Schreiben und Lesen im Altisländischen. Kevin Müller
Anstrengung der Augen (augu), Zunge (tunga) und der Hand (hǫnd) klagt. Er nennt im selben Kommentar auch Feder (penni), Tinte (blek) und Pergament (bókfell), welche in den Bereich der Materialität gehören. In den Prologen werden hingegen wesentlich öfter Schriftträger wie bók ‚Buch/Kodex‘, bœklingr ‚Büchlein‘ skrá ‚Pergament, Schriftstück, Dokument‘ erwähnt und auch mit Verben wie gera ‚machen‘, sýna ‚zeigen‘ oder sjá ‚sehen‘ auf sie verwiesen, welche neben der Materialität auch die Visualität des Schriftträgers hervorheben (vgl. Glauser 2010: 313f., 319). Hier ist allerdings einzuwenden, dass gera nicht unbedingt so wörtlich verstanden werden darf, dass dabei der Schriftträger bók gemacht wird, denn bók kann metonymisch für Skript und Text stehen. Auf das Skript oder den Text wird auch mit dem Lexem letr ‚Schrift, Buchstabe, Text, Brief‘ verwiesen. Es spielen also auch immaterielle Aspekte eine Rolle. So gibt es eine Reihe von Bezeichnungen für Textsorten wie saga ‚Saga, Geschichte‘, lǫg ‚Gesetz‘, mannfrœði ‚Biographie‘, þáttr ‚Saga, Erzählung‘ (vgl. Glauser 2010: 315, 317). Mit den Textsorten sind wiederum verschiedene Termini für das Verfassen verbunden wie setja saman ‚zusammensetzen, verfassen‘, láta rita/skrifa ‚(auf)schreiben lassen‘, gera sǫgur ‚Geschichten machen‘ (Glauser 2010: 319). Beim Verfassen werden bestimmte Inhalte bzw. Stoffe (efni) verarbeitet, was schon das Verb setja saman ‚zusammensetzen‘ demonstriert, wobei diese qualitativ und quantivativ verändert werden können, wie die Verben auka ‚vergrössern‘, fegra um ‚verschönern‘, bœta um ‚verbessern‘ zeigen. Die Stoffe stammen aus dem eigenen Gedächtnis (minni), aus Erzählungen (frásagnir) oder aus mündlichen und schriftlichen Quellen, bei denen die Autorität eine wichtige Rolle spielt (vgl. Glauser 2010: 313, 315, 322, 324). Viele Texte wie die Rittersagas sind übersetzt worden, wofür es eine Reihe von Verben des Übersetzens (snara, snúa, venda) gibt, und dazu auch häufig die Sprachen Französisch (franzeiska, valska), Englisch (enska), Latein (latína), Nordisch (norrœna), selten Griechisch (girzka) erwähnt werden (vgl. Glauser 2010: 320f.). In den Prologen wird auch der Zweck des Schreibens thematisiert. Ein wichtiger Zweck ist das Erinnern (minni), denn Stoffe werden aufgeschrieben, damit sie nicht vergessen werden. Daneben werden Texte auch zur Bildung und Unterhaltung geschrieben (vgl. Glauser 2010: 332). Glausers Aspekte erinnern in vielen Fällen an mögliche Attribute eines Schreibframes, jedoch wird nicht deutlich, ob sie jeweils alle zu Lexemen wie rita, skrifa, dikta, setja saman gehören. Sie müssen aber in einer semantischen Analyse unbedingt berücksichtigt werden.
Die bisherige nordistische Forschung war vor allem an zwei Themen interessiert, dem Schreiben von Runen und dem Schreiben der Autoren. Die Runologen haben mit einem grösseren Korpus gearbeitet, jedoch keine syntagmatischen Relationen einbezogen. Trotzdem haben sich zwei stereotype Konzepte herauskristallisiert, das Schreiben von Runen in Volkssprache auf harten Materialien und das Schreiben lateinischer Buchstaben auf Latein auf weichen Materialien, in denen Attribute wie SCHRIFTSYSTEM, SPRACHE, SCHREIBWERKZEUG, BESCHREIBSTOFFE und SCHRIFTTRÄGER im Vordergrund stehen. Beim Schreiben der Autoren hingegen wurden fast immer Einzelbelege herangezogen, bei denen nicht sicher ist, ob die postulierte Bedeutung konventionell ist. Syntagmatische Relationen spielen auch hier nur eine marginale Rolle. Mein erster Versuch an der Sturlunga saga (vgl. Müller 2018) ist nicht nur wegen der geringen Grösse des Korpus, sondern auch wegen der Wortfeldtheorie an seine Grenzen gestossen. Deshalb ist mit dem neuen theoretischen Ansatz der Framesemantik, dem Einbezug der syntagmatischen Relationen und einem grösseren Korpus eine präzisere Analyse der Konzepte dieser Lexeme zu erhoffen. Die Resultate der bisherigen Forschung sollen dabei berücksichtigt werden, wie im Folgenden dargelegt wird.
