STECKSCHUSS. Ernst Rabener
aus ihrer grämlichen Miene, dass sie heut’ wohl keine Ansprüche mehr an ihn stellen werde.
II
Um zehn vor elf war die Streife bei Schiedmüllers.
Das Blaulicht hatten Ottl und Luggi am Ortseingang ausgeschaltet, um die braven Hochwieler Bürger nicht zu verschrecken. Die beiden Alten kamen aufs erste Klingeln herunter, ängstlich, als lauere der Schütze noch irgendwo, und verbeugten sich vor den Ordnungshütern tiefer und öfter als nötig.
Die Befragung verlief ähnlich wie Friedls Telefonat mit der Notrufzentrale, weil sie und ihr Alfons wieder höchstens die Hälfte verstanden und das großenteils falsch.
Die Geschichte mit dem Fíakra ließ die Friedl diesmal weg und berichtete nur, sie hab’ auf den Schuss hin den Selbstversuch sofort abgebrochen, sei zum Fenster gelaufen, und obwohl sie keine Leich’ und keinen Mörder gesehen hab’, hab’ sie natürlich gleich angerufen, wegen ihrer Staatspflicht. Dann ließ sie sich von ihrem Alfons, der zwischendurch ohne erkennbaren Zusammenhang ein strammes »Grüß Gott, Herr Nachtmeister!« von sich gegeben hatte, erneut dreimal bestätigen, dass er den Schuss auch gehört hab’, »obwohl er eigentlich, wissen S’, Herr Kommissar, eigentlich hört er nimmer ganz so gut, mein Alfons. Aber den Schuss, den hat er g’hört. Alfons! Den hast doch g’hört, den Schuss, gell?«
Alfons nickte stumm, wie schon dreimal davor.
Dafür redete die Friedl immer aufgeregter und lauter: »Wissen S’, mein Alfons und ich, wir haben den Schuss ja ganz deutlich gehört, und wenn S’ hier mal genau nachschauen, dann finden S’ den bestimmt, den Schuss, der muss da ja noch irgendwo in der Mauer stecken, der Schuss! Ganz bestimmt steckt die noch irgendwo in ’ner Mauer hier, die Schusskugel!«
In zwei Nachbarhäusern ging das Licht im Erdgeschoss an. Für einen anständigen Hochwieler war längst Schlafenszeit. Vorhänge, sah der Luggi, bewegten sich auch.
Ansonsten: keine Spur einer Schießerei, nichts.
»Es kommt halt manchmal vor, dass die Leut’ was zu hören glauben, wo nix is’«, merkte Ottl an, nicht ahnend, was er damit auslöste.
Alfons hatte davon kein Wort verstanden, denn die Streifenpolizisten sprachen, mit Rücksicht auf die Anwohner, für Schiedmüller’sche Ohren viel zu leise. Und Friedl hatte nur »manchmal« und »hören glauben« aufgeschnappt, was in ihrem Kopf zu der fixen Idee wurde, der Herr Beamte hab’ gesagt, er »glaube von Machmal! gehört« zu haben.
Prompt reagierte sie mit einem forschen Angebot: »Wollen S’ alle zwei ein Exemplar oder zwei?«
Ottl und Luggi wussten nicht, was sie jetzt wollen sollten oder konnten, erst recht nicht, als Friedl noch ein Stück lauter ankündigte, seit Kurzem laufe die Entwicklung der Software für ihre Homepage und demnächst würden sie online präsent sein, weltweit! »Global sind wir dann mit unserem Machmal! präsent, verstehen S’, und jetzt hol’ ich Ihnen doch schnell zwei…«
Luggi legte ihr geistesgegenwärtig die Hand auf die Schulter und hielt sie zurück: »Jetzt bittschön nicht, gute Frau. Sie sehen’s doch, wir haben noch viel Arbeit heut’ Nacht. Den Schuss suchen zum Beispiel, wo der steckt! Aber wir kommen auf Sie zu, halten S’ sich zur Verfügung!«
Womit sie sich, einen Finger an der Mütze, abwandten.
Alfons hatte, allein schon wegen seiner Aufgeregtheit, wieder nichts verstanden, Friedl aber: »Es kommt da was auf Sie zu!«
Und so stand sie, während er der Staatsmacht ein paar Bücklinge hinterherschickte, wie vom Donner gerührt da und sah mit bitterbösem Blick, dass die Herrn Polizisten bei den Nachbarn auf Nummer vierzehn läuteten. Und das mit der »Verfügung« konnte sie sich auch nicht zusammenreimen.
Ausgerechnet bei denen!, dachte sie, wo uns die Sauköpf ’ von vierzehn drüben schon immer alles nachsagen, seit Jahren!
Sie fasste ihren Alfons am Arm und schob ihn vor sich her ins Haus.
