Das Traummosaik. Paul Walz

Das Traummosaik - Paul Walz


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mit uns das weitere Vorgehen diskutieren.«

      Finkler ließ sich auf seinen Stuhl fallen. »Das müssen wir auf mittags legen, ich hab um elf einen Arzttermin.«

      Die Zeit vor dem Termin bei Sarah Herbst verbrachte er erneut mit Aktenstudium im Rosetti-Fall. Er stieß auf neue Einzelheiten, auf Details, die ihm bisher entgangen waren. Ein Mann namens Ferrini hatte eine erboste Aussage gemacht, in der er auf die Verbrecher schimpfte, die ihn und seine Frau aus dem Restaurant werfen wollten. Er hatte sich kampfbereit gezeigt und Anzeige erstattet, die er kurz darauf jedoch wieder zurückzog. Laut Aktenlage hatte später niemand bei den Wirtsleuten nachgehakt und versucht, sie zu einer erneuten Anzeige zu bewegen, was man in solchen Fällen eigentlich immer tat.

      Finkler machte sich eine Notiz.

      Insgesamt waren die neuen Erkenntnisse jedoch zu vage. Vor allem fühlte Finkler sich noch nicht imstande, eine Gesamteinschätzung des Falls abzugeben. Die Aufzeichnungen schienen ihm nach wie vor unvollständig, ohne dass er das an einem konkreten Punkt festmachen konnte. Doch passte das Ganze nicht zu ihrer üblichen Routine.

      Wieso hatten er und Güdner die Aktenführung dermaßen vernachlässigt? Es war nie seine Art gewesen, Berichte lange liegen zu lassen. Und auch Güdner war gewissenhaft gewesen, hatte nie geschlampt oder Dinge auf die lange Bank geschoben. Was war passiert? Hatten sich die Ereignisse überschlagen, sodass sie mit den Berichten nicht mehr nachgekommen waren? Gab es Notizen oder Nebenakten, die inzwischen an anderer Stelle gelagert wurden? Hatte Güdner einen Teil der Akten mit zu sich nach Hause genommen? Das war zwar nicht erlaubt, aber daran hielt sich keiner. Finkler würde ihn nicht mehr fragen können.

      Er war so in seine Gedanken versunken, dass er fast die Uhr aus dem Blick verlor und sich beeilen musste, um nicht zu spät zu seinem Termin zu kommen. Doch letztlich war er es, der warten musste.

      »Als Gutachterin bei Gericht ist es manchmal wie im Irrenhaus«, entschuldigte sich Sarah Herbst, als sie endlich durch die Tür eilte.

      Sie streifte die Jacke ihres dunkelblauen Kostüms ab, sichtlich erleichtert, dessen Enge zu entkommen. Dann nestelte sie an ihrem Zopf, zog den Haargummi heraus, um die dunklen Locken durchzuschütteln.

      »Dann mal los.« Sie setzte sich ihm gegenüber und lächelte.

      Einen Augenblick lang blieb sein Blick an der Narbe hängen, die sich unterhalb des linken Ohrläppchens in einem gezackten Bogen über die Wange bis ans Kinn zog. Sie teilte ihre Erscheinung in zwei Hälften, Yin und Yang, die gute Seite und die böse Seite. Sah man ihr Profil von rechts, war sie von makelloser Schönheit, von links jedoch bot sich dem Betrachter ein Bild brutaler Zerstörung. Er hatte sich an den Anblick gewöhnt.

      »Hast du wieder geträumt?«

      Finkler nickte. »Zum ersten Mal den kompletten Unfall. Es war alles so plastisch, als wäre ich wirklich dabei. Ich könnte dir von den Gerüchen erzählen, dem Geräusch des Motors, Achims Gesicht, als …«

      Er stockte kurz und erzählte ihr dann den Traum und seinen Besuch am Unfallort in allen Details.

      Eine steile Furche zeigte sich auf Sarahs Stirn. »Mach so etwas nie wieder ohne mich, du weißt nie, was passiert.«

      »In Ordnung. Verstehst du, was ich meine? Ich habe die Augen des Kerls gesehen. Das war kein Unfall, das war Absicht. Der wollte mich umbringen!«

      Die Kollegen waren damals aufgrund der Beweislage von einem unerfahrenen Fahrer ausgegangen, der über den von ihm gestohlenen Lkw die Kontrolle verloren und dann Unfallflucht begangen hatte. Wenn die Tat jedoch Absicht gewesen war, änderte das die Lage vollkommen.