Die bisherige Forschung liefert zum einen ein umfangreiches Lexikon. Die oben erwähnten Verben des Schreibens – d.h. im Sinne von Schreiben und Verfassen – lassen sich in drei Gruppen Teilen: 1. in das Schreiben von Runen mit den Lexemen berja, fá, gera, hǫggva, marka, penta, rista, rísta, ríta und skrifa, 2. das Schreiben von lateinischen Buchstaben mit den Lexemen gera, rita, ríta, skrásetja und skrifa, sowie 3. das Verfassen von Texten mit den Lexemen dikta, gera, segja fyrir, semja, setja saman, smíða, yrkja. Setja saman hat möglicherweise eine verengte Bedeutung ‚kompilieren‘ und dikta ‚in lateinischer Sprache verfassen oder formulieren‘. Beim Schreiben von Runen und lateinischen Buchstaben gibt es einige Schnittmengen wie gera, ríta und skrifa, wobei gera auch in die dritte Gruppe gehören oder ein Hyperonym darstellen kann. Es liessen sich im hier untersuchten Korpus nicht alle dieser Lexeme bezeugen. Diverse runische Termini wie berja, fá, hǫggva, marka, penta, rista wie auch einzelne Termini für das Verfassen wie semja, smíða und yrkja fehlen.
Die zahlreichen in der bisherigen Forschung diskutierten Aspekte der Schriftlichkeit geben Anhaltspunkte für mögliche Attribute eines Frames. Am Schreiben sind diverse Personen beteiligt, wobei mehrere Aufgaben von einer Person ausgeführt werden können: SCHREIBER, KOMPILATOR, KOMMENTATOR, AUTOR und AUFTRAGGEBER. Zu diesen Menschen gehören die Körperteile HAND, AUGE, OHR, ZUNGE und Hirn, als Organ für das GEDÄCHTNIS. Zum Schreiben werden diverse materielle Objekte benötigt wie SCHREIBWERKZEUG, SCHREIBMATERIAL, SCHRIFTTRÄGER, mit denen der Schreiber das SKRIPT produziert. Beim Abschreiben, Kompilieren, Kommentieren, Verfassen und Übersetzen dürfen auch QUELLE, der darin überlieferte STOFF und der zu schreibende INHALT nicht vergessen werden. Zwischen QUELLE und TEXT bzw. SKRIPT steht das GEDÄCHTNIS, in dem Elemente der Vorlage, des Diktats, des Exzerpts, der mündlichen und schriftlichen Quellen abgespeichert werden. Der TEXT besteht aus einem INHALT, einer Form, der TEXTSORTE, und manifestiert sich visuell im SKRIPT, ist aber primär als immateriell einzuordnen, ebenso die SPRACHE und das SCHRIFTSYSTEM. Der AUFTRAGGEBER gibt nicht nur die Arbeit in Auftrag, sondern hat auch Einfluss auf die QUELLE und den INHALT.
Das nachfolgende Analysekapitel beginnt bei der Schrift, d.h. bei den Verben, welche gemäss den obigen Erkenntnissen für das Konzept SCHREIBEN stehen: rísta, rita, ríta, skrásetja und skrifa. Die Lexeme werden alphabetisch angeordnet, was auch die drei Verben dikta, segja fyrir und setja saman betrifft, welche zum Konzept VERFASSEN gehören. Das Verb gera umfasst wahrscheinlich beide Konzepte, weshalb dieses zuletzt analysiert wird.
2. rísta
Das häufigste Verb für das runische Schreiben ist laut Spurkland (1994, 2004) rísta ‚einschneiden, schnitzen, ritzen‘ (vgl. Baetke 2002: 503). Fritzner (1886–96: III, 117) geht auch auf die syntagmatischen Relationen ein, welche in Spurklands Untersuchungen keine Rolle spielen. Er unterscheidet beim Akkusativobjekt zwischen a) „Stedet som gjennemfures“ ‚der Ort, der durchfurcht wird‘ und b) „Retningen eller Virkningen“ ‚die Richtung oder Wirkung‘, wozu er Belege mit dem Thema „rúnar“ ‚Runen‘ anführt. In Fritzner/Hødnebø (1972: 291) wird hervorgehoben, dass rísta oft in Runeninschriften belegt ist.
Der einzige Beleg in Bezug zu etwas Schriftlichem im vorliegenden Korpus befindet sich in der Sturlunga saga und ist nur in Papierabschriften der Reykjarfjarðarbók erhalten: „Þá fanz vísa þessi at Sauðafelli, ristin á kefli: […]“ (StS1 480). ‚Dann wurde diese Strophe in Sauðafell auf einem Holzstäbchen geschnitzt gefunden: […]‘ (Übers. KM). Das Verb rísta ist als Partizip Präteritum ein Attribut zum Substantiv vísa ‚Strophe‘ einem Wert für das Attribut TEXTSORTE. Das Präpositionalobjekt mit á verweist auf das Attribut SCHRIFTTRÄGER mit dem Wert kefli. Im Hauptsatz wird der Ort Sauðafell genannt, wo Órœkja Snorrason durchreist, der auch in der nachfolgend zitierten Strophe vorkommt, so dass dieser wahrscheinlich das Agens ist. Órœkja ist ein Laie und ein Mitglied der Magnatenfamilie der Sturlungen, d.h. er konnte wahrscheinlich lesen und möglicherweise auch schreiben. Für das Attribut SCHREIBER und möglicherweise auch den AUTOR könnte ein im Text nicht explizit genannter Wert sturlungr ‚Sturlunge‘ eingesetzt werden. Im Vordergrund steht