Der Weg nach unten. Franz Jung

Der Weg nach unten - Franz Jung


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vollzog sich langsam genug. Die Militärbeamten, obwohl meist im Offiziersrang, wurden von den aktiven Militärs nicht für voll genommen und über die Achsel angesehen; es bestand kaum ein gesellschaftlicher Verkehr. Das schweißte die beiden Beamtenschichten beinahe automatisch zusammen, und es bildete sich allmählich aus dieser Zwischenschicht eine neue Kaste, zu der schließlich auch die jüngeren Militärs gesellschaftlich geladen wurden, die Offiziersanwärter, die sogenannten Avantageurs, die Kadetten der Kriegsakademie und die jungen Lieutenants, soweit sie aus bürgerlichem Hause stammten. Die so entstehende Tendenz zur Auflockerung, zufällig wie sie entstanden sein mag, gab dem gesellschaftlichen Leben in Neiße nach außen hin das Gepräge. Die einzelnen Kasten hatten das Bedürfnis, sich zu beweisen, nach außen hin sich sichtbarer zu machen, als dies vielleicht sonst notwendig gewesen wäre, es entstand beinahe so etwas wie eine gegenseitige Konkurrenz, besonders auf dem Gebiet kultureller Ansprüche und Veranstaltungen. Ich komme sogleich darauf zurück.

      Es ist notwendig, diese Bewegung in der Verschiebung der Schichten hier aufzuzeigen, weil sie besonders typisch ist für das Jahrzehnt vor dem ersten Weltkrieg. Sie wird meist zu Unrecht von den Geschichtsschreibern übergangen, die in dem gröberen und billiger zu erklärenden Gegensatz zwischen Unternehmertum und Arbeiterschaft steckenbleiben. Den dünnen Zwischenschichten zwischen den Kasten und noch mehr der sich überaus zaghaft entwickelnden neuen Kaste innerhalb der Industriearbeiterschaft in einigen Teilen Deutschlands (die katholischen Arbeitervereine in Oberschlesien ausgenommen) fehlte jede innere Bindung und Tradition. Sie war daher auch unfähig, die kommende soziale Entwicklung, deren Gegensätze sich erst nach dem Kriege schärfer abzeichneten, vorauszusehen oder zu verstehen, noch weniger zu meistern. Neiße war hierin typisch auch für das übrige Preußen, Deutschland zu sagen, wäre eine Übertreibung: Bayern oder Sachsen waren uns so nah oder so fern wie Frankreich oder Spanien, wir lernten nur die Hauptstädte in der Klippschule.

      Die Kasten, für sich allein gesehen, sind keine ursprünglichen sozialen Gegensätze gewesen, auch wenn sie eine in sich abgegrenzte andere Lebensform und eine andere Lebenserwartung hatten. Als nach dem Kriege in den ersten Revolutionsjahren die Kastentrennung beseitigt schien – der bereits ein Jahrzehnt früher ausgetragene Kampf gegen das Drei-Klassen-Wahlrecht in Preußen ist im Wesentlichen von den bürgerlichen Schichten gewonnen worden, den kleinen Kaufleuten und Handwerkern – hatten die Arbeiter in Wirklichkeit keine anderen sozialen Forderungen, als sich satt zu essen; das hatten sie aber auch schon früher getan.

      Die Arbeiter, sofern sie als Klasse angesprochen werden, sind gegen jede soziale Entwicklung. Das erklärt das völlige Versagen in den Revolutionsjahren. Die Arbeiterschicht beginnt sich bereits als Kaste abzugrenzen in der Gewerkschaftsbewegung, die in den westlichen Ländern und Amerika dabei ist, die gesellschaftliche Struktur zu bestimmen nach Beruf, Vordermann und Führungsanspruch, nach dem Bargeld, was jeder aus der Gesellschaft herauspressen kann, und der Lohntüte.

      In Neiße gab es keine Arbeiter. Ich hätte das alles sonst schon früher erkannt und mir die Illusionen, die Verbitterung und den Leerlauf eines langen Lebens sparen können. Aber in Neiße hat es angefangen …

      Aus der allgemeinen Unsicherheit in der Festlegung gesellschaftlichen Ansehens und der Stellung innerhalb der Zwischenschichten entstand ein Drang nach Auflockerung, der eine größere kulturelle Aufgeschlossenheit zur Folge hatte. Kultur wäre danach gleichzusetzen mit der Unsicherheit, mit Angst und Unwissen – wie es wohl auch allenthalben in der Geschichte gewesen ist. Letzten Endes kreist die Frage um den Sinn des Lebens und bleibt unbeantwortet; am Rande aber spielt man bereits mit der Frage nach dem Woher und Wohin, der Frage nach dem Warum und Wozu, natürlich noch in der engen Erwartung persönlichen Wohlergehens. Jeder hat einen Teil der Antwort, jeder weiß etwas, und jeder will zu Worte kommen.

      Die Entwicklung in Neiße, in die ich hineingewachsen bin, zeigt dies deutlich. Es tat sich kein Widerstand auf, kein Muckertum, was man in einer solch streng katholischen Stadt hätte erwarten können. Zwar gab es keine von oben gesteuerte Ermunterung und keine Snobs, die für irgendwelche kulturellen Ziele etwa Geld geopfert hätten, aber es war eine wohlwollende echte Duldung vorhanden. Trotz der im Verhältnis geringen Bevölkerungszahl besaß Neiße ein das ganze Jahr über spielendes Stadttheater, mit je einer eingeschobenen Saison für Oper und Operette. Es gab künstlerisch geschulte Kirchenchöre, Symphoniekonzerte in einer Sommerreihe und im Winter, und einen ständigen Zustrom von Künstlern und Vortragenden, die in der üblichen Tournee-Route Wien–Breslau–Berlin auch in Neiße zwischengebucht wurden.

