Pilgerwahnsinn. Jörg Steinert

Pilgerwahnsinn - Jörg Steinert


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begegnet wären beziehungsweise sich gegenseitig nicht wahrgenommen hätten. Der Camino war der Kitt, der uns zusammenhielt.

      Wir hatten ein perfektes Pilgerleben. Am Morgen standen wir um 7 Uhr auf, dann ein einfaches Frühstück, etwa acht Stunden unterwegs, nach der Ankunft duschen und Wäsche waschen, ein üppiges Abendessen in der Gruppe und Schlafengehen um 22 Uhr. Das Leben als Pilger war einfach und auf das Wesentliche reduziert, aber befriedigend.

      Die frühe Schlafenszeit empfand ich nicht als Bevormundung. Vielmehr als sinnvolle Regel. Und auch wenn es ungewohnt für mich war, mit so vielen Menschen in einem Gruppenschlafsaal die Nacht zu verbringen, schlief ich sehr gut. Sogar besser als in meiner Wohnung in Berlin, die sich in einem unruhigen Mietshaus befand.

      Ich fühlte mich nach nur wenigen Tagen entspannt und frei. Niemandem gegenüber zu etwas verpflichtet. Und zugleich in guter Gesellschaft. Mit diesen mir bis dato fremden Menschen war alles so vertraut. Wir waren wie eine kleine Familie. Eine Trennung wäre jederzeit möglich gewesen. Aber niemand von uns wollte das.

      Auch die Zweifel an meinem Job wurden geringer. Dieser war ein zusätzlicher Stressfaktor in meiner Beziehung gewesen, weil ich auch am Abend ständig von den täglichen Herausforderungen sprach. Die berufliche Situation von Renate war das genaue Gegenteil. Als studierte Theologin langweilte sie sich am Empfang eines Bürogebäudes. Und ich erkannte, wie dankbar ich für meine Arbeit sein konnte, die zwar stressig, aber auch befriedigend und sinnstiftend für mich war.

      Unser Weg führte uns durch das im 20. Jahrhundert zerstörte Guernica. Das gleichnamige Kunstwerk von Pablo Picasso über die Grausamkeit des Krieges war mir durch den Schulunterricht bestens bekannt. Das Friedensmuseum im neu errichteten Ort rief sowohl Schrecken über die Vergangenheit als auch Dankbarkeit über den Frieden im heutigen Europa in mir hervor. Selten hatte mich ein Museumsbesuch so berührt. Kulturell abgerundet wurde unsere Reise schließlich im Guggenheim-Museum in Bilbao.

      Nur Renate war es vergönnt weiterzulaufen. Für uns anderen war nach 150 Kilometern in Bilbao erst einmal Schluss. Vor unserem Abflug wollten wir aber richtig ins Nachtleben eintauchen. Statt Pilgermenü gab es Pintxos und Wein. Die spanienaffine Renate klärte uns darüber auf, dass man ein oder zwei kleine Happen isst, dazu ein Glas Wein, und dann in die nächste Bar weiterzieht. Da wir noch im Baskenland waren, sollten wir auf jeden Fall „Pintxos“ sagen und nicht „Tapas“, wie im restlichen Spanien. Nach der dritten Bar waren wir dann bettreif.

      Entgegen der Vermutung, dass Pilger besonders diszipliniert sind, mischten wir das gesamte Hostel lautstark auf. Am nächsten Morgen zog Renate von Tür zu Tür und entschuldigte sich auf Spanisch bei den anderen Gästen sowie dem Betreiber. Wir anderen zeigten uns von unserer besonders leisen Seite. Marias bayerisches „Ja mei“ beschrieb die Situation passend.

      So viele Erlebnisse in einer Woche. Ich war in ein unbekanntes Abenteuer gestartet. Geflohen vor der Bonding-Gruppe. Meisterte 150 Kilometer ohne körperliche Beschwerden. Erlebte eine zauberhafte Landschaft. Genoss Kultur und Party mit neuen Freunden. Der Satz „So schön habe ich es mir nicht vorgestellt“ hatte sich als berechtigte Aussage entpuppt. Auf dem Flughafen von Bilbao war ich erfüllt von den Erfahrungen der vergangenen Tage. Infiziert vom Pilgervirus kehrte ich in meinen Alltag nach Deutschland zurück.

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