      Sarah dachte nach. »Was du erlebt oder geträumt hast, ist, ich will es mal einfach formulieren, wie ein Remake. Dein Gehirn vermischt Dinge miteinander, die das Unterbewusstsein als traumatisch wahrgenommen hat oder mit diesen in Verbindung bringt. Es verknüpft Gehörtes mit verschütteten Ereignissen. So entsteht Neues mit einem wahren Kern oder einem Bezug zu wirklichen Ereignissen. Du darfst nicht alles für bare Münze nehmen, was du in den Träumen erlebst. Das Gesicht kann genauso gut einem Mann gehören, mit dem du lediglich Böses verbindest.«

      »Und was, wenn nicht, wenn es ein Anschlag war?«

      Sie breitete die Arme aus. »Beweise es. Ich kann es nur vermuten. Aber zurück zu dir. Anscheinend treten jetzt auch intrusive Erinnerungen an den traumatischen Moment in Erscheinung, während du wach bist. Flashbacks, getriggert durch den Ort. Und sicher haben die einen Bezug zur Realität.« Sie machte eine kurze Pause und entschied sich offenbar, es nicht weiter auszuführen. »Auf alle Fälle ist es viel zu riskant, wenn du dich solchen Triggern einfach so aussetzt. Dir kann wer weiß was passieren.«

      »Wärst du bereit, mit mir noch mal dort hinzugehen?«

      »Du willst dich dem noch einmal aussetzen?«

      »Vielleicht hilft es mir, mehr über den Unfallhergang herauszufinden. Und warum Güdner und ich an dem Tag dort gewesen sind.«

      Man sah ihr an, dass sie seine Idee nicht mochte.

      »Ich weiß es nicht. Aus medizinischer Sicht sind die Risiken zwar nicht sonderlich groß, doch psychologisch gesehen, kann es uns um Monate zurückwerfen. Ich …«

      Sein Telefon schnitt ihr den Satz ab. Es war Bender. »Tut mir leid.« Finkler zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Da muss ich rangehen.«

      Sarah stand auf, setzte sich an den Schreibtisch und machte sich Notizen.

      Benders Stimme am Telefon klang ungeduldig. »Wo steckst du? Es wurde eine Tote gefunden. Sie liegt unter einem Parkplatz in einem Hohlraum. Der Chef meint, es könnte für die OK interessant sein, da eigentlich nur die Clans die Leichen so verscharren. Kannst du sofort hinfahren? Schulz und ich kommen auch gleich.«

      »Ich denke, ich soll an dem alten Fall bleiben?«

      »Du musst nicht mit mir streiten. Frag Prock.«

      »Na gut, gib mir die Adresse, ich fahre hin.« Er wandte sich an Sarah. »Ich muss los, das nächste Mal ohne Handy.«

      Er war schon fast draußen, als sie ihn noch einmal aufhielt. »Ich weiß, dass du Antworten suchst, aber du kannst die Dinge nicht erzwingen. Dein Gehirn folgt keiner Logik und das gilt auch für das, was du in deinen Träumen und Intrusionen erlebst. Wir müssen die Bilder genau analysieren und die Wahrheit herausschälen. Erwarte nur nicht zu viel. Manche Frage wird unbeantwortet bleiben.«

      3

      Blaulicht kreiste und die Straße war abgesperrt. Finkler parkte und stieg aus. Zum Glück regnete es nicht mehr, der schneidende Ostwind ließ ihn jedoch die Jacke enger um den Leib ziehen. Er schwor sich, am Nachmittag die Winterjacke aus der Sommerpause zu holen.

      Ein Streifenpolizist stellte sich ihm in den Weg, doch er zeigte seinen Ausweis und ging zur Wohnanlage.

      In der ruhigen Seitenstraße war zwischen die Gründerzeithäuser, die den Bombardements des Zweiten Weltkriegs standgehalten hatten, ein Bau gepfercht worden, der wie ein Fremdkörper wirkte. Die Materialien waren zwar hochwertig und es war zu vermuten, dass die gut zwanzig Wohnungen sehr teuer sein mussten, allerdings hatte sich der Architekt nicht die Mühe gemacht, den Stil an die Nachbarhäuser anzupassen. Sichtbeton und dunkle Aluminiumfenster beherrschten die Fassade.

      Hinter der Anlage ließ ein einzelner Baum am Rand des Parkdecks kahle Äste in den Himmel ragen.

      Schulz und Bender schienen noch nicht da zu sein. Nur Erich Koller winkte ihm zu und beobachtete, wie er frierend näher kam.

      »Wird langsam Winter.« Koller trug ein dünnes Blouson. Hinter ihm lag ein Baukran auf der Seite. »Die Eigentümer wollen in der obersten Wohnung Dachgauben einsetzen lassen. Deshalb haben sie das Ding da«, er zeigte auf den Kran, »in Einzelteilen durch die Einfahrt hereingebracht und zusammengesetzt. Der Wind hat es in der vergangenen Nacht umgeblasen. Erst waren sie noch erleichtert, dass das Monstrum nicht in die Nachbargärten gekracht ist.«

      »Aber?«

      Koller


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