      Die großen politischen Ereignisse dieser Jahre sind in Neiße kaum beachtet worden. Die Leute vertraten dabei anscheinend die ganz vernünftige Ansicht, dass es auf sie und ihre Meinung sowieso nicht angekommen wäre: Der Burenkrieg und der spanisch-amerikanische Krieg, eine Anzahl Balkan-Kriege, die Eskapaden Kaiser Wilhelms und die Flottenparaden, der Boxeraufstand in China … das deutsche Expeditionskorps wurde in Neiße zusammengestellt und ist hier auch wieder demobilisiert worden. Das hatte zur Folge, dass Neiße mit chinesischen Kunstschätzen überschwemmt wurde. Kunsthändler aus allen Teilen Deutschlands erschienen in Neiße, um noch etwas von der Beute zu erwischen und für billiges Geld einen goldenen Buddha gegen eine silberne Taschenuhr einzutauschen.

      Von diesen Begebnissen blieb wenig in Neiße haften.

      Weit mehr, dass ein deutschstämmiger Zentrumspfarrer in Gleiwitz den polnischen Abgeordneten Korfanty, der im preußischen Abgeordnetenhaus für den Anschluss Oberschlesiens an Polen sich ausgesprochen hatte, kirchlich getraut hat. Dass bei einer Übung der Pioniere beim Brückenbau über die Neiße ein Dutzend Soldaten ertrunken sind und die Neißer Zeitung den Hauptmann daraufhin einen Soldatenschinder genannt hat, was ebenfalls im Abgeordnetenhaus zur Sprache gekommen ist; der verantwortliche Redakteur wurde zu einigen Monaten Gefängnis verurteilt. Das war sehr aufregend, denn der Redakteur war ein enger Freund meines Vaters und täglich bei uns im Uhrmacherladen anzutreffen.

      Widerstand gegen den Impfzwang und die nachfolgenden Polizeistrafen gegen die Eltern, der Aufmarsch der Naturheilbewegung, Prießnitz auf der einen Seite, Pfarrer Kneipp mit seinen Anhängern auf der andern, der Bau eines offenen Schwimmbades in der Neiße gegen das Verbot des Stadtmagistrats, der Nietzsche-Kult … mein Vater war mit einem Freunde, dem schlesischen Dichter Philo vom Walde, der zugleich mein Klassenlehrer war, nach Weimar gepilgert und hat dort Nietzsche in einem Zimmer am Tisch sitzend sehen können, wie der Vater später erzählte, durch eine breite Glastür von einer Vorhalle aus, nachdem ein Diener das Trinkgeld einkassiert hatte. Die Botschaft des neuen Dramas: Ibsen, Strindberg, Gerhart Hauptmann und der Dichterkreis um Stefan George – wir diskutierten darüber schon als Sekundaner in der Deutsch-Klasse.

      Daran hatte einen großen Anteil die Neißer Judenschaft. Eine neutrale, aber sehr solide Brücke zwischen den Kasten, allerdings auch nur eine Kaste für sich. Die Neißer Juden waren Inhaber der großen Warengeschäfte am Ring und repräsentierten für die Stadt das, was man Respektabilität nennt. Sie beeinflussten den Spielplan des Theaters und das Engagement der Akteure, vom Theaterdirektor bis zum kleinsten Schauspieler, garantierten den Kartenvorverkauf für die durchreisenden Künstler und hielten Berliner Zeitungen und führende Zeitschriften im Abonnement. Ich weiß von diesen Familien selbst wenig. Es galt als eine große Ehre, mit ihnen in Verbindung zu stehen, und zwar unterschiedslos für alle drei Kasten. Ich weiß nur von den Söhnen, die studiert und sich in Neiße niedergelassen hatten, Ärzte, Rechtsanwälte oder Apotheker. Ich kannte wiederum nur deren Söhne, die in der gleichen Altersklasse zu den wenigen Freunden gehörten, die ich in Neiße besaß.

      Aus der Struktur der Bevölkerungsschichten und ihrer wirtschaftlichen Aufteilung hätte man für die Stadt auf eine gleichmäßige und ruhige Entwicklung zu einem bescheidenen Wohlstand schließen müssen. Das Gegenteil war der Fall. Die Offiziere machten Schulden, die Kriegsschüler, die nicht zurückstehen durften, die höheren Beamten und jedermann, der es seinem gesellschaftlichen Ruf schuldig zu sein glaubte. Diesen Leuten war es unter ihrer Würde, für Waren und Dienste bar zu zahlen. Und: eine Rechnung ins Haus zu schicken, war eine Beleidigung, die den sofortigen Verlust der Kundschaft zur Folge hatte. So gerieten auch die Erstlieferanten in Schulden, die Kaufleute, Delikatessenhändler und Gastwirte, die Schneider und Schuster, Klempner und Tischler, die ihrerseits ihre Lieferanten nicht bezahlen konnten. Nach einiger Zeit, oft nach Monaten, wenn der persönliche Kredit


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