Der Weg nach unten. Franz Jung

Der Weg nach unten - Franz Jung


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die Figuren … sind schärfer geworden, von Jahr zu Jahr, leuchtender und zwingender. Es wäre vergeblich, dem entfliehen zu wollen oder zu vergessen; die neue Gegenwart holt den Zögernden ein.

      Ich weiß heute, wenn ich noch einmal das Bild im Glanz der Breite und Tiefenperspektive ganz in mich aufnehmen werde, so wird dies bei vollem Bewusstsein der letzte Anblick meines Lebens sein. Ich gestehe, dass ich einer solchen Möglichkeit oft genug ausgewichen bin. Ich hätte diese Landschaft sehen können in den Fjorden im nördlichen Norwegen, an der italienischen und französischen Riviera, auch bei Loctudy in der Bretagne, besonders aber an den oberitalienischen Seen und im Tessin … eine Landzunge, die sich in eine Bucht vorschiebt, der breite Horizont als Hintergrund, See im Rückspiegel des Lichts, die Sonne wird hinter den Bergen stehen. Schon mehr nach dem Vordergrund zu Tupfen von weißen Wolken im Blau.

      Von der Landzunge steigt nach rechts ein Weg auf zu einer Anhöhe, anschließend eine Welle von Hügeln, die Bucht abzuschließen. Oben wird der Weg weitergehen, an einer Reihe von kleinen Häusern entlang, ausgerichtet in Linie, die Fronten weiß, die Dächer flach mit rotem und blauem Rand.

      Es wird an einem Feiertag gewesen sein, an einem Sonntagvormittag, frischer Glanz ist noch ringsum. Aus einem Einschnitt hinter der Landzunge ist ein langes Boot in die Bucht hinausgefahren. Man sieht, wie es eben die Spitze der Landzunge umfahren hat und jetzt in der freien See aufzukreuzen beginnt. Geputzte Menschen sitzen in dem Boot, stehen und schwenken die Hüte und Tücher. Es ist Musik im Boot, Geigen – Guitarren – Blasinstrumente, man sieht das nicht, ich erinnere mich nicht … aber sie singen, die Gäste, die Ausflügler; das weiß ich.

      Es wäre gar nicht nötig gewesen, dass ich die längste Zeit Umwege gemacht habe, diese Landschaft zu meiden, oder wenn ich schon davor gestanden bin, die Augen fest zu schließen. Das sind die Missverständnisse. Das Bild ist längst nach innen geschlagen, Teil einer Lebensfunktion, die nicht einmal mehr besonders interessiert. Ich muss sowieso damit fertig werden, wenn es so weit sein wird. Es liegt mir außerdem nicht. Ich liebe die Leere und die Weite, wo man nicht mehr über die Menschen, sondern über Dämonen stolpern wird. Ich liebe die Wüste, die Dürre, das Aufbäumen vor dem letzten Atemzug, die Revolte in der Wurzel, deren Stauden und Blätter oben bereits abgestorben sind. Und ich liebe die großen tiefen Wälder, in deren Dunkel ich mich verlieren will.

      Mit dem Bild eng verbunden ist der große Mann, der sich über das Bett beugt und zu mir gesprochen hat. Ich sehe noch den Helm und den Flitter des Waffenrocks. Das ist der Mann, der bei den Eltern gewohnt hat und den ich Onkel genannt habe. Er ist damals zu einer der gelegentlichen Reserveübungen eingezogen gewesen; später habe ich ihn niemals mehr in Uniform gesehen. Damals muss eine Katastrophe eingetreten sein, so gingen jedenfalls später vage Gerüchte innerhalb der Verwandtschaft; die Eltern hätten sowieso nicht zu mir darüber gesprochen. Der Onkel hatte seine Berufsaussichten verloren und blieb in einer untergeordneten Stellung beim Landratsamt – so habe ich ihn kennengelernt. In dieser ersten Erinnerung hat mich die Uniform keineswegs erschreckt, und der Helm … der hatte etwas Leuchtendes um sich.

      In welcher Verbindung der Onkel zu den Eltern stand, habe ich nicht erfahren und auch niemals danach gefragt. Es herrschte da eine Atmosphäre, die dergleichen einfach von selbst verbot. Es müssen gemeinsame Interessen gewesen sein, die den Onkel mit den Eltern, vor allem mit dem Vater verbanden; er schien studiert zu haben, war sehr musikalisch, mit einer ausgebildeten Tenorstimme und hatte sehr weitgehende allgemeine philosophische und selbst politische Ansichten, die den Vater interessiert hatten. Zu meiner Zeit bestand zwischen ihm und dem Vater keine Verbindung mehr. Ich könnte beinahe sagen, dass die beiden überhaupt nicht miteinander gesprochen haben. Mit der Mutter nur insoweit, dass beide sich über die wöchentlichen Abrechnungen für den Haushalt zu unterhalten pflegten und dabei auch zumeist über irgendwelche Sonderzuschüsse, die immer scheint’s gebilligt worden sind; Streit darüber gab es nie.

      Der Onkel wohnte im Oberstock des Hauses. Später hatten meine Schwester und ich dort auch ein Zimmer. In dem Berliner Zimmer, an das ich mich so deutlich erinnere, saß ich mit dem Onkel zum Mittagessen allein, meist eine Stunde später als die Übrigen; ich kam zur gleichen Zeit aus der Schule wie der Onkel aus dem Büro.

      Abends wurde es nicht mehr so genau genommen. Der Onkel kam sowieso später zu Tisch, weil er meist über die Zeit mit Freunden Billard spielte. Der Vater war schon wieder unten in der Werkstatt. Der Onkel half mir dann später bei den Schularbeiten und hörte ab, was ich etwa auswendig zu lernen hatte. Zu dieser Zeit war er nicht viel mehr, als was man einen möblierten Herrn zu nennen pflegte, mit Familienanschluss. Ich bin nicht neugierig gewesen, aber ich muss die ganzen Jahre eine Unterströmung gefühlt haben, die dem widersprochen hat. Es gehört zu den entscheidenden Phasen dieser Kindheitsjahre, dass ich in ständiger Angst war, der Onkel könnte sich mit den Eltern entzweien; es wäre eine unausdenkbare Katastrophe gewesen. –

      Ich möchte das noch klarer ausdrücken: Ich bin völlig von dem Onkel abhängig gewesen, in allen meinen tastenden Bemühungen, in die Umwelt hineinzuwachsen, in den ersten Regungen, mich auf eigene Füße zu stellen. Übertreibung zu sagen, ich hätte ihn geliebt als Fünfjähriger, als Zehnjähriger, wie einen Vater, einen Bruder oder einen Onkel. Es war trotzdem mehr – er war meine Zuflucht, mein Schutz, mein Halt … so zu sprechen, obwohl ich nie gezwungen gewesen bin, diesen Schutz in Anspruch zu nehmen. Ich wuchs auf mit dem Onkel, bei dem Onkel und durch den Onkel, keineswegs etwa im Gegensatz zu den Eltern, obwohl mir das niemand glauben wird; aber es war eben so. Ich hätte nicht dies oder jenes tun können, was die Eltern verboten hatten und was der Onkel sicherlich geduldet hätte – er griff niemals in solche Entwicklungsschwankungen eines Kindes ein. Ich konnte zu ihm laufen, ich konnte ihn um etwas bitten – was ich selten genug getan habe –, Geld für Kuchenabfälle, Bruchschokolade, selbst für eine Schachtel Bleisoldaten oder gar ein Buch konnte ich mir anderweitig beschaffen, im schlimmsten Falle bei dringendem Notstand habe ich es aus der Ladenkasse genommen.

      Ich zitterte für den Onkel, wenn er, was später öfter vorkam, abends überhaupt nicht zum Essen erschien, weil dann die Mutter ihm Vorwürfe machte.

      Und bei alledem haben wir eigentlich wenig gesprochen, der Onkel und ich, keine Belehrungen, keine Erzählungen von seinen vielen Reisen, nichts, was eine direkte persönliche Verbindung geschaffen hätte, an die man sich klammem kann, wenn sie für die Dauer gegenwärtig bleibt, wie etwa die Beziehung zum Vater.

      Ich bin sehr oft mit dem Onkel sonntags ins Gebirge gefahren. Wir sind gelaufen und gestiegen und gewandert; gesprochen wurde nicht viel, aber es ist großartig gewesen. Später nahm er meist auf seinen Fahrten die Freunde, mit denen er im Stadtcafé Billard zu spielen pflegte, mit. Ich war nur noch selten dabei; ich kannte die Leute nicht; ich mochte sie auch nicht Auf einer dieser Fahrten ist der Onkel dann verunglückt. In eine Lawine geraten, Rippen gebrochen und innere Verletzungen; die Begleiter wurden als Tote geborgen. Für einige Tage war das sehr aufregend. Schließlich verlor ich aber jedes Interesse, scheint’s – die Zeit geht weiter, immer geht die Zeit weiter.

      Einige Monate später ist der Onkel gestorben, in einem Sanatorium in Zuckmantel, im Österreichischen, mit dem Fahrrad eine gute Stunde von Neiße. Ich habe ihn dort einmal besucht, Routine – ich denke, meine Eltern werden mich geschickt haben. Vom Krankenzimmer sah man durch ein breites Fenster auf die Berge – die Koppen des Altvater-Gebirges zum Greifen nahe. Der Onkel konnte das vom Bett aus sehen. Ich stand die ganze Zeit am Fenster … dorthin werde ich gehen, immerzu und ein ganzes Leben lang wandern, die Bergwege hinauf und hinunter. An den bevorstehenden Tod des Kranken, den zu besuchen ich gekommen war, habe ich dabei weniger gedacht. Es ist der Onkel, der mich auf den Weg bringen wird. Wir gehen zusammen, ich werde folgen mit kürzeren und schnellen Schritten, dem weitausholend Voranschreitenden, wie es eben immer so gewesen ist. Ich bin in diesem Krankenzimmer sehr traurig gewesen, aber nicht eigentlich unglücklich.

      Später, solange ich noch in Neiße die Schule besuchte, fuhr ich die Ferien über in die Berge, allein und ohne bestimmtes Ziel, die große Kammwanderung bis ins Riesengebirge und in die Lausitzer Berge. Entfernungen haben mir nichts ausgemacht. Ich habe die Herbergen gemieden und den verlassenen Unterstand eines Grenzwächters vorgezogen, um die Nacht dort zu verbringen. Oft habe ich einfach vergessen, in die Gebirgsbauden einzukehren, Milch und Brot zu kaufen. Ich habe von Beeren gelebt


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