Lockdown 2020. Rolf Gössner
dann keine andere Wahl, als noch tiefer in den Wald vorzudringen, während gleichzeitig ihre traditionelle Beziehung mit diesem Ökosystem unterbrochen wird. Als Ergebnis hängt das Überleben zunehmend von der Jagd auf Wild ab oder vom Verkauf örtlicher Pflanzen und Holz auf dem Weltmarkt. Derartige Bevölkerungsgruppen werden dann zu den Sündenböcken für den Zorn globaler Umweltschutzorganisationen, die sie als »Wilddiebe« und »Waldfrevler« (illegale Holzfäller) anprangern und just für die Entwaldung und die ökologische Zerstörung verantwortlich machen, die sie eigentlich erst in solche Gewerbe getrieben hatten. Oft nimmt dieser Prozess dann eine noch dunklere Wendung, wie in Guatemala, wo vom Bürgerkrieg im Land übrig gebliebene antikommunistische Paramilitärs zu »grünen« Sicherheitskräften gemacht wurden. Sie sollten den Wald vor illegalem Holzeinschlag, Wilderei und Drogenhandel »schützen«, die einzigen Gewerbe, die den indigenen EinwohnerInnen zugänglich blieben. Denn sie waren in solche Aktivitäten erst durch die gewaltsame Repression getrieben worden, die sie vonseiten derselben Paramilitärs während des Kriegs erfahren hatten.48 Dieses Muster wiederholt sich seither auf der ganzen Welt, angefeuert durch Beiträge aus Hochlohnländern in den sozialen Medien, in denen die (oft buchstäblich live gefilmte) Exekution von »Wilderern« durch angeblich »grüne« Sicherheitskräfte gefeiert wird.49
Eindämmung: Übung in der Kunst der Staatsführung
Covid-19 hat eine unvergleichlich große globale Aufmerksamkeit erregt. Bei Ebola, Vogelgrippe und Sars gab es natürlich auch Aufregung in den Medien. Aber irgendwas an dieser neuen Epidemie zieht alle Augen weiter auf sich. Zum Teil liegt das höchstwahrscheinlich an der spektakulären Reaktion der chinesischen Regierung, die zu ebenso spektakulären Bildern von leer gefegten Megastädten führte. Sie stehen in starkem Gegensatz zu den üblichen Medienbildern von China als überfüllt und verschmutzt. Diese Reaktion war eine reiche Quelle für Spekulationen über den unmittelbar bevorstehenden politischen oder wirtschaftlichen Zusammenbruch des Landes – auch angesichts der zusätzlichen Spannungen durch den langsam Gestalt annehmenden Handelskrieg mit den USA. Zusammen mit der schnellen Ausbreitung des Virus entstand so das Bild einer unmittelbaren globalen Bedrohung, trotz der niedrigen Sterblichkeitsrate.50
Auf einer tieferen Ebene ist das Faszinierendste an der staatlichen Reaktion, wie sie über die Medien als melodramatische Generalprobe für eine weitreichende innenpolitische Aufstandsbekämpfung inszeniert wurde. Wir erfahren dabei einiges über die repressiven Möglichkeiten des chinesischen Staates, aber auch über seine Unfähigkeit, die sich nicht nur in seiner Abhängigkeit von Propagandamaßnahmen in allen Medien zeigt, sondern auch in der freiwilligen Mobilisierung von Menschen vor Ort, die eigentlich nicht verpflichtet sind, sich zu fügen. Die chinesische und die westliche Propaganda hat den tatsächlich repressiven Charakter der Quarantäne betont, erstere als effektive Regierungsmaßnahme in einer Notlage, letztere als weiterer Fall totalitärer Überreaktion des dystopisch wirkenden chinesischen Staates. Die unausgesprochene Wahrheit ist aber, dass dieses aggressive Durchgreifen die tiefer gehende Unfähigkeit eines Staates zeigt, der sich selbst noch im Aufbau befindet.
Das gibt uns die Möglichkeit, in das Innere des chinesischen Staates zu blicken und zu sehen, wie er neue und innovative Techniken sozialer Kontrolle und Krisenreaktion entwickelt, die auch dann eingesetzt werden können, wenn sie nur wenige oder gar keine grundlegenden Funktionen für den Staat erfüllen. Es ist interessant zu überlegen (wenn auch spekulativ), wie Regierungen egal in welchem Land reagieren würden, wenn Krise und Aufstand zu einem ähnlichen Zusammenbruch führen. Der Ausbruch des Virus ist in jeder Hinsicht durch die schlechte Verbindung der unterschiedlichen Regierungsebenen verschlimmert worden: Die Repression von »Whistleblower«-ÄrztInnen durch Funktionäre vor Ort entgegen den Interessen der Zentralregierung, ineffiziente Berichtssysteme in Krankenhäusern und sehr schlechte medizinische Grundversorgung sind nur einige Beispiele. In der Zwischenzeit sind Regionalregierungen in unterschiedlicher Geschwindigkeit zur Normalität zurückgekehrt, fast völlig außerhalb der Kontrolle des Zentralstaats (abgesehen von Hubei, dem Epizentrum). Dieses Quarantäne-Puzzle führt dazu, dass Logistiknetzwerke unterbrochen bleiben, weil, wie es scheint, jede Lokalregierung Züge und LKW davon abhalten kann, ihre Grenzen zu überqueren. Diese grundlegende Unfähigkeit des Staates hat ihn gezwungen, mit dem Virus wie mit einem Aufstand umzugehen – er spielt Bürgerkrieg mit einem unsichtbaren Gegner.