Vor der Bettruhe, für die man sich zu Alfons’ Erleichterung bald entschied, war sie noch wortreich damit beschäftigt, ihm klarzumachen, was ihnen soeben angedroht worden war.
Frau Wagenknecht riss, kaum hatte Luggi geklingelt, auch schon die Tür auf und schwallte sofort hemmungslos auf die Uniformierten ein: Alle Augenblicke würden die da drüben wegen allem Möglichen Zirkus machen, »die ganze Nachbarschaft treiben’s in den Wahnsinn mit ihren Spinnereien! Ich sag’s Ihnen! Spinnen tun’s, und hören tun’s auch nichts mehr! Oder wenn, dann alles falsch! Schuss! Von wegen Schuss! So ein Schmarrn!«
Das Ohr am Türspalt, hatte sie mitbekommen, dass während der Schiedmüller-Befragung das Wort Schuss gefallen war.
»Die spinnen doch! Selber haben’s ’nen Schuss!«
Herr Wagenknecht nickte beifällig, sein verkniffener Mund demonstrierte gutbürgerliche Empörung.
»Nix Schuss!«, fuhr Frau Wagenknecht in heftiger Erregung fort, »ein Mopedler war’s, der hier die Böhmerwald runtergerauscht ist! Zwei Fehlzündungen, peng und peng! Die zweite haben die da drüben doch gar nicht mehr gehört, unsre dreivierteltauben Medien-Tycoons mit ihrem Schmierblatt, ihrem Seniorenporno!«
»Was meinen S’ jetzt damit, gute Frau?« Den Luggi überkam ein Anflug von dienstlicher Neugier.
Und so erfuhren er und der Kollege erste Einzelheiten über die Schiedmüller’sche Monatszeitschrift:
»Jedem«, so die wütende Frau Wagenknecht, »drehen sie’s an, jedem, den s’ in die Finger kriegen! Überall legen sie’s aus, im Krankenhaus, im Bahnhof, in den Arztpraxen, im Altersheim: Überall liegt’s rum, das Scheißblatt!«
Die unbedachte Frage Ottls: »Warum gleich Scheißblatt?« gab den Anstoß, dass sie auch alles andere, was über Machmal! allgemein bekannt war, zu hören bekamen, abschließend eine knappe Inhaltsangabe der letzten Ausgabe, die sich, wie die vorangegangenen Nummern, kurz nach Erscheinen ungebeten in allen Briefkästen der Nachbarschaft gefunden hatte.
»Hören nichts und rufen die Polizei wegen ’ner Mopedfehlzündung, man glaubt’s nicht!«
Frau Wagenknecht hatte sich derart ereifert, dass ihr Mann Egon übernehmen musste: »Tatsächlich, meine Herrn, ein neues Level, eine neue Qualität dieses anhaltenden nachbarlichen Wahnsinns! Wir haben den verrückten Mopedfahrer schon von Weitem gehört, wie er die Straße hochgerast ist. Und dann hat’s ein erstes Mal geknallt, hier, ziemlich genau hier« – ein spitzer Finger zeigte auf die schwach beleuchtete Straße – »und ein Stück weiter oben nochmal. Dann muss er abgebogen sein.«
Erneut zog Herr Wagenknecht eine vornehm empörte Miene.
Seine Gattin war wieder zu Atem gekommen: »Und die machen draus eine Hauptund Staatsaktion, die verblödeten Spinner! Ist doch unglaublich! Wer, bittschön, soll denn in der Gegend hier schießen? Sind doch lauter ältere Leut’ ringsrum! Und das Einzige, wo’s gelegentlich Streitereien gibt, das ist, wenn die zwei da drüben es im Sommer nachts bei offenem Fenster mal wieder so laut treiben, dass sie die ganze Nachbarschaft verschrecken! Wie sie sich bloß nicht schämen, die alten Deppen! Hätten wir weiß Gott viel eher und öfter Grund, die Polizei zu holen und…«
Ottl fand’s an der Zeit, sich einem weiteren Nachbarsehepaar zuzuwenden, das sich, während die Wagenknechts redeten, dazugestellt hatte und beifällig nickte.
»Und Sie? Was haben Sie gehört?«
»Alles, nur keinen Schuss«, bestätigte Herr Schneiderhahn.
»Klar war’s ein Moped. Kam von da unten und raste da rauf, peng! Direkt hier am Eck, Fehlzündung, klarer Fall! Wie man so blöd sein kann, einen Schuss hören zu wollen, wo’s hier im Viertel friedlich ist wie nirgends sonst in Hochwiel, das…« Luggi schien genug gehört und überhaupt genug zu haben und verbat den vier Gestalten im Zwielicht der Straßenbeleuchtung ziemlich resolut jede Bescheidwisserei: »Familientragödien, Eifersucht, Erbstreitereien