Schreiben und Lesen im Altisländischen. Kevin Müller
AM 234 fol. (S2), welche neben der Jóns saga helga (fol. 55vb–67ra) zahlreiche mehr oder weniger vollständige Texte enthält: Antonius saga, Páls saga postola, Maríu saga, Augustinus saga, Vitae patrum und Thómas saga erkibyskups. S2 ist Mitte des 14. Jahrhunderts geschrieben worden. Jóns saga helga und Augustinus saga wurden direkt von S1 abgeschrieben. S2 ist eine getreue Abschrift, so dass es kaum grössere Abweichungen in Graphie oder Wortstellung gibt (vgl. Foote 2003a: 8*–15*, 46*–53*). In Foote (2003a) ist S1 Leithandschrift, deren Lücken mit S2 ergänzt sind. Die beiden anderen mittelalterlichen Handschriften werden in der Edition im Apparat berücksichtigt: NRA Norrøne fragmenter 57 (S3) enthält einen Teil der Jóns saga helga. Dieses Fragment wurde etwa um 1340 geschrieben (vgl. Foote 2003: 54*–57*, 74*). AM 235 fol. (S4) enthält neben vielen anderen Texten, hauptsächlich Heilagra manna sǫgur, einen Teil der Jóns saga helga auf fol. 10vb, der zur gleichen Redaktion gehört wie AM 221 fol. und AM 234 fol. Die Handschrift ist um 1400 geschrieben worden (vgl. Foote 2003a: 75*–79*, 81*, 94*f.). Alle vier mittelalterlichen Handschriften der S-Redaktion gehen auf einen gemeinsamen Archetyp S zurück. S1, S2 und S4 bilden einen Zweig, während S3 zu einem andern gehört. Von S2 existieren ausserdem zahlreiche neuzeitliche Abschriften auf Papier (vgl. Foote 2003a: 95*–97*). Für diese Arbeit steht S2 als älteste vollständige Handschrift und getreue Abschrift der ältesten erhaltenen Handschrift S1 im Fokus. Nur ein einziger Beleg zur Schriftlichkeit mit dem Verb lesa ist auch in S1 überliefert (vgl. JSH 37), welcher in S2 gleich wiedergegeben ist.
Die zweite mittelalterliche Redaktion hat die Abkürzung L, weil sie sich durch einen von lateinischen Vorbildern geprägten gelehrten Stil auszeichnet (vgl. Foote 2003b: CCXX). Sie ist wahrscheinlich um 1300 entstanden, in der Zeit als dieser Ende des 13. Jahrhunderts aufkommende Stil zu florieren begann (vgl. Foote 2003a: 125*f.). Diese Redaktion hat zwei mittelalterliche Handschriften: 1. Stock. perg. fol. nr 5 (L1) ist wahrscheinlich um 1370 geschrieben worden und enthält auf fol. 48ra–58vb den Text der Jóns saga helga (vgl. Foote 2003a: 126*f.). 2. AM 218 fol. (L2) umfasst 17 Blätter. Davon enthalten nur vier Blätter den Text der Jóns saga helga. In der Handschrift sind auch noch Þorláks saga helga (C-Redaktion) und Guðmundar saga (D-Redaktion) enthalten. Der Codex wurde gegen Ende des 14. Jahrhunderts geschrieben (vgl. Foote 2003a: 180*f.). Neben diesen beiden Haupthandschriften gibt es zahlreiche Papierhandschriften, die alle direkte oder indirekte Abschriften von L1 sind (vgl. Foote 2003a: 184*). Leithandschrift in Footes (2003a) Edition ist L1. Die Handschrift L2 enthält weitere Teile der Saga, u.a. den Translationsbericht und zusätzliche Wunderberichte. Es ist nur ein Beleg zum Lesen in dieser Handschrift enthalten (vgl. JSH 105). L1 und L2 sind wahrscheinlich im selben Skriptorium mit einem Abstand von zehn Jahren entstanden. Sie sind nicht voneinander abgeschrieben und stammen wahrscheinlich auch von zwei verschiedenen Vorlagen ab (vgl. Foote 2003a: 182*–184*).
Die Handlungszeit der Saga sowie die Entstehungs- und Überlieferungszeit der beiden Redaktionen liegen relativ weit auseinander, so dass sie sprachlich kaum repräsentativ für die Zeit um 1100 ist. Entscheidend sind für diese Saga hingegen die Entstehungs- und Überlieferungszeit der beiden Redaktionen. Da sich die beiden Redaktionen diesbezüglich und sich zudem stilistisch unterscheiden ist zu erwarten, dass sie bezüglich Lexik und Semantik einen Kontrast bieten.
3.3. Die Handschriften der Sturlunga saga
Der Name Sturlunga saga stammt aus dem 17. Jahrhundert als Bezeichnung für die weitläufige Kompilation aus verschiedenen Einzelsagas (vgl. Bragason 2005: 427, Thorsson 1988: III, xxii). Nicht alle Teile enthalten Belege zum Schreiben und Lesen, sondern nur die Þorgils saga ok Hafliða, der Haukdœla þáttr, die Prestssaga Guðmundar Arasonar, die Íslendinga saga, die Svínfellinga saga, die Þórðar saga kakala, die Þorgils saga skarða und der Sturlu þáttr. Diese Teile unterscheiden sich nach Handlungs-, Entstehungs- und Überlieferungszeit. Die handlungszeitlich ältesten Teile sind der Haukdœla þáttr mit der Geschichte des Haukadals von der Landnahme bis ca. 1200, der vermutlich vom Kompilator um 1300 verfasst wurde, und die Prestssaga Guðmundar Arasonar über die Jugend und Priesterjahre Guðmundr Arasons (1161–1237), der 1202 zum Bischof geweiht wurde. Dieser Teil seiner Biographie entstand entweder nach seiner Weihe zum Bischof oder nach seinem Tod. Den Kern der Kompilation bildet die Íslendinga saga von Sturla Þórðarson (1214–84), welche die Zeit vom Tod des Sturlungenstammvaters Hvamm-Sturla (1183) bis zum Ende der isländischen Freistaatszeit (1262/64) abdeckt. Hauptpersonen sind Hvamm-Sturlas Nachkommen. Die letzten drei Texte haben Vertreter der dritten Sturlungengeneration als Hauptpersonen. Die Svínfellinga saga deckt die Zeit um die Mitte des 13. Jahrhunderts ab und ist möglicherweise Ende desselben Jahrhunderts entstanden. Die Þórðar saga kakala handelt in den Jahren 1242–1249 und entstand wahrscheinlich um die Mitte des 13. Jahrhunderts. Teile der in den Jahren 1275–80 entstandenen Þorgils saga skarða wurden erst in der zweiten Redaktion der Kompilation aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts hinzugefügt. Der Sturlu þáttr fehlte in der ersten Redaktion wohl auch und beschreibt die letzten beiden Jahrzehnte des Lebens von Sturla Þórðarson (vgl. Thorsson 1988: III, xxii, xxvi–xxix).
Die Sturlunga saga ist in zwei mittelalterlichen Handschriften überliefert, von denen es zahlreiche neuzeitliche Papierabschriften gibt. Die ältere Handschrift (I) hat die Signatur AM 122 a fol. und auch den Namen Króksfjarðarbók, der sich aus einer Notiz von 1400 ableitet, in welcher der Ortsname Króksfjörður erwähnt wird. Dies deutet daraufhin, dass sich der Pergamentkodex aus der Mitte des 14. Jahrhunderts einmal an diesem Ort befunden haben muss. Die jüngere mittelalterliche Handschrift (II) unter der Signatur AM 122 b fol. mit dem Namen Reykjarfjarðarbók, der sich ebenfalls vom Aufenthaltsort der Handschrift herleitet, ist in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstanden. Von dem mindestens 180 Blätter umfassenden Pergamentkodex sind nur noch 30 Blätter erhalten, die stark beschädigt sind. Die Reykjarfjarðarbók enthält eine jüngere, längere Redaktion der Sturlunga saga, welche zusätzlich die Þorgils saga skarða, den Sturlu þáttr, den Jarteinaþáttr Guðmundar biskups und die Árna saga biskups enthält (Kålund 1906–11: XXXII–XXXIV, Thorsson 1988: III, xcif.). Die Sturlunga saga ist ausserdem in zahlreichen Abschriften auf Papier überliefert, welche auf die beiden mittelalterlichen Kodizes zurückgehen. Je nach Vorlage teilt Kålund (1906–11: XLI) sie in die Gruppen Ip (nach I = Króksfjarðarbók) und IIp (nach II = Reykjarfjarðarbók) ein. Letztere Gruppe ist wegen der stark beschädigten Reykjarfjarðarbók besonders relevant. Alle IIp-Handschriften haben dieselbe Vorlage, eine verloren gegangene Abschrift der Reykjarfjarðarbók auf Papier aus dem 17. Jahrhundert von Björn Jónsson von Skarðsá. Er hatte auch die Króksfjarðarbók als Vorlage und hat Varianten und Zusätze daraus entnommen (vgl. Kålund 1906–11: XXXVII, XLIf.). British Museum Add. 11, 127 ist wohl die einzige direkte Abschrift von Björn Jónssons Handschrift und wurde 1696 geschrieben (Kålund 1906–11: LVI).
Es gibt von der Sturlunga saga noch keine Edition, welche den aktuellen wissenschaftlichen Kriterien entspricht (vgl. Bragason 2005: 429). Die einzige kritische Edition mit diplomatischer Transkription und Apparat ist jene von Kålund (1906–11). Er nimmt I als Leithandschrift und ergänzt den Text mit II. Dieses Verfahren kritisiert Nordal (2010: 175–190), weil die beiden mittelalterlichen Kodizes relevante Unterschiede aufweisen. Die fehlenden, unlesbaren und fehlerhaften Stellen ergänzt Kålund durch die Papierhandschriften, deren Text er normalisiert. Die Unterschiede führt er im Apparat auf. Da es keine kritischere Edition als jene von Kålund gibt, stützt sich diese Arbeit auf seine. Die ausführlich kommentierte Edition von Jóhannesson et al. (1946) und die jüngste von Thorsson (1988) werden für weitere Informationen herangezogen. Die Sturlunga saga wurde nur auszugsweise von Baetke (1967) ins Deutsche übersetzt, daneben gibt es aber eine vollständige englische von McGrew/Thomas (1970/74) und eine dänische Übersetzung von Kålund (1904).
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