Die Staatsmaschinerie begann am 22. Januar so richtig zu laufen, als die Behörden die Notfallmaßnahmen auf ganz Hubei ausweiteten und der Öffentlichkeit mitteilten, dass sie das Recht hätten, Quarantäne-Einrichtungen aufzubauen und sich Personal, Fahrzeuge und Einrichtungen für die Eindämmung der Krankheit oder die Errichtung von Blockaden und Verkehrskontrollen anzueignen (und damit das legitimierten, was ohnehin passieren würde).51 Der volle Einsatz staatlicher Ressourcen begann also mit dem Aufruf zum freiwilligen Engagement der Menschen vor Ort. Einerseits wird ein derartiger Katastrophenalarm jeden Staat an die Grenzen seiner Möglichkeiten bringen (was man auch bei Hurricanes in den USA sieht). Andererseits ist das ein übliches Muster der chinesischen Staatsführung: Da es dem Zentralstaat an effizienten Kommandostrukturen fehlt, die bis vor Ort reichen, greift er auf eine Kombination von breit veröffentlichten Aufrufen an Funktionäre und BürgerInnen zum freiwilligen Einsatz und von Bestrafung für diejenigen, die am schlechtesten reagiert haben (ausgegeben als Bekämpfung von Korruption), zurück. Die einzig effiziente Reaktion gibt es in ganz bestimmten Gebieten, wo der Zentralstaat seine ganze Macht und Aufmerksamkeit konzentriert, in diesem Fall Hubei allgemein und vor allem Wuhan. Am Morgen des 24. Januar war die Stadt bereits vollständig abgesperrt, ohne jeglichen Zugverkehr, fast einen Monat, nachdem das Virus entdeckt worden war. Gesundheitsbeamte erklärten, dass die Gesundheitsämter jeden untersuchen und in Quarantäne schicken können. Dutzende andere Städte in ganz China, einschließlich Beijing, Guangzhou, Nanjing und Shanghai, haben auf unterschiedliche Art die Bewegung von Gütern und Menschen über ihre Grenzen eingeschränkt.
In Reaktion auf die staatlichen Aufrufe zur Mobilisierung sind an manchen Orten seltsame, strenge Maßnahmen getroffen worden. Am erschreckendsten davon war die Ausgabe lokaler Pässe an 30 Mio. Bewohner von vier Städten in Zhejiang, die es nur einer Person pro Haushalt erlaubte, alle zwei Tage die Wohnung zu verlassen.52 Städte wie Shenzhen und Chengdu haben angeordnet, einzelne Viertel abzuriegeln, und durchgesetzt, dass Hochhäuser für 14 Tage unter Quarantäne gesetzt werden können, wenn es dort einen Krankheitsfall gegeben hatte. Hunderte wurden wegen der Verbreitung von »Gerüchten« über die Krankheit festgenommen oder bestraft53, und manche, die der Quarantäne entflohen54, wurden zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. In den Gefängnissen selbst gab es einen starken Ausbruch der Krankheit,55 weil die Aufseher unfähig sind, in einer für die Isolierung gemachten Umgebung kranke Gefangene zu isolieren.
Diese aggressiven, verzweifelten Maßnahmen spiegeln extreme Fälle von Aufstandsbekämpfung wider und erinnern an die militärisch-koloniale Besetzung etwa von Algerien und Palästina. Nie zuvor wurden sie in solch einem Ausmaß durchgeführt, schon gar nicht in den Megastädten, in denen ein Großteil der Weltbevölkerung heute lebt.
Wie der Staat hier durchgegriffen hat, ist eine Lehrstunde für alle, die sich für eine globale Revolution interessieren, weil es ein Probelauf der vom Staat angeführten Reaktion ist.
Unfähigkeit
Das staatliche Durchgreifen profitiert an dieser Stelle von seinem scheinbar humanitären Charakter, deshalb kann eine große Zahl Freiwilliger für die Bekämpfung des Virus rekrutiert werden. Aber wie zu erwarten, gehen solche Aktionen immer auch nach hinten los. Aufstandsbekämpfung ist ganz generell ein verzweifelter Krieg, zu dem es erst kommt, wenn stabilere Formen von Eroberung, Beschwichtigung oder wirtschaftlicher Unterwerfung unmöglich geworden sind. In einem teuren, gefährlichen Rückzugsgefecht demonstriert die jeweilige Macht ihre Unfähigkeit – sei es der französische Kolonialstaat, das niedergehende amerikanische Imperium oder andere. Das Ergebnis ist fast immer ein zweiter Aufstand, blutig gezeichnet von der Niederschlagung des ersten und noch verzweifelter. Hier können Quarantänemaßnahmen die Realitäten von Bürgerkrieg und Aufstandsbekämpfung kaum noch spiegeln. Aber selbst in diesem Fall ging die Aktion zum Teil nach hinten los. Obwohl der Staat viel Aufwand mit Informationskontrolle und ständiger Propaganda über