Schreiben und Lesen im Altisländischen. Kevin Müller

Schreiben und Lesen im Altisländischen - Kevin Müller


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      Weil die Zitate in der Analyse aus Platzgründen möglichst kurz gehalten und dieselben Belegstellen aus lexikalischen und syntaktischen Gründen getrennt behandelt werden, enthält diese Arbeit am Schluss einen Anhang mit allen Belegstellen des Korpus, die zur besseren Übersicht nach den Texten und Seitenzahlen geordnet sind. Dies ermöglicht, die Belege in einem weiteren Kontext und aus der Perspektive der Erzählung zu betrachten. Da die Arbeit nach den Lexemen geordnet ist, können einzelne Lexeme aus den Belegen über das Inhaltsverzeichnis gefunden werden.

      Da die Texte in den Editionen grösstenteils nicht normalisiert abgedruckt sind, werden für eine bessere Lesbarkeit im Lauftext der Arbeit die Lexeme, Konstituenten und Kollokationen normalisiert. Altisländische Namen behalten die Endung -r (z.B. Guðmundr), im Genitiv wird sie aber weggelassen (z.B. Guðmunds). Beinamen werden nicht übersetzt und klein geschrieben. Alle Texte des Korpus sind bisher nicht vollständig ins Deutsche übersetzt worden. Deshalb stammen die Übersetzungen der zitierten Stellen vom Autor der vorliegenden Arbeit (gekennzeichnet durch „KM“) und bewegen sich der Transparenz der Analyse wegen möglichst nahe am Wortlaut der Originalsprache, wofür stilistische Kriterien unter Umständen zurückgestellt werden mussten.

      2. Framesemantik

      Wenn man die Bedeutung eines unbekannten Wortes wissen will, schlägt man, so denn möglich, in einem Wörterbuch nach. Das ausführlichste altnordisch-deutsche Wörterbuch stammt von Baetke (2002). Es erwähnt beispielsweise für das Lemma lesa vier Bedeutungen, aufgeführt mit entsprechenden Zitaten aus der Prosaliteratur, die hier weggelassen werden: „1. zusammen-, auflesen, sammeln“, „2. (er-)greifen, nehmen“, „3. Figuren einweben od. sticken“, „4. lesen, verlesen“. Für die vierte Bedeutung, welche für diese Arbeit von besonderem Interesse ist, führt Baetke (2002: 376) jedoch keine Belege aus der Prosaliteratur an. Für das Verstehen oder Übersetzen des Lemmas lesa stellen sich zwei Fragen: 1. In welchem Kontext trifft welche Bedeutung zu? 2. Was ist mit „lesen, verlesen“ eigentlich gemeint? Noch knapper verhält es sich mit dem Lemma rita, für das Baetke (2002: 503) keine Zitate darlegt und die Bedeutungen „schreiben, aufzeichnen, berichten“ anführt. Zusätzlich nennt er die Konstruktion rita til e-s mit der Bedeutung „an jmd. schreiben“, welche immerhin anhand der Valenz unterschieden werden kann. Hier stellt sich wieder die Frage nach dem Konzept SCHREIBEN. Forschungsarbeiten in den letzten Jahrzehnten ergaben, dass sich die mittelalterliche und die heutige Schriftkultur deutlich unterscheiden (vgl. Kap. II.1. und III.1.), so dass sich das heutige Konzept SCHREIBEN nicht ohne weiteres auf das historische Konzept übertragen lässt.

      Diese Problematik des Bedeutungswandels diskutiert Lobenstein-Reichmann (2002: 74f., 79) anhand des Beispiels leben im Frühneuhochdeutschen und Neuhochdeutschen: Die Bedeutungen in beiden Sprachperioden sind zwar ähnlich, aber in der Frühen Neuzeit spielen moralische Kriterien und die soziale Ordnung beim Leben eine grössere Rolle, während heutzutage Genuss und materielle Ausstattung im Vordergrund stehen. Diese schärfere Analyse der Bedeutung wird durch Einbeziehen der syntagmatischen Relationen, besonders durch Betrachtung der Begriffsgefüge, erreicht. Gerade diese syntagmatischen Relationen fehlen in Baetke (2002), sodass die Übersetzungen ‚lesen‘ und ‚schreiben‘ für lesa und rita in die Irre führen können, da sich die Konzepte LESEN und SCHREIBEN im mittelalterlichen Island von den heutigen deutlich unterschieden.

      Die Bedeutung des betreffenden Lexems hängt also vom Kontext ab, einerseits von einem aussersprachlichen Kontext, der mittelalterlichen Schriftkultur, und andererseits vom innersprachlichen Kontext, den syntagmatischen Relationen, die gerade beim Verstehen von polysemen Lexemen wie lesa entscheidend sind, was die Kollokationen lesa bók ‚Buch lesen‘ und lesa ber ‚Beeren lesen‘ beispielhaft verdeutlichen. Die Bedeutung muss deshalb auch im Kontext des Lexems analysiert werden. Aber wie analysiert man die Bedeutung im Kontext? Hier muss zunächst die Frage geklärt werden, was mit Bedeutung und Kontext überhaupt gemeint ist. Die Bedeutung ist der Inhalt des sprachlichen Zeichens, welcher sich auf einen tatsächlichen Referenten bezieht. Den Bezug vom Zeichen zum Referenten stellt der Zeichenbenützer her. Dieses semiotische Dreieck übersieht aber ein wichtiges Zwischenglied, das Konzept. Das in der Romanistik verwendete semiotische Fünfeck wird diesen Tatsachen gerechter: Zwei Ecken liegen auf einer aktuellen/konkreten Ebene: 1. das tatsächliche Zeichen und 5. der tatsächliche Referent, während drei Ecken sich auf einer virtuellen/abstrakten Ebene befinden: 2. die lexikalische Form des Zeichens im sprachlichen System, bestehend aus Phonemen oder Graphemen, 3. der Zeicheninhalt – beide gehören zum Lexem – und 4. das Konzept. Das aktuelle/konkrete Zeichen ist mit dem Lexem verbunden und der Referent mit dem Konzept (vgl. Glessgen 2011: 422–426).

      Übertragen auf eine historische Sprachstufe entspräche die erste Ecke, das aktuelle/konkrete Zeichen, dem schriftlichen Beleg, die zweite der lexikalischen Form, welche als Lemma in einem Wörterbuch existiert, die dritte und vierte der Bedeutung bzw. dem Konzept, welche in den Wörterbüchern nicht klar unterschieden und relativ knapp und nicht immer harmonisch dargestellt werden, und die fünfte einem tatsächlicher Referenten, der Jahrhunderte später nur in Ausnahmefällen auch noch tatsächlich vorliegt. Gerade die dritte und vierte sind für historische Wissenschaften entscheidend. Dabei stellt sich die Frage, was den Unterschied zwischen Bedeutung und Konzept eigentlich ausmacht. Laut Glessgen (2011: 450–456) sind beide Begriffe grundsätzlich identisch und können neurologisch nicht unterschieden werden. Die Bedeutung lässt sich lediglich durch den syntagmatischen Kontext (Kollokation), die diasystematischen Merkmale (Konnotation) und die morphologische Struktur des Lexems (Flexion) vom Konzept abgrenzen. Unabhängig vom Sprachsystem sind die Konzepte jedoch soziokulturell und historisch verschieden. Das Konzept BUCH äussert sich beispielsweise in der Antike als eine von Hand beschriebene Rolle aus Papyrus, im Mittelalter als ein von Hand beschriebener Kodex aus Pergament und in der Neuzeit als ein gedruckter Kodex aus Papier. Die hier angeführten Konzepte beschränken sich jedoch lediglich auf das materielle Objekt, wie es aus den jeweiligen Epochen erhalten ist, lassen aber beispielsweise Gebrauch, Inhalt oder kulturelle Bedeutung aus. Wie erhält man nun Zugang zu mittelalterlichen Konzepten und Bedeutungen, welche u.a. über die Materialität hinausgehen? Mit dieser Problematik beschäftigen sich drei jüngere Untersuchungen mit unterschiedlichen Lösungsansätzen, die im Folgenden besprochen werden:

      Lenerz (2006) zeigt erstens, dass bei jedem Lexem abhängig vom Kontext diverse konzeptuelle Verschiebungen auftreten. Zum Beispiel hat nhd. Buch verschiedene Konzepte wie das Buch als physisches Objekt, Handelsware, oder Text. Diese konzeptuellen Unterschiede erklären beispielsweise, dass mittelalterliche Texttermini mit modernen Konzepten in der Regel nicht übereinstimmen und den Umgang gerade in der Mediävistik erschweren. Lenerz untersucht diese Unterschiede am Beispiel des mittelhochdeutschen Lexems mære. Je nach Kontext kommen verschiedene Konzepte zum Zuge, die alle zur Bedeutung von mære beitragen. Die Bedeutung des Lexems bewegt sich dabei zwischen Geschichte und Ereignis, Stoff und Erzähltext, Erzähltradition und Quelle. Daneben gibt es metonymische Verschiebungen zum Geschehenen, Ereignis oder zur Mitteilung oder dem Mitteilen (vgl. Lenerz 2006: 41f.). Lenerz geht aber nicht näher darauf ein, wovon genau diese konzeptuellen Verschiebungen abhängen, insbesondere nicht von welchen syntagmatischen Relationen, obwohl er den Kontext erwähnt. Es wird auch nicht deutlich, ob die Bedeutungsebenen konventionell oder nicht-konventionell sind. Lenerz (2006: 38) verlässt sich dabei auf ein „Sprachgefühl“, welches sowohl in der Hermeneutik als auch in der Linguistik angewandt wird. Diesbezüglich muss aber beachtet werden, dass dieses Sprachgefühl in der Muttersprache sicher verwendbar ist, und auch in einer Fremdsprache, wenn die Kompetenz genug hoch ist. Schwieriger verhält es sich mit einer historischen Sprachstufe, die keine Sprecher mehr hat, welche als Korrekturinstanz fungieren könnten. Ein solches Sprachgefühl basiert auf der Kenntnis des Korpus, der Wörterbücher und der Grammatik, und muss keineswegs zu falschen Schlüssen führen. Dass dies aber bei einer unreflektierten Herangehensweise häufig doch geschieht und fatale Fehlinterpretationen nach sich zieht, demonstriert Lobenstein-Reichmann (2011: 69f.) am Beispiel von nhd. Leidenschaft. Dieses Lexem ist erst seit dem 17. Jahrhundert belegt. Das neuhochdeutsche Konzept LEIDENSCHAFT wird aber auf andere Sprachen bis in die Antike übertragen, ohne zu reflektieren, dass sich die jeweiligen Konzepte grundsätzlich unterscheiden.

      Wesentlich


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