läden bereiteten sich auf das Weihnachtsgeschäft vor. Und Güdner war tot.

      Irgendwann merkte Finkler, dass er nicht mehr wusste, wie lange er schon reglos hier gestanden hatte. Er holte tief Luft – dann ging er hinein.

      Das Büro schien verändert. Güdners Unordnung war verschwunden und an seinem Schreibtisch saß der Neue. Er sprang auf und reichte Finkler die Hand. »Lukas Schulz.«

      Der neue Kollege war älter, als Finkler erwartet hatte, kein Anfänger mehr und fast ebenso groß wie er selbst. Nun sah er Finkler mit geradem Blick aus blauen Augen an und drückte ihm fest die Hand.

      »Tut mir leid, dass ich Ihr Büro belagere!«

      »Nicht doch. Was können Sie dafür?«

      »Ich habe mich hierher versetzen lassen.« Schulz lächelte vorsichtig und strich sich durch die hellen Haare. »Einen Monat nach Ihrem Unfall.«

      Finkler wusste nicht, was er antworten sollte. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, schaltete den Bildschirm ein und kam nicht mehr weiter.

      In seinem Kopf herrschte die völlige Leere, die ihn seit dem Erwachen aus dem Koma begleitete. Es war, als ob er zum ersten Mal mit diesem System arbeiten würde. Ziellos tippte er auf der Tastatur herum, um so zu tun, als ob er weiterkäme, ohne das Geringste zu erreichen.

      »Oben rechts in der Ecke auf das kleine Quadrat, danach Ihre E-Mail-Adresse und das neue Passwort, das Sie in dem Umschlag dort finden.«

      Ihre Blicke trafen sich einen Augenblick und Finkler hoffte, dass Schulz nicht erfasste, wo das Problem wirklich lag. Er nickte und griff nach dem Umschlag, während er seinen Kollegen musterte. Ein scharfsinniger Mann, er würde ihn im Auge behalten.

      ***

      Als Finkler ins Vorzimmer des Chefs kam, strahlte Carla Hesse.

      »Da ist er ja. Unser Held!«

      Finkler hob abwehrend die Hände und schüttelte den Kopf. Gleichzeitig musste er ein Grinsen über ihr knallbuntes Outfit unterdrücken, dessen Farbkombination er nicht einmal an Karneval riskiert hätte. Aber eigentlich passte es gut zu ihr, genauso wie ihre rot gefärbten Haare. Carla hatte nie geheiratet, vielleicht, weil sie jahrelang ihre Mutter gepflegt hatte. Seit deren Tod konzentrierte sie ihre überschüssige Energie auf ihre getigerte Katze. Und auf den Zusammenhalt der Abteilung. Ohne ihr Zutun würden die Geburtstage vergessen, gäbe es keine Weihnachtsfeier und wohl auch keinen Betriebsausflug. Wenn man ein Problem hatte oder eine Information brauchte, war man bei ihr genau richtig. Er fühlte sich zum ersten Mal an diesem Morgen wirklich zurückgekehrt.

      »Das mit Güdner hat uns alle schwer getroffen.« Es entstand eine Pause, in der sich kurz ein Schatten über ihr Gesicht legte, doch dann lächelte sie wieder. »Und deshalb ist es umso schöner, Sie wieder im Dienst zu sehen.«

      Es klang wie ein Abschlusssatz, jedoch machte Carla Hesse keine Anstalten, ihn über die Gegensprechanlage beim Chef zu melden. Vielmehr begutachtete sie ohne jede Scheu die Stelle, an der die Ärzte Finkler ein Stück der Schädelplatte herausgeschnitten hatten, um den Druck der Blutung zu senken, und an der jetzt wulstiges Gewebe breit die kurz geschnittenen Haare durchfurchte.

      »Darf ich ehrlich sein? Ihr Kopf sieht furchtbar aus.«

      Finkler war von vorneherein klar gewesen, dass er bei Carla Hesse nicht so einfach davonkommen würde wie bei Bender und Schulz, die ihn nicht mit Nachfragen gelöchert hatten. Carlas Währung waren Informationen und die wollte sie jetzt von ihm bekommen. Er tat ihr den Gefallen, nahm dankend einen Kaffee und erzählte, was er sich während der Reha als Geschichte für solche Momente zurechtgelegt hatte. Er hoffte, dass das Wenige, das er preisgab, genug sein würde, um glaubwürdig zu bleiben und keine Nachfragen zu provozieren, die er nicht beantworten wollte.

      Nachdem er ihr von seinem schweren Weg zurück ins Leben, seiner zweiten Geburt, wie er es nannte, berichtet und ihr gezeigt hatte, wie mühsam sich wochenlang wenig bewegte Sehnen wieder dehnten, wie schwer sich Worte nach einem Koma wiederfanden, machte er eine kurze Pause und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. Eine Kunstpause vor seinen Abschlusssätzen, die sich bisher bei allen als sehr wirkungsvoll erwiesen hatte.

      »Im Prinzip hatte ich Glück. Nach der Glasgow-Koma-Skala gehöre ich zu einer ganz kleinen Gruppe von Patienten, die sich davon wirklich gut erholen.« Er hätte die Worte inzwischen im Schlaf herunterbeten können, so oft hatte er sie von den Ärzten gehört. »Zwischen dreißig und vierzig Prozent schaffen es nicht, weitere zehn bleiben geistig so beschädigt, dass sie im Wachkoma dahinvegetieren. Ich bin einer von Wenigen, die wirklich wieder fit werden, eine Ausnahme.«

      Es entstand eine weitere Pause, in der Carla ihn mitfühlend anblickte.

      »Was ist mit dem Lkw-Fahrer?«, fragte sie schließlich.

      Finkler schüttelte den Kopf. »Nein, die Kollegen haben nichts in der Hand.« Und obwohl ihm klar war, dass sie sicherlich auf Stand war, ergänzte er: »Nach wie vor weiß keiner, wer mich und Achim überfahren hat.«

      »Ich hoffe, dass man den Dreckskerl irgendwann findet«, sagte Carla Hesse schließlich und drückte den Knopf der Gegensprechanlage, um ihn bei seinem Chef anzumelden.

      ***

      Procks Büro war groß und wie immer unaufgeräumt. Der kleine Besprechungstisch, an den der Chef Finkler bat, war vollgestapelt mit Akten, die Prock nun umständlich auf den Boden legte, während er sich laufend die langen Haarsträhnen über seine fortschreitende Halbglatze strich. Er hatte ein rundes Gesicht, an dessen Seiten mit der Zeit Fettpolster so wahllos entstanden waren, als hätten sich kleine Kinder mäßig erfolgreich darum bemüht, sie zu modellieren. Nicht umsonst nannte ihn die Belegschaft hinter vorgehaltener Hand »Französische Bulldogge«.

      Finkler mochte Prock. In seinen Augen war er ein


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