Der Klavierschüler. Lea Singer

Der Klavierschüler - Lea Singer


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Geöffnet hat er selbst. Er war etwas kleiner als ich, und ich hätte ihn vermutlich wegen der tiefen Falten zwischen Nasenflügeln und Mundwinkeln für mindestens fünfzehn Jahre älter gehalten. Es waren aber nur zwölf. Der Tisch war zum Tee gedeckt, für zwei. Keine Musik, kein Radio, kein Grammofon.

      Horowitz setzte sich so, dass er meine Hände von der Seite sah beim Spielen. Sagte wenig. Langsamer, kam es irgendwann. Da steht Crescendo, nicht Accelerando. Lauter werden heißt nicht schneller werden. Oder: Singen, mit den Fingern singen. Er sprach mit russischem Akzent. Mein Deutsch ist schrecklich, entschuldigte er sich, mein Vater sprach fehlerfrei, welcher Schande, sagt man das?

      Als ich den Deckel zuklappen wollte, stand er auf und legte sein Jackett ab. Er wog nicht viel, Bizeps hatte er auch keinen. Über dem Bauch spannte sein Hemd, ein rotes Hemd. Er roch nach einem Parfum aus Veilchen, Lavendel und Kaffeebohnen und nach Zigaretten. Mit zwei Fingern korrigierte er meine Handhaltung. Seine Hände waren schmal, eher klein, weiß und haarlos, die Finger lang, knochig, die Enden stumpf. Was mir auffiel, war die Muskulatur seiner Daumen.

      Kaufmann nahm Roberts Hand. Sehen Sie, hier, wo es sich bei Ihnen oder mir nur leicht wölbt, saß bei ihm eine beinharte Halbkugel.

      Ich wartete auf sein Urteil. Er legte seine Hand auf meine Schulter. Sie sind musikalisch, sagte er. Aber Klavier spielen können sie nicht.

      Kaufmann spannte den Schirm auf, gab ihn Robert und setzte sich neben ihm in Bewegung Richtung Norden.

      Gibt es bei Ihnen auch Sätze, die Sie nie vergessen?

      Sogar einen ganz frischen, sagte Robert. Gestern fuhr ich mit der Fähre über den See, von Meilen nach Horgen. Ein alter Mann, der offenbar nichts anderes tut, als mit der Fähre hin und her zu fahren und da an seinem Stammplatz nistet, sagte: Sie sehen aus, als würden Sie zum ersten Mal ans andere Ufer fahren.

      Und?, fragte Kaufmann. Hatte er recht?

      Hatte Horowitz recht?, fragte Robert.

      Es war Darjeeling, machte Kaufmann weiter, und er schenkte ihn von weit oben ein. Ich sollte nicht, sagte er, als er den zweiten Löffel Zucker in seine Tasse rieseln ließ, aber ich brauche es. Dann zog er seine Hosenbeine hoch. Seine Waden waren steckendünn, trotz der weißen Bandagen. Eine Venenentzündung, sagte er, noch immer nicht ganz ausgestanden. Sie haben mich nach einer Blinddarmoperation zehn Tage liegen lassen.

      Das mit den zehn Tagen hat er zwei Mal wiederholt. Den Pariser Ärzten habe er schon vorher misstraut, alle prominenten Chirurgen abgeklappert, jedes Mal das Gleiche: Ihr Blinddarm ist völlig in Ordnung, was wollen Sie? Jeder verweigerte ihm die Operation. Einer hatte sich schließlich breitschlagen lassen. Aus den zehn Tagen wurden drei Monate, nur wegen der Venen. Seine Amerikatournee musste er absagen. Und dann kam eine Bemerkung, die mich irritierte, das weiß ich noch. Sie kam ganz leise. Gut für die Nerven, schlecht für die Seele, sagte Horowitz. Die Dämonen lieben die Untätigen.

      Beide Spaziergänger hielten den Mund, Kaufmann summte eine Passage aus dem langsamen Satz des Dritten von Rachmaninow, bis sie vor dem Bernoullianum standen, sogar unter dem wieder stärker gießenden Gewölk ein adrettes kleines Bildungsschloss. Mich hat die Architektur, die Geschichte der ehemaligen Sternwarte, die Bibliothek und all das hier nie interessiert, nur der Park nebendran.

      Er schwenkte nach rechts; die Wege unter den noch fast kahlen Bäumen nass, das lichte Grün troff.

      Auf dem Heimweg in meine Pension habe ich hier immer welche getroffen, die wie ich heiß darauf waren, jemand Neuen zu entflammen.

      Horowitz hatte davon keine Ahnung. Er hatte mich zum Abendessen eingeladen, ziemlich teuer, Champagner, Spargel, pochierter Rhein-Salm, Erdbeeren mit Vanille-Glacé. Mir schien das eine Art Pflaster auf die Wunde zu sein, die er mir zugefügt hatte, außerdem kannte er in Basel anscheinend außer den Bernoullis keine Menschenseele. Nach dem Abendessen spendierte er noch einen Drink in der Bar drei Häuser weiter. Der Alkohol hatte mich träge gemacht. Es traf mich aus dem Nichts. Ich habe einen Erholungsurlaub in Luzern gebucht, sagte Horowitz. Soll ich Ihnen dort ein paar Lektionen geben?

      Kaufmann machte eine Pause, als erschreckte er noch immer.

      Es geschah auf dem Rückweg. Meine Manieren funktionierten noch, ich wollte ihn heimbegleiten; mein Hirn war konfus. Warum wollte er, der bisher keinen einzigen Schüler hatte, sich im Urlaub eines schlechten Klavierspielers annehmen, mit einundzwanzig eh zu alt für die große Karriere? Von seinem Privatleben wusste ich nur, was jeder wusste. Über diese Sensationsehe hatten sogar die Schweizer Hausfrauenblätter berichtet: Der berühmteste Pianist der Welt heiratet die Tochter des berühmtesten Dirigenten der Welt. Wanda Toscanini war nur Tochter von Beruf und sah auf Fotos nicht sehr verführerisch aus, eher wie ein mürrischer Mann in Haute Couture. Trotzdem, es war sein Urlaub. Und dann ein Schüler, der Ärger versprach. Was sollte das?

      Robert blieb stehen, weil Kaufmann stehen blieb.

      Ja, ziemlich genau hier war’s, im Windschatten. Horowitz wollte eine rauchen. Er hielt die Zigarette zwischen den ausgestreckten Fingern, ich durchwühlte meine Taschen nach meinem Feuerzeug. Als ich ihm endlich Feuer gab, nahm er seine Zigarette aus dem Mund, ließ sie auf den Boden fallen und küsste mich.

      Langsam wandte Robert sein Gesicht zu Kaufmann.

      Er lächelte.

      V

      Der Vierwaldstätter See schlief an diesem Nach- mittag. Sein Blau war unbewegt und tief, und die Wälder um ihn her träumten. Noch störten die Fremden nicht.

      Auf dem Parkplatz mit Aussicht stand nur ein alter Peugeot, daneben zwei Männer.

      Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen, sagte Kaufmann ins Weite. Wie schön er ist.

      Aber Ertrinken ist wie Ersticken, kam Roberts Stimme von der Seite. Kein angenehmer Tod.

      Ich hätte erwartet, dass Sie schwimmen können. Kaufmanns Harmlosigkeit war wasserdicht.

      Robert schnappte nach Luft, setzte sich hinters Steuer und ließ den Motor an. Wie viel wusste er?

      Vermeiden lassen würde es sich nicht, dass Kaufmann erfuhr, mit wem er da in seine Vergangenheit reiste. Robert konnte sich selbst nicht erklären, warum dieses Niemandsland, in dem er sich seit gestern aufhielt, so viel bedeutete und er es so lange wie möglich verteidigen wollte. Gut, als Kind hatte er sich schon eine Tarnkappe wie Siegfried gewünscht, der sah, ohne gesehen zu werden. Keiner erfuhr mehr über die anderen und über das, was sie von einem selbst hielten.

      In den letzten Jahren hatte er seinen Psychoanalytiker beneidet, kein Ehering, keine Selbstauskunft, weder sexuell noch politisch oder ideologisch, auf jede Frage dieser Art immer nur mit bedeckter Stimme: Was vermuten Sie?

      Kurz nach der Stadteinfahrt von Luzern kurbelte Kaufmann an der ersten roten Ampel das Fenster herunter und fragte, wie man zur Furrengasse komme.

      Es sei klüger, hieß es, das Auto im Parkhaus loszuwerden und zu Fuß dorthin zu gehen.

      In der Furrengasse war es still. Keine Geschäfte, keine Cafés, keine Restaurants, unterwegs war nur eine Frau, die am Rollator hängend den beiden Männern entgegenkam, nun aber keinen Schritt mehr von der Stelle tat und die Eindringlinge ins Visier nahm.

      Los war hier damals schon nichts, sagte Kaufmann. Meinem Vater war das mehr als recht. Er hatte persönlich das Zimmer für mich ausgesucht. Die Neugier der Anwohner war Teil einer Alarmanlage.

      Kühl wehte den Spaziergängern der Geruch von Mörtel und frischem Beton entgegen. Vor einer Baulücke, die Nachbargebäude rechts und links abgestützt, seufzte Kaufmann: Unsere Spuren werden vernichtet, vielleicht gut so. Hier hat es gestanden, ein Haus aus dem siebzehnten Jahrhundert oder noch älter. Die Treppen knarzten, die Dielen knarzten, und Madame war Witwe und schlief schlecht. Das war der andere Teil der Alarmanlage. Spätes unbemerktes Heimkommen unmöglich, schon gar nicht in Begleitung. Er grinste. Es war nicht Horowitz, dem mein Vater misstraute, der hatte keinerlei Verdacht erweckt. Sein erster Brief an mich war ans Elternhaus in Zürich adressiert, wo ich am Wochenende hinfuhr, die Basler Pensionswirtin


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