Der Klavierschüler. Lea Singer
daran war nur eins: diese Ruhe, nach dem, was gewesen war.
Gelassen sagte der Fremde: Gute Nacht. Folgsam schloss Kaufmann die Tür des Gästezimmers hinter sich.
Nico Kaufmann hatte einen Schlaf, um den ihn alle anderen in seinem Alter beneideten; ganz gleich was er gegessen hatte, selbst nach einer Schwerarbeiterportion Rösti oder Raclette, sobald er sich hinlegte, war er weg und schlief durch bis zum nächsten Morgen. Jetzt starrte er um halb zwei Uhr früh an die Decke. Unverdaut lag der Satz des Fremden in seinem Magen. Ohne dieses Stück wäre ich jetzt seit vierzehn Stunden und dreißig, vielleicht vierzig Minuten tot. Ihn fror. Es musste dem Fremden doch bewusst sein, dass seinen Gastgeber dieser Satz umtrieb. In Kaufmanns Besorgnis knisterte Misstrauen. Vielleicht war sein Angebot mit dem Gästezimmer attraktiv, weil es anonym war. Dass er dem Gastgeber mit seiner Heimlichtuerei den Schlaf raubte, war dem Gast offenbar egal. Aus dem Misstrauen begann Wut zu züngeln. Kaufmann war in Versuchung aufzustehen, am Zimmer nebenan zu klopfen und den Fremden wachzurütteln, falls er schlief.
Gastfreundschaft ist heilig, hörte er seine Mutter lächelnd sagen, wenn ein Gast eines ihrer gehüteten Kristallgläser mit Goldrand zerschlagen hatte. Dann eben nicht.
Da hörte er etwas anderes. Keinen Satz, ein Datum, das der Fremde an seine erste Begegnung mit der Träumerei geheftet hatte: vor dreißig Jahren, 1956.
Kaufmann zog seinen Morgenmantel an und schlich in seinen alten Seidenpantoffeln den Flur entlang ins Musikzimmer.
Er setzte sich nicht in den bequemen Sessel, sondern auf das hartgepolsterte Kirschholzsofa. Sein Blick fiel auf den Steinway-Flügel und das Schwarzweißfoto darauf im Silberrahmen, ein großes Foto, das einzige im Raum. Die handschriftliche Widmung über dem Autogramm kannte er auswendig.
Für Nico. Übung macht den Meister. Zum Künstler wird man nicht geboren, zum Künstler muss man sich erziehen. Das ist auch schon oft gesagt worden. Aber wenn man auf diesem Ohr nicht hört, dann viel Glück zur Fahrt in die brillante Mittelmäßigkeit.
1956, vor dreißig Jahren, hatte Nico Kaufmann, diplomierter Dirigent, diplomierter Pianist, diplomierter Komponist, jene Fahrt bereits beendet. Mit vierzig war er längst dort gelandet, in der brillanten Mittelmäßigkeit.
In der Pianobar des Grandhotel Baur au Lac konnte er damit noch Eindruck schinden bei Gästen, die zu wenig verstanden von klassischer Musik. Wer etwas verstand, der mied die Pianobar oder genoss die brillante Mittelmäßigkeit als Schaumbad. Kaufmann war froh um das Honorar, das man ihm dort zahlte; was Barbesucher neben den Champagnergläsern auf dem Silbertablett liegen ließen, stockte es noch erheblich auf.
Seine Arrangements und Kompositionen von Bühnenmusiken, Tanzeinlagen und Couplets für Cabarets oder Privattheater brachten ihm zwar Freunde ein, sogar Kenner und Liebhaber, aber nicht ausreichend Bares. Im Baur au Lac behandelte man ihn pfleglich. Er kam an, dieser Barpianist, in Frack oder Dinnerjacket, Revers handpikiert, eine Nelke oder Gardenie im Knopfloch, Manieren eines Grandseigneurs, vollendeter Handkuss, gebildeter Small Talk, auch auf Französisch, und vor allem diese Unbeschwertheit. Sie fehlte anderen Barpianisten meistens. Kaufmann selbst kannte sie, die Kollegen, denen bei einem spendierten Getränk mühelos ein Lamento über die Ungerechtigkeit des Schicksals und all die Intrigen zu entlocken war, welche den Weg zu den Sternen verbarrikadiert hatten. Mozart kam oft drin vor und Seufzer wie: Hätte ich mit fünf Jahren …
Vater Kaufmann, Dr. med. Willy Kaufmann, praktischer Arzt sowie Freizeitkomponist von Soldatenliedern, hatte seinen Sohn Nico, als er sechs war, in ein Mozartkostüm gesteckt und öffentlich auftreten lassen. Als er neun war, hatte der Vater ihn zum Ausnahmetalent erklärt, als er mit zwölf ein Weihnachtslied komponierte und ein Jahr später zum Klavier- und Orgelstudium ins Konservatorium aufgenommen wurde, zum Genie. So begann eine Karriere, die in brillanter Mittelmäßigkeit enden musste. Aber das hatte Nico erst erkannt, als es zu spät war.
Der Mann, der ihn davor bewahren wollte, blass, schmales Gesicht, abstehende Ohren, ausgeprägte Nase, schwarze engstehende Augen, stark umschattet, das dunkle Haar hart gescheitelt, schwieg im Silberrahmen, vorwurfsvoll oder enttäuscht oder beides.
Der Fremde trat ein, ohne anzuklopfen. Barfuß war er in die Hose geschlüpft, das Hemd offen. Er hielt inne. Kaufmann deutete auf den bequemen Sessel.
Der Fremde folgte Kaufmanns Blick, drehte den Sessel und setzte sich so, dass auch er nun auf den Flügel schaute.
Das Foto war zu groß, die handschriftliche Widmung darauf zu mächtig, der Porträtierte zu eindeutig nicht mit Kaufmann verwandt und zu spektakulär melancholisch, als dass sich die Frage vermeiden ließ, was es damit auf sich habe. Bisher hatte noch jeder danach gefragt.
Ich frage mich …, sagte der Fremde.
Er brach ab, schaute weiter zum Flügel.
Ja?, sagte Kaufmann.
… ob ich ein anderer geworden wäre, wenn ich ein Instrument gelernt hätte. Da kann einem die Welt nie so eng werden, dass der einzige Ausweg tödlich ist. Durch die Musik leuchten doch immer Möglichkeiten.
War es das, woran ihn die Träumerei erinnerte, an andere, bessere, bunte Möglichkeiten, die er mit fünfzehn noch gesehen hatte? Kaufmann wartete ab. Möglichkeiten … Im Juni 1956, Anfang Juni war es gewesen, hatte er im Baur au Lac sein übliches Programm abgespult und gerade pausiert, als sich spätabends ein Mann im schwarzen Anzug mit Geigenkasten nicht weit vom Flügel entfernt hinsetzte, seine Krawatte vom Hals nahm, über die Lehne legte, bestellte und dem Kellner etwas zuflüsterte.
Wodka? Üblicherweise wurde bei Kaufmann hier mit Champagner, weiß oder rosé, für eine Wunschmusik geworben. Der Mann mit dem Geigenkasten, Anfang, Mitte fünfzig, grüßte grinsend mit seinem Glas, wohl ebenfalls Wodka. Die Träumerei von Schumann, das wurde selten erbeten.
Die anderen Barbesucher drehten sich nach dem Geiger um, der nach den drei Minuten wild applaudierte.
Erst als Kaufmann direkt vor ihm stand, erkannte er ihn wieder.
Er hätte es wissen können, Festwochen in der Tonhalle, Plakate mit dem Namen von Nathan Milstein und Otto Klemperer klebten seit Wochen an den Litfaßsäulen.
Sie spielen das besser als Volodja, wirklich, noch immer, sagte Milstein. Ich habe es erst vor Kurzem von ihm gehört, eine seiner Lieblingszugaben nach wie vor.
Enttäuscht oder vorwurfsvoll oder beides sah er den Lehrer von einst daheim im Silberrahmen vor sich. Vorbei, verscherzt die Möglichkeiten, seine Möglichkeiten früher. Nur in diesem kleinen Stück leuchteten sie noch auf für drei Minuten.
Der Fremde konnte nicht ahnen, was dieses Datum bei seinem Gastgeber losgetreten hatte. Er schien sich ohnehin nur für sich selbst zu interessieren.
Kaufmann zog sein Taschentuch aus dem Ärmel und schnäuzte die Erinnerung weg. Jetzt war die Chance da.
Woran denken Sie, wenn Sie die Träumerei hören?
Der Fremde fing zu reden an, ohne das Gesicht zu wenden, als spräche er mit dem Flügel.
Der Job war gut, niemand fragte nach meinem Ausweis, meine Eltern waren stolz darauf, dass ihr minderjähriger Sohn abends und an Wochenenden in einem solchen Haus arbeiten durfte, das sie nie zu betreten gewagt hätten. Aschenbecher leeren, die kleinen Tische abwischen, Feuer reichen, Gebäckschalen verteilen, Krümel wegkehren, darauf achten, dass nirgendwo der Rand eines Perserteppichs hochgeschlagen war. Meine Mutter war sicher, dass Gott mir diesen Job in der Pianobar des Baur au Lac beschafft hatte. Anfangs war mir fast alles fremd. Meine Schuhsohlen waren Parkett und Teppiche nicht gewohnt, meine Nase keinen Parfum- und Havannadunst. Nur was der Barpianist spielte, war mir vertraut. Im Kreis 4 habe ich von Kindheit an durchs offene Fenster die Musik der anderen gehört. Sehnsuchtsschlager ohne Worte, die kannte jeder auswendig. Palmen am blauen Meer, braune Mädchen auf Kuba, Sterne über Colombo, dazwischen Filmmusik von Casablanca bis Some like it hot.
Erst ein paar Mal hatte ich einem Gast etwas aufs Zimmer bringen dürfen, dafür gab es die Etagenkellner. Es war schon ziemlich spät, als es hieß: