STECKSCHUSS. Ernst Rabener
Mopedler war’s, fertig, aus!«
Noch einmal ergriff Herr Wagenknecht das Wort, in sehr bestimmtem Ton, der keinen Einwand duldete: »Kein Schuss, meine Herrn, sondern wahrscheinlich der Knall eines Mopedauspuffs, der…«
»Aller Wahrscheinlichkeit nach«, sekundierte Frau Wagenknecht.
Das andere Ehepaar nickte heftig. »Man hat doch auch davor nichts gehört von der Straß’ her, nix! Keinen Streit, kein Geschimpfe, keinen Krach, und danach auch nichts, keinen Schrei oder so was, sondern bloß das Moped!«
»Dass ’n Erschossener noch schreit, gibt’s in Edgar-Wallace-Filmen aus den Sechzgerjahren oder beim Derrick. Bei uns nicht«, meinte Luggi und trottete grußlos mit Ottl zurück zum Auto.
»Verhaften S’ lieber die Schiedmüllers, am besten gleich alle zwei!«, rief ihnen Herr Wagenknecht hinterher und wackelte mit dem rechten Zeigefinger ungestüm in der Luft herum, »die handeln mit Pornografie, die alten Säu’!«
»Hast du ’ne Ahnung, was die vorhin mit Selbstversuch gemeint hat, die alte Dame?«
Luggi zuckte mit der Schulter: »Keine Ahnung. Vielleicht drehen’s Pornoselfies für den Eigenbedarf. Oder für ihr Blättchen, über das die andern so hergezogen sind. Sachen gibt’s!«
»Ich schreib’ nachher gleich noch den Bericht«, bot sich Ottl an, als sie im Dienstwagen saßen.
Dem Luggi war’s nicht unrecht.
III
Kurz vor halb zwölf waren Ottl und Luggi auf dem Revier. Ottl setzte sich an den Computer und gab im Zweifingersystem ein, was ihm von der Befragung noch einfiel. Luggi korrigierte nach ’ner halben Stunde, was Ottl fabriziert hatte, und nickte. Dann las Ottl nochmals drüber und nickte seinerseits, dann nochmals der Luggi, der dem Kollegen abschließend auf die Schulter klopfte. Das Ganze speicherten sie unter Ottlbericht ab und legten für die Kollegen eine handschriftliche Zettelnotiz neben den Bildschirm: Ottlbericht anschaun!
Bis Viertel vor eins machten sie Brotzeit. Dann drehten sie ihre nächste Runde, über Peißenberg Richtung Schongau.
Ottl meinte: »Hoffentlich wird der Rest der Nacht nicht genau so stressig! Mannomann!«
Luggi nickte besorgt.
Vorsichtshalber schalteten sie schon mal ihre Diensthandys aus.
Ein paar Minuten vor eins ging im Quattro Fontane, dem Italiener am Kirchplatz, nochmals Licht an, geschlossen war seit zwölf. Eine leicht aufgebrachte Frau schob einen sturzbetrunkenen Jüngling, den Bernhuber Fritz, aus der Tür in die kühle Dunkelheit hinaus, schaute ihm, die Fäuste in den Hüften, ein Weilchen hinterher, bis er um die Ecke in die Schmitzstraße eingebogen war, und schloss ab, das zweite Mal heut’ Abