Der Reporter. Jacques Berndorf

Der Reporter - Jacques Berndorf


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verzog sein Gesicht. »Weißt du, wir gehen mit euch. In diesem Laden hier wird man verrückt vor Krach.« Er bezahlte, und wir drängten uns hinaus.

      Kohler stand vor dem Wagen und scharrte mit der Schuhspitze über den festgefahrenen Schnee. Er sah uns nicht an. Ich kannte diesen Zustand bei ihm, wenn er getrunken hatte. Ich sagte schnell: »Junge, Bernhold ist hier, und das ist Ellen. Sie wohnen im gleichen Haus.« Kohler gab erst dem Mädchen, dann Bernhold die Hand. Er murmelte verlegen: »Gibt es Fotos?« Er fand sich in dieser Welt nie zurecht, wenn er Angst hatte. Und ganz einfache Dinge wurden unbezwingbare Probleme.

      »Nichts von Bedeutung«, sagte Bernhold. »Ihr habt gar nichts versäumt, Jungens. Können wir mit euch fahren?«

      Wir fuhren in diese Pension, und Bernhold berichtete unterwegs dem Mädchen lautstark von irgendeiner Geschichte, die er zusammen mit mir erlebt hatte. Ich glaube, es war ein Sexualverbrechen in Hannover.

      Das »Moulin des fleurs« war ein altes, graues Haus. Aber die Wirtsleute hatten es freundlich eingerichtet mit Lampenschirmen aus karierten Bauernstoffen und glatten, weißen Holztischen, wie man sie in allen netten billigen Kneipen findet.

      Kohler sagte hastig: »Kognak, Madame!« Er musste immer etwas trinken, wenn er wach war, ehe die Furcht erneut von ihm Besitz ergriff und in ihm bohrte. Er nannte diese Furcht »mein Schraubenzieher«.

      Die Frau sah ihn an und unterbrach die lästige Prozedur des Einschreibens in das Gästebuch. Sie zog den Mund breit, als wisse sie alles, und kam nach einem Augenblick mit einer Flasche Hennessy und einem Glas wieder, die sie auf einen von der Rezeption weit entfernten kleinen Tisch stellte, als wisse sie auch, dass Kohler allein damit fertigwerden müsse.

      »Trag mich ein«, sagte Kohler und ging zu dem Tischchen.

      »Nimm von den Pillen«, sagte ich.

      »Scheißpillen«, sagte Bernhold. »Lieber soll er saufen.« Er lachte das Mädchen an, das sehr verwirrt war und wohl nichts von alldem verstand.

      Als ich uns eingetragen hatte und meinen Koffer nahm, war Kohler schon wieder in Ordnung. Aus der Flasche fehlte mehr als ein Viertel. »Wir machen uns schnell fertig«, sagte ich zu Bernhold und dem Mädchen. »Geht ihr mit uns essen?«

      »Natürlich«, sagte Bernhold. »Ihr Jungs von der Illustrierten könnt uns arme Schlucker ja mal einladen.«

      Ich telefonierte vom Zimmer aus mit Eichhörnchen und sagte ihr, dass alles in Ordnung sei. »Aber es ist lausig kalt.«

      »Ich habe im Fernsehen etwas von einhundertsiebzehn Toten gehört«, sagte sie. »Ist das richtig?«

      »Ja«, sagte ich, »aber ich weiß bis jetzt noch nichts.«

      »Aber du hast nicht einmal Skistiefel bei dir. Wird es lange dauern?«

      »Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Sehr lange kann es nicht dauern. Übermorgen Abend wird das Heft geschlossen. Wenn wir bis dahin nichts haben, werden wir zurückgepfiffen. Wie geht es Ann?«

      »Gut«, sagte sie. »Im Kindergarten hat sie ein Bild für dich gemalt. Eine Sonne und darunter ein Haus, und du schaust aus dem Fenster.«

      »Das ist fein«, sagte ich. »Mach’s gut.«

      »Vergisst du es nicht?«

      »Nein, sicher nicht. Ich hab’ dich lieb.«

      »Ich dich auch«, sagte sie.

      Kohler klopfte und kam herein. Er setzte sich in einen der Sessel und nahm sein Gesicht in beide Hände. Er war ganz ruhig. Es war schwer zu glauben, dass er mit seinen lächerlichen vierundzwanzig Jahren so viel Furcht vor etwas hatte, das er nicht kannte. Er murmelte: »Wer ist dieses Mädchen?«

      »Irgendeine Anfängerin«, sagte ich. »Sie heißt Ellen Sowieso.«

      »Schläft Bernhold mit ihr?«

      »Was weiß ich?«

      »Ich werde es versuchen. Das macht mich ruhiger als alle diese verdammten Pillen und der Kognak. Sie hat graue Augen. Meine Zunge fühlt sich an wie ein Brett.«

      »Aber du brauchst doch nicht zu saufen«, sagte ich.

      »Nein«, sagte er. »Die Ärzte sagen, es ist vegetative Dystonie, und sie machen dabei ein ernstes Gesicht. So ein richtig verständnisvolles Doktorgesicht. Aber frag sie bloß nie, was vegetative Dystonie ist. Sie wissen es nämlich nicht. Sie scheißen sich in die eigene Tasche, diese Herren Mediziner. Sie sind so intensiv beschissen, dass sie nicht einmal auf die Idee kommen, einer ihrer Patienten könnte ebenso intelligent sein wie sie. Na ja, auf jeden Fall kommt es so plötzlich, dass ich es mit Saufen schneller abfangen kann als mit Pillen. Die Pillen wirken erst nach zwanzig Minuten, der Kognak sofort. Das ist es.«

      »Du lieber Himmel«, sagte ich, »du wirst doch zwanzig Minuten Angst durchstehen.«

      »Nein«, sagte er.

      Obwohl ich damals schon seit einem Jahr mit ihm zusammenarbeitete, hatten wir niemals großartig über seinen Zustand gesprochen. Ich wusste nur, dass er fast immer Mut hatte, wenn es um eine gefährliche Sache ging, und das war das Wichtigste. Aber die Angst war so sehr tief und so stark, dass sie ihn sogar dann lähmen konnte, wenn er Mut brauchte und irgendetwas plötzlich zu tun war. Er war dann wie eine Motte, die sich an einer heißen Glühbirne verstümmelt hat.

      Wir gingen zusammen die Straße hinunter über den glatten Schnee in ein Kellerrestaurant. Es hieß ›Lion d’or‹ und war schmal und lang wie ein Eisenbahnwagen, und es war leer. Wir bestellten etwas zu essen und zwei Flaschen Weißwein. Ich wollte nicht riskieren, Schnaps zu trinken, obwohl ich ganz genau wusste, dass es früher oder später dazu kommen würde.

      »Jungens«, sagte Bernhold, »ich brauche Schnaps dazu.« Er rief dem Kellner irgendetwas in seinem scheußlichen Französisch zu und sagte: »Also, ihr habt nichts versäumt. Eine Maschine der Air India ist heute Morgen um acht Uhr aus Athen kommend in etwa dreitausendachthundert Meter Höhe gegen den Mont Blanc gerast. Gemerkt hat man das nur, weil einige Leute einen plötzlichen Feuerschein gesehen haben, wie einen Blitz, und weil der Tower in Genf die Maschine schon auf dem Radar hatte und plötzlich wieder verlor. Gegen elf sind dann Leute von den Gebirgsjägern zweimal mit dem Hubschrauber hochgeflogen. Mitgebracht haben sie nichts. Aber der Lokalredakteur vom Le Dauphine hatte einem der Soldaten eine Kamera mitgegeben. Es existieren rund dreißig Bilder, aber nur zwei Motive: Auf dem einen sieht man eine Schneefläche mit Metallstücken, auf dem anderen einige tote Rhesusaffen im Schnee. Das ist alles. Mehr haben die da oben nämlich nicht gefunden. Und die beiden Bilder hat der Dauphin an die Agenturen verhökert, sodass eure Redaktion sie jetzt schon per Funk hat. Das ist der Stand.«

      »Kann man morgen in den Berg fliegen?«, fragte Kohler.

      »Ich weiß nicht. Die Einheimischen meinen, der Nebel geht nicht weg.«

      »Also aussichtslos«, sagte ich.

      »Ich weiß nicht«, murmelte Kohler. »Wir werden sehen.« Er stand auf und ging hinaus.

      »Wie geht es dir, mein Junge?«, fragte Bernhold. »Die Ehe in Ordnung?«

      »Sicher«, sagte ich.

      Er sah das Mädchen an und erklärte: »Sie müssen wissen, mein Kind, dass Poggemann ein hoffnungsloser Fall ist. Seit sieben Jahren mit der gleichen Frau verheiratet. Und jedes Mal, wenn ich ihn treffe, kauft er ihr irgendein Geschenk.«

      »Das ist doch sehr schön«, sagte das Mädchen. Sie hatte ein schmales Jungmädchengesicht mit ganz zarter Haut, aber ihre Augen zeigten Erfahrung und Misstrauen.

      »Das finde ich auch«, sagte Bernhold. »Aber ich zum Beispiel zahle nur Unterhalt. Das ist billiger.«

      Kohler kam nach einer recht langen Zeit zurück und schob mir einen Zettel zu. Ich stand auf und las den Zettel in der Toilette. Kohler hatte geschrieben: Stimmt! Le Dauphinhat dreißig Fotos. Alle brauchbar. Aber statt zwei Motive gibt es vier. Ich habe die beiden fehlenden für uns sperren lassen.

      Kohler


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