Cannabis in der Medizin. Manfred Fankhauser

Cannabis in der Medizin - Manfred Fankhauser


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«Tausendundeine Nacht»-Märchen des 12. Jahrhunderts kommt Haschisch vor: beispielsweise wird in der kurzen Erzählung aus der 143. Nacht ein Haschischrausch beschrieben (REININGER 1955: 2370). Überhaupt ist in der morgenländischen Literatur Hanf allgegenwärtig. Stellvertretend sei auf eine Stelle aus einem orientalischen Volksroman verwiesen, zitiert nach Gelpke (GELPKE 1975: 62-64):

      «Vom Haschisch wird der Peniskopf gleich dem Amboss: wie er auch sei – er wird zweimal so groß. Jeder Feueranbeter und Jude und Armenier wird sogleich aus Wohlbehagen ein Moslem, nachdem er Haschisch genoss.

      Das Haschisch ist es, das dem Verstand Erleuchtung bringt: (doch) zum Esel wird, wer ihn wie Futter verschlingt. Das Elixier ist Genügsamkeit: Iß von ihm nur ein Korn, damit es goldgleich ganz das Sein deines Daseins durchdringt.

      Durch das Essen vom Haschisch wird der Verstand nicht vermehrt, und nicht anders wird vom Nichtessen die Welt (und ihr Wert). Gegen Traurigkeit (hilft es), davon ein wenig zu essen: doch esse keiner sich voll, damit ihn nicht Frechheit versehrt.

       Ein jeder, der dem Haschisch als Sklave verfällt, ist bald lebendig, bald ein Toter, vom Schlafe gefällt. (Während) das Essen von wenigem die Traurigkeit abwehrt, ist, wer zu viel isst, in Blödheit zerschellt.»

      Auch in der arabischen Medizin konnte sich Hanf behaupten. Anders als bei den Griechen und Römern wurde nun die ganze Pflanze als Arznei eingesetzt. Bereits damals scheint der Hanf aus dem Morgenland wirksamer und potenter gewesen zu sein als der in Europa bekannte. Aus heutiger Sicht ist klar, dass er mehr wirksamkeitsbestimmendes Tetrahydrocannabinol (THC, vgl. Kapitel 2 und 3) enthielt als der in der westlichen Medizin eingesetzte. Auch der berühmteste aller arabischen Ärzte, Ibn Sina, genannt Avicenna, erwähnt in seinem im Jahr 1025 erstmals erschienenen Standardwerk Canon medicinae den Hanf (TSCHIRCH 1910: 602).

      Anders als in der westlichen Welt existierten schon damals zeitgenössische Berichte arabischer Ärzte, die den Missbrauch von Cannabis beklagen (MOELLER 1951: 360). In Kairo beispielsweise wurde im Garten von Cafour ein Haschischpräparat namens Okda verkauft. Die Bewohner von Kairo seien durch diesen «Schauplatz aller nur erdenklichen Ausschweifungen und Scheußlichkeiten» angezogen worden (HENKEL 1864: 538), im Jahr 1253 ließ der Gouverneur von Kairo diesen Garten zerstören und alle Hanfpflanzen ausreißen (Abel 1980: 42). Trotzdem verbreitete sich der Gebrauch des Krauts offenbar weiter, bis schließlich der Sultan von Ägypten zu Beginn des 14. Jahrhunderts den Verkauf von Haschisch ganz verbieten ließ (FLÜCKIGER, HANBURY 1879: 547).

       Die Legende von den Assassinen

      Heftig umstritten ist die Bedeutung von Haschisch in Zusammenhang mit den Assassinen. Der Orden der Assassinen wurde in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts vom persischen Ismailiten Has(s)an (ibn) Sab(b)ah gegründet. Der Legende zufolge ließ Hasan die Mitglieder des Ordens einen Trank trinken, der sie berauschte und zu den schrecklichsten Taten trieb. Dieses Getränk – der Abt Arnold von Lübeck war der erste Europäer, der im 13. Jahrhundert darüber schrieb –, über dessen Zusammensetzung immer wieder spekuliert wurde, nannte man Haschischin. Die Bezeichnung «Assassinen» für die fanatischen Ordensanhänger wurde (wenn auch etymologisch umstritten) daraus abgeleitet (BEHR 1992: 97). Der französische Orientalist Silvestre de Sacy kam im Jahr 1818 in einem Aufsatz zum Schluss, dass das französische assassin (= Meuchelmörder) auf das arabisch-persische haschischia (= Haschisch-Leute) zurückgehe (GELPKE 1975: 100-101). Interessant ist, dass diese größtenteils widerlegte Legende bis heute als vermeintlicher Beweis herhalten muss, um die Gefährlichkeit von Cannabis zu illustrieren.

       Hanf im mittelalterlichen Europa

       Hanf zu Beginn des Mittelalters

      Wie bis anhin verwendete man im Europa des frühen Mittelalters fast ausschließlich entweder den Hanfsamen oder die Faser. Als Halluzinogen war Cannabis unbekannt: der einheimische Hanf hätte auch kaum Wirkung gezeigt. Im Gegensatz dazu hatten andere psychotrop wirkende Pflanzen wie Stechapfel, Alraune, Bilsenkraut oder Tollkirsche ihre Blütezeit in dieser Periode. Sie dienten fast ausschließlich der Magie und finsteren Machenschaften (SCHULTES, HOFMANN 1987: 26).

      Es gibt allerdings vereinzelt Hinweise, dass Hanf oder Hanfsamen zusammen mit anderen schlaffördernden und/oder schmerzbetäubenden Pflanzen in Form von Räucherungen oder als Tolltränke verabreicht wurden (TSCHIRCH 1910: 454-455). Diese These könnte dadurch gestützt werden, dass die Inquisition im 12. Jahrhundert in Spanien und im 13. Jahrhundert in Frankreich verschiedene Naturheilmittel verbot, darunter auch Cannabis (HERER 1993: 126). Später, im 15. Jahrhundert, erreichte die Ächtung von Cannabis einen vorläufigen Höhepunkt, als Papst Innozenz VII. im Jahr 1484 die sogenannte Hexenbulle (Summis desiderantes affectibus) erließ. Darin verbot er Kräuterheilern die Verwendung von Cannabis, da Hanf ein unheiliges Sakrament der Satansmesse sei (FISCHER 1929: 126-128).

      Bereits 300 Jahre früher geht die deutsche Äbtissin Hildegard von Bingen in ihrer um 1150 erschienenen Heilmittel- und Naturlehre Physica auf Cannabis ein:

      «[De Hanff-Cannabus] Der Hanf ist warm. Er wächst, während die Luft weder sehr warm noch sehr kalt ist, und so ist auch seine Natur. Sein Same bringt Gesundheit und ist den gesunden Menschen eine heilsame Kost, im Magen leicht und nützlich, weil er den Schleim ein wenig aus dem Magen entfernt und leicht verdaut werden kann, die schlechten Säfte mindert und die guten stärkt. Wer Kopfweh und ein leeres Gehirn hat, dem erleichtert der Hanf, wenn er ihn isst, den Kopfschmerz. Den, der aber gesund ist und ein volles Gehirn im Kopfe hat, schädigt er nicht. Dem schwer Kranken verursacht er im Magen einigen Schmerz. Den, der nur mäßig krank ist, schädigt sein Genuss nicht. – Wer ein leeres Gehirn hat, dem verursacht der Genuss des Hanfes im Kopf einen Schmerz. Einen gesunden Kopf und ein volles Gehirn schädigt er nicht. Ein aus Hanf verfertigtes Tuch, auf Geschwüre und Wunden gelegt, tut gut, weil die Wärme in ihm temperiert ist» (REIER 1982: 204).

       Hanf in den Kräuter- und Arzneibüchern des Mittelalters

      Interessanterweise erschien 1484, im gleichen Jahr wie die Hexenbulle, das Kräuterbuch Herbarius Moguntinis (Mainzer Kräuterbuch), worin «hanff, haniff» aufgeführt ist. Der Verfasser des Werkes ist nicht bekannt: die in Mainz hergestellte Inkunabel gilt zusammen mit dem Herbarium des Pseudo-Apuleius als erstes gedrucktes bebildertes Kräuterbuch der Welt (FISCHER 1929: 74-79). Auch in den folgenden Werken, so in dem im Jahr 1485 gedruckten Kleinen (H)ortus sanitatis wie im Großen Hortus sanitatis (im Jahr 1491 gedruckt) fehlt Hanf nicht. Altbekannte Anwendungen wie die Behandlung von Wasser- und Gelbsucht werden übernommen (HORTUS SANITATIS 1485: FISCHER 1929: 79-94: HEILMANN 1966: 99).

      Ähnliches findet sich in Werken des später berühmt gewordenen Paracelsus. Der Hanf(samen) ist Bestandteil in seinem «Arcanum compositum», das er als wichtiges Arzneimittel mit besonderer Heilkraft ansah (MARTIUS 1856: 138: SCHNEIDER 1985: 27).

      Nur ganz sporadisch tauchen Berichte auf, dass Hanf auch berauschende Effekte habe. Allerdings bezogen sich solche Aussagen immer auf den Gebrauch von Cannabis oder Haschisch außerhalb Europas. So beschrieben in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts der deutsche Arzt Johannes Wier (Weyer) oder auch der berbischstämmige Geograf Leo Africanus die psychotropen Effekte von Hanf (ABEL 1980: 108, MARTIUS 1856: 138).

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