Die Poggenpuhls. Roman. Theodor Fontane
aber jedenfalls nicht gern. Prolog ist immer zu langweilig. Jeder ist immer froh, wenn es damit vorbei [26]ist. Aber ob ja oder nein, davon sprechen wir unterwegs, vorausgesetzt, dass sich unterwegs überhaupt ein Gespräch führen lässt. Denn man muss jetzt sehr aufpassen; es ist abends immer so neblig. Überhaupt, Berliner Luft …«
»Ach, rede doch nicht so was, Manon. Berlin hat die feinste Luft von der Welt. Ich kann dir sagen, dass ich froh bin, mal wieder ein bisschen drin herumschnuppern zu können. Nebel; Nebel ist ganz egal, Nebel ist was Äußerliches, und alles Äußerliche bedeutet nichts. Innen steckt es, innen lebt die schaffende Gewalt, immer frisch, froh und frei – ›fromm‹ schenk ich mir, verzeih, Therese … Gott, unser Nest da, das hat die reinste Luft, immer Ostwind und dergleichen, und wer nicht fest auf der Bost ist«, und er gab sich einen Schlag auf die Brust, »der hat eine Lungenentzündung weg, er weiß nicht wie. Also wir haben die reinste Luft, keine Frage. Und doch sag ich euch, immer stickig, immer eng, immer klein. Wenn der Oberst niest, hört es der Posten vorm Gewehr und präsentiert. Greulich. Wenn nicht das bisschen Jeu wäre und die paar Judenmädchen …«
»Aber Leo …«
»Oder die paar Christenmädchen; bloß die Jüdinnen sind hübscher.«
»Ihr müsst aber doch geistige Beschäftigung haben?«
»I bewahre. Dazu ist ja gar keine Zeit. Ich überschlage bloß dann und wann meine Schulden und rechne und rechne, wie ich wohl rauskomme. Das ist meine geistige Beschäftigung, ganz ernsthaft, beinahe schon wissenschaftlich.«
»Gott, Leo«, sagte die Mutter und sah ihn ängstlich an. »Gewiss bist du bloß deshalb gekommen. Ist es denn wieder viel?«
[27]»Viel, Mutter? Viel ist es nie. Viel kann es überhaupt nie sein. Denn so dumm ist keiner. Viel, das fehlte auch noch. Aber wenig ist es und bei allem Glück, dass es so wenig ist, ist das doch auch grade wieder das Ärgerliche, ja das Allerärgerlichste. Denn man sagt sich: ›Gott, es ist so wenig, dafür kann man ja gar nichts gehabt haben‹ und hat auch nicht, und dann kommt erst das andre, dass man’s, trotzdem es so wenig ist, doch nicht begleichen kann. Keiner, der einem hilft, keine Seele. Wenn ich mir da die andern ansehe! Jeder hat einen Onkel …«
»Oh, den haben wir auch«, unterbrach Sophie. »Und Onkel Eberhard ist ein Ehrenmann …«
»Zugestanden. Aber Onkel Eberhard, so gut er ist, er legitimiert sich nicht als Onkel oder wenigstens nicht genug. Und dann, Kinder, wer keinen Onkel hat, der hat doch wenigstens einen Großvater oder einen Paten oder eine Stiftsdame. Stiftsdame ist das Beste. Die glauben alles, jede Geschichte, die man ihnen vorerzählt, und wenn sie auch selber nicht viel haben, so geben sie doch alles, ihr Letztes.«
»Ach, Leo, rede doch nicht so. Sie können doch nicht alles geben.«
»Alles, sag ich. Denn was eine richtige Stiftsdame ist, die kann auch alles geben, weil sie gar nichts braucht. Sie hat Wohnung und Fisch und Wild, und die Puthühner laufen im Hof herum, und die Tauben sitzen auf dem Dach, und in dem großen Gemüsegarten, den sie natürlich selber besorgen (denn sie haben ja nichts zu tun), da steht immer irgendwo ein Kohlrabi oder eine Mohrrübe, und in der Küche ist immer Feuer, weil sie frei Holz haben. Und deshalb, ja, ich muss es noch einmal sagen, deshalb können sie alles geben, weil sie alles haben und nichts brauchen.«
[28]»Aber sie müssen sich doch kleiden.«
»Kleiden? I bewahre. Die kleiden sich nicht. Sie haben ein Kleid und das dauert dreißig Jahre. Sie ziehen sich bloß an; natürlich, denn auf Eva im Paradiese sind sie nicht eingerichtet … Aber da kommt ja die Leber; riecht köstlich, delikat. Und nun, Kinder, wollen wir teilen: Mutter Mittelstück, weil das das weichste ist, Therese rechte Spitze, ich linke Spitze, Sophie und Manon …«
»Ach, Leo, mache doch keine Komödie. Du weißt ja doch, dass du das Ganze kriegst. So warst du immer, du willst dich nett machen, wo du nicht beim Worte genommen wirst.«
