Lockdown 2020. Rolf Gössner

Lockdown 2020 - Rolf Gössner


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dann keine andere Wahl, als noch tiefer in den Wald vorzudringen, während gleichzeitig ihre traditionelle Beziehung mit diesem Ökosystem unterbrochen wird. Als Ergebnis hängt das Überleben zunehmend von der Jagd auf Wild ab oder vom Verkauf örtlicher Pflanzen und Holz auf dem Weltmarkt. Derartige Bevölkerungsgruppen werden dann zu den Sündenböcken für den Zorn globaler Umweltschutzorganisationen, die sie als »Wilddiebe« und »Waldfrevler« (illegale Holzfäller) anprangern und just für die Entwaldung und die ökologische Zerstörung verantwortlich machen, die sie eigentlich erst in solche Gewerbe getrieben hatten. Oft nimmt dieser Prozess dann eine noch dunklere Wendung, wie in Guatemala, wo vom Bürgerkrieg im Land übrig gebliebene antikommunistische Paramilitärs zu »grünen« Sicherheitskräften gemacht wurden. Sie sollten den Wald vor illegalem Holzeinschlag, Wilderei und Drogenhandel »schützen«, die einzigen Gewerbe, die den indigenen EinwohnerInnen zugänglich blieben. Denn sie waren in solche Aktivitäten erst durch die gewaltsame Repression getrieben worden, die sie vonseiten derselben Paramilitärs während des Kriegs erfahren hatten.48 Dieses Muster wiederholt sich seither auf der ganzen Welt, angefeuert durch Beiträge aus Hochlohnländern in den sozialen Medien, in denen die (oft buchstäblich live gefilmte) Exekution von »Wilderern« durch angeblich »grüne« Sicherheitskräfte gefeiert wird.49

      Eindämmung: Übung in der Kunst der Staatsführung

      Auf einer tieferen Ebene ist das Faszinierendste an der staatlichen Reaktion, wie sie über die Medien als melodramatische Generalprobe für eine weitreichende innenpolitische Aufstandsbekämpfung inszeniert wurde. Wir erfahren dabei einiges über die repressiven Möglichkeiten des chinesischen Staates, aber auch über seine Unfähigkeit, die sich nicht nur in seiner Abhängigkeit von Propagandamaßnahmen in allen Medien zeigt, sondern auch in der freiwilligen Mobilisierung von Menschen vor Ort, die eigentlich nicht verpflichtet sind, sich zu fügen. Die chinesische und die westliche Propaganda hat den tatsächlich repressiven Charakter der Quarantäne betont, erstere als effektive Regierungsmaßnahme in einer Notlage, letztere als weiterer Fall totalitärer Überreaktion des dystopisch wirkenden chinesischen Staates. Die unausgesprochene Wahrheit ist aber, dass dieses aggressive Durchgreifen die tiefer gehende Unfähigkeit eines Staates zeigt, der sich selbst noch im Aufbau befindet.

      Das gibt uns die Möglichkeit, in das Innere des chinesischen Staates zu blicken und zu sehen, wie er neue und innovative Techniken sozialer Kontrolle und Krisenreaktion entwickelt, die auch dann eingesetzt werden können, wenn sie nur wenige oder gar keine grundlegenden Funktionen für den Staat erfüllen. Es ist interessant zu überlegen (wenn auch spekulativ), wie Regierungen egal in welchem Land reagieren würden, wenn Krise und Aufstand zu einem ähnlichen Zusammenbruch führen. Der Ausbruch des Virus ist in jeder Hinsicht durch die schlechte Verbindung der unterschiedlichen Regierungsebenen verschlimmert worden: Die Repression von »Whistleblower«-ÄrztInnen durch Funktionäre vor Ort entgegen den Interessen der Zentralregierung, ineffiziente Berichtssysteme in Krankenhäusern und sehr schlechte medizinische Grundversorgung sind nur einige Beispiele. In der Zwischenzeit sind Regionalregierungen in unterschiedlicher Geschwindigkeit zur Normalität zurückgekehrt, fast völlig außerhalb der Kontrolle des Zentralstaats (abgesehen von Hubei, dem Epizentrum). Dieses Quarantäne-Puzzle führt dazu, dass Logistiknetzwerke unterbrochen bleiben, weil, wie es scheint, jede Lokalregierung Züge und LKW davon abhalten kann, ihre Grenzen zu überqueren. Diese grundlegende Unfähigkeit des Staates hat ihn gezwungen, mit dem Virus wie mit einem Aufstand umzugehen – er spielt Bürgerkrieg mit einem unsichtbaren Gegner.

      Diese aggressiven, verzweifelten Maßnahmen spiegeln extreme Fälle von Aufstandsbekämpfung wider und erinnern an die militärisch-koloniale Besetzung etwa von Algerien und Palästina. Nie zuvor wurden sie in solch einem Ausmaß durchgeführt, schon gar nicht in den Megastädten, in denen ein Großteil der Weltbevölkerung heute lebt.

      Wie der Staat hier durchgegriffen hat, ist eine Lehrstunde für alle, die sich für eine globale Revolution interessieren, weil es ein Probelauf der vom Staat angeführten Reaktion ist.

      Unfähigkeit

      Das staatliche Durchgreifen profitiert an dieser Stelle von seinem scheinbar humanitären Charakter, deshalb kann eine große Zahl Freiwilliger für die Bekämpfung des Virus rekrutiert werden. Aber wie zu erwarten, gehen solche Aktionen immer auch nach hinten los. Aufstandsbekämpfung ist ganz generell ein verzweifelter Krieg, zu dem es erst kommt, wenn stabilere Formen von Eroberung, Beschwichtigung oder wirtschaftlicher Unterwerfung unmöglich geworden sind. In einem teuren, gefährlichen Rückzugsgefecht demonstriert die jeweilige Macht ihre Unfähigkeit – sei es der französische Kolonialstaat, das niedergehende amerikanische Imperium oder andere. Das Ergebnis ist fast immer ein zweiter Aufstand, blutig gezeichnet von der Niederschlagung des ersten und noch verzweifelter. Hier können Quarantänemaßnahmen die Realitäten von Bürgerkrieg und Aufstandsbekämpfung kaum noch spiegeln. Aber selbst in diesem Fall ging die Aktion zum Teil nach hinten los. Obwohl der Staat viel Aufwand mit Informationskontrolle und ständiger Propaganda über


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