Schreiben und Lesen im Altisländischen. Kevin Müller
vergleicht diverse Kollokationen dieses Lexems in einem Korpus und arbeitet verschiedene Bedeutungen heraus, welche von den jeweiligen syntagmatischen Relationen des Lexems abhängen. Bedeutungskern ist „etwas Aussergewöhnliches, das jemandem unwillentlich widerfährt“, also eine Begebenheit oder ein Ereignis. Dass diese berichtenswert sind, zeigen Belege mit Verben des Hörens und des Sagens mit aventure als Akkusativobjekt (vgl. Lebsanft 2006: 316f.). Als Subjekt des Verbs mener bekommt es die Bedeutung ‚Zufall‘, mit den Adjektiven bone und male die Bedeutung ‚Glück‘ bzw. ‚Unglück‘. Abhängig von der syntagmatischen Relation kann auch ein Tausch der thematischen Rollen stattfinden. Beim Verb avenir ist aventure als Agens im Subjekt und das Dativobjekt ist der Experiencer, bei den Verben aler querre und trover fungiert es als Thema im Akkusativobjekt und das Subjekt ist Agens (vgl. Lebsanft 2006: 329). Lebsanft (2006: 336) stellt mit dieser Methode insgesamt acht verschiedene Bedeutungen für aventure fest. Seine Methode liesse sich ebenso gut auf das obenerwähnte Lexem nhd. Buch anwenden. Ein Adjektiv schwer verweist beispielsweise auf das Buch als physisches Objekt, ein Verb kosten auf das Buch als Handelsware oder lesen auf das Buch als Text. Lebsanfts syntaktische Analyse mittels der Valenz und der thematischen Rollen zeigt, dass sowohl auf der Ausdrucksseite als auch auf der Inhaltsseite eine Struktur existiert.
Die dritte der hier vorgestellten Untersuchungen von Braun (2016) beschäftigt sich eingehender mit der Struktur der Inhaltsseite für das Verb bitten in althochdeutschen Gebeten und wendet dazu das Prinzip eines kognitiven Frames an, um die Valenz des Verbs „vor dem Hintergrund des textuellen Gesamtbildes“ zu analysieren. Braun (2016: 98) postuliert hierfür einen Frame A bittet B um D, also ein Betender (A), welcher eine höhere Instanz (B) um etwas (D) bittet. Dieser Frame erweitert sich aber in Otlohs Gebet um die Stellen für C (Personen, für die gebetet wird) und mittels E (legitimierendes Wirkmittel). Beim Augsburger Gebet fallen A und C hingegen zusammen (vgl. Braun 2016: 103–105). Braun geht in seiner Analyse somit noch tiefer auf die Inhaltsseite als Lebsanft (2006) ein, indem er das Konzept mithilfe eines kognitiven Frames strukturiert.
Die drei aufgeführten Untersuchungen zeigen zum einen, dass das Lexem nicht auf ein Konzept reduziert werden kann, und zum anderen, dass die verschiedenen Konzepte vom Kontext abhängen. Diese Abhängigkeit äussert sich einerseits in den syntagmatischen Relationen, welche die Valenz und Kollokationen auf der Ausdrucksseite umfassen. Andererseits gibt es auch auf der Inhaltsseite eine Struktur, den kognitiven Frame. Genau bei dieser Schnittstelle zwischen Valenz und Frame soll die vorliegende Arbeit ansetzen.
Lange vor dem Aufkommen der Framesemantik beschäftigte sich Porzig (1934/1973) mit syntagmatischen Relationen, welche er „wesenhafte Bedeutungsbeziehungen“ nennt. Während der Hochphase des Strukturalismus fanden diese im Gegensatz zu den paradigmatischen Relationen, welche das Wortfeld konstituieren, lange Zeit keine Beachtung (vgl. Geeraerts 2010: 57f.). Porzig (1934/1973: 82) stellt beispielweise fest, dass die Ergänzung eines Verbs zu seinem Begriff nicht etwas Neues hinzubringt. Die Bewegungsverben fahren, reiten, gehen unterscheiden sich beispielsweise in der Art der Fortbewegung mit Fahrzeug (fahren), Reittier (reiten) oder ohne Hilfsmittel (gehen). Das Fortbewegungsmittel bleibt implizit, kann aber explizit als Ergänzung vorkommen (z.B. Ich reite auf einem Pferd, vgl. Porzig 1934/1973: 82f.). Zu diesen simplen Beispielen erwähnt Porzig aber auch einen komplizierteren Fall, der für diese Arbeit besonders interessant und inspirierend ist, das Verb schreiben:
Man muß sich nur einmal klar machen, welch einer complicierten situation ein wort wie schreiben entspricht. Nicht nur der schreibende mensch, die schreibende hand, das schreibwerkzeug und das schreibmaterial stecken darin, sondern auch, daß die geschriebenen zeichen sinnvoll sein und daß sie sprache repräsentieren müssen. Eine anscheinend unwesentliche änderung der situation, das aufkommen eines stärker abweichenden schreibwerkzeuges, bringt unruhe in das elementare bedeutungsfeld: noch ist es nicht entschieden, ob schreiben in seine unmittelbare bedeutung auch die schreibmaschine aufnimmt, oder ob sich ein neues verbum durchsetzt (Porzig 1934/1973: 83).
Die einzelnen Elemente dieser „komplizierten Situation“ lassen sich alle als Ergänzung des Verbs schreiben ausdrücken, wie beispielsweise im folgenden Satz: Der Mensch schreibt mit der linken Hand mit einem Bleistift auf Papier. Es wird nicht ganz klar, was Porzig mit Sprache meint, ein bestimmtes Sprachsystem (langue) oder das in einer Sprache Gesprochene (parole), welches die Schriftzeichen sinnvoll repräsentieren müssen. Beim Schreiben spielt beides eine Rolle und kann ebenfalls als Ergänzung des Verbs auftreten. Das Gesprochene bzw. Gedachte erscheint im Akkusativobjekt, z.B. als Laut, Wort, Satz, Text, und das Sprachsystem als Adjektiv oder als Präpositionalobjekt, z.B. auf Deutsch. Die in der Bedeutung eines Lexems enthaltenen Elemente können also als Ergänzung des Lexems auftreten. Porzig erklärt allerdings nicht, wann und warum solche Elemente explizit vorkommen.
Der von Porzig angesprochene technische Wandel zur Schreibmaschine ist ebenfalls einer näheren Betrachtung wert, weil er entweder einen lexikalischen oder semantischen Wandel nach sich zieht. Aus heutiger Warte kann man bestätigen, dass nur ein semantischer Wandel stattgefunden hat, davon sogar mehrere, denn auf das Schreibwerkzeug Schreibmaschine folgten Computer, Smartphones, Tablets u.ä. Die aussersprachliche Welt wirkt also auf das Konzept des Lexems ein; wenn diese einem Wandel unterworfen ist, verändert sich auch das Konzept und damit entweder die Bedeutung des Lexems oder das Lexem selbst. Dies gilt auch für das mittelalterliche Schreiben, das sich in fast allen von Porzig angeführten Aspekten vom heutigen Schreiben unterscheidet: im Schreibwerkzeug, im Schreibmaterial und in der Sprache. Übersetzt man also einen altnordischen Satz hann ritaði mit Hilfe von Baetke (2002: 503), lautet das Ergebnis zwar er schrieb, jedoch unterscheidet sich das Konzept SCHREIBEN im Mittelalter vom heutigen grundlegend.
Die von Porzig zur Analyse herangezogenen syntagmatischen Relationen drücken also aus, was bereits in der Bedeutung bzw. im Konzept enthalten ist. Ein Modell, welches auf diesen Relationen die Bedeutung aufbaut, ist die Framesemantik von Charles J. Fillmore, welche auch Braun (2016) verwendet. Unter Frame versteht Fillmore (1982/2006: 373) ein System von Konzepten, das man als Ganzes kennen muss, um die einzelnen Konzepte zu verstehen. Auf ihn gehen bereits die thematischen Rollen zurück, welche er Tiefenkasus nennt. Diese Tiefenkasus werden je nach Verb und Diathese in der Oberflächenstruktur je nach Sprachsystem als unterschiedliche Kasus realisiert. So ist beim Verb geben der Empfänger im Dativ und beim Verb erhalten im Nominativ. Bei den Diathesen Aktiv und Passiv werden Agens und Patiens bzw. Thema unterschiedlich als Subjekt und Objekt realisiert. Die thematischen Rollen können allerdings nichts über den Bedeutungsunterschied zweier Verben, wie zum Beispiel geben und senden aussagen, obschon die Valenzen und die thematischen Rollen dieser Verben identisch sind. Fillmore entwickelt deshalb dieses Modell weiter, indem er der syntaktischen Valenz mit Aktanten/Ergänzungen/Argumenten auf der Ausdrucksseite eine ,semantische Valenz‘ („‚semantic valence‘“) mit Rollen/Stellen auf der Inhaltsseite gegenüberstellt. Beispielsweise haben Verben des Urteilens wie blame, accuse, criticize immer eine Person, welche das Urteil fällt (judge), eine Person, deren Verhalten zu einer Verurteilung führt (defendant) und eine Situation, welche zur Verurteilung der Person führt (situation) (vgl. Fillmore 1982/2006: 377f.). Dieses Modell entwickelt er im Kaufhandlungsereignisframe weiter, das immer aus den vier Rollen KÄUFER, VERKÄUFER, WARE und GELD besteht (vgl. Busse 2009: 85). Die zu diesem Frame gehörigen Verben geben lediglich unterschiedliche Perspektiven. Das Verb kaufen lenkt sie auf den KÄUFER (Subjekt) und die WARE (Akkusativobjekt), während VERKÄUFER und GELD Leerstellen bilden. Die Bedingungen für ein Kaufhandlungsereignis sind allerdings nicht erfüllt, wenn kein VERKÄUFER oder GELD vorkommen. Andere Verben geben Perspektiven auf andere Rollen wie beispielsweise verkaufen auf VERKÄUFER (Subjekt) und WARE (Akkusativobjekt) oder bezahlen auf KÄUFER (Subjekt), VERKÄUFER (Dativobjekt) und GELD (Akkusativobjekt). Die zu diesem Frame gehörigen englischen Verben buy, sell, charge, spend, pay und cost können fast alle Stellen als Ergänzungen (Subjekt, direktes und indirektes Objekt oder Präpositionalobjekt) ausdrücken; vereinzelt gibt es auch eine Leerstelle (vgl. Fillmore/Atkins 1992: 79). Obwohl fast alle Stellen des Frames als Ergänzung ausgedrückt werden können, bleiben gewisse