»Gib hier nicht Aufschlüsse über meinen Charakter, Sophie, gib mir lieber eine Semmel zu der Leber, sie ist sonst zu fett. Und mit der Verwandtschaft hab ich doch recht; keine Stiftsdame, keine Muhme, keine Base, keine Tante, kaum eine Cousine, wenigstens keine richtige – man möchte rasend werden, sagt Mephisto irgendwo. Kennst du Mephisto, Mutter?«
»Natürlich kenn ich ihn. Ihr Poggenpuhls denkt immer, ihr habt die Weisheit allein und alles wie durch Inspiration. Denn von der Schule her habt ihr doch eigentlich gar nichts. Und nun gar du, Leo. Wenn ich an deine Zensuren denke. Mit Wendelin war das was andres. Aber warum? weil er ins Püttersche schlägt.«
»Ach, Mutter, du bist schon die Beste; wenn wir dich nicht hätten! Und ich glaube auch beinahe, dass uns die Pütters über sind. Bloß in einem sind sie uns ganz gleich, sie haben auch nichts, und das ist mein Schmerz. Ach, Mama, nirgends Geld, nirgends Rückendeckung, und dazu jung und ein Leutnant – eine ganz verdeubelte Geschichte. [29]Und dabei habe ich euch aufgefordert, mit zu Helms zu kommen und dann in die Reichshallen.«
»Er ist unverbesserlich«, lachte Sophie. »Was soll das nun wieder! Erstens bist du unser Gast, der nichts als die Honneurs zu machen braucht. Und das Ritterliche wirst du doch wohl für uns übrig haben.«
»Gott, Mädels, seid ihr gut. Und so aufgeklärt und begreift, dass es nicht anders sein kann, und ich bleibe in eurer Liebe und Achtung. Das hoffe ich wenigstens, sonst würde ich es nicht annehmen. Und nun, denk ich, gehen wir. Mama, du kommst doch mit?«
»Nein, Leo. Eine Person mehr macht schon immer was aus. Und dann mein Mantel, wenn wir in einem Lokal sitzen, ist auch nicht mehr gut genug.«
»Ach, das ist ja gleich, Mutter.«
»Und dann hab ich so leicht das Reißen hier, und man weiß nie, welchen Platz man kriegt und ob es nicht gerade zieht. Und wenn ich den Zug kriege, dann krieg ich auch meinen Rheumatismus und muss ins Bett. Und wenn ich den Rheumatismus nicht kriege, dann krieg ich meine Kolik, und das ist noch schrecklicher.«
Viertes Kapitel
Leo, der den Weihnachtsmarkt und Helms und die Reichshallen wirklich besucht und sich dann schließlich vor dem Bartensteinschen Hause von den beiden jüngeren Schwestern, die er bis dahin begleitet, verabschiedet hatte, war bald nach neun wieder zu Haus, wo er nun, so ging [30]wenigstens sein Plan, mit der Mutter und Therese weidlich plaudern und über seine Berliner Eindrücke berichten wollte, denn er gehörte zu den Glücklichen, die, sowie sie den Fuß auf die Straße setzen, immer was erleben oder sich wenigstens einbilden, was erlebt zu haben. Er traf es daheim aber anders als erwartet: Therese war in die Stadt gegangen, um noch ein paar Kleinigkeiten für den Geburtstagstisch der Mama zu kaufen, und diese selbst, wie er von Friederike gleich auf dem Korridor erfuhr, war schon zu Bett. »Hm«, brummte er und schickte sich, weil ihm nichts andres übrigblieb, eben zu stillem Meditieren in einer Sofaecke an, als die Mama ihm sagen ließ, er solle nur an ihr Bett kommen und ihr was erzählen. Das war ihm denn allerdings erheblich lieber als, wie er sich ausdrückte, »unter Betrachtung seines Innern« auf Therese zu warten.
»Ist dir schlecht, Mama?«
»Nein, Leo, schlecht eigentlich nicht. Ich habe mich nur hingelegt, weil ich morgen doch ein bisschen bei Kräften sein will. Nimm dir einen Stuhl und rücke ran und dann hole die Lampe, dass ich dich immer vor mir habe. Denn du hast ein gutes Poggenpuhlsches Gesicht, und wenn dann was kommt, was nicht stimmt, so kann ich es dir immer gleich ansehen und mir meinen Vers danach machen.«
»Ach, Mama, du denkst immer, ich mache Flausen; aber es ist nicht so schlimm damit. Ich habe nicht mal Talent dazu; ich übertreibe bloß ein bisschen.«
»Ist schon recht. Und du warst auch immer mein Liebling, und die andern haben es dir auch gegönnt. Aber du bist so leichtsinnig und denkst immer, ›es wird sich schon finden‹. Und sieh, das ängstigt mich. Was finden! Wie soll sich denn was finden, wo soll es denn herkommen? Es ist ja [31]doch eigentlich ein Wunder, dass es noch immer so gegangen ist.«
»Ja, Mutter, das ist es ja gerade; da steckt ja gerade die Hoffnung, und ich muss beinahe sagen die Zuversicht. Wenn das Wunder gestern war, warum soll es nicht auch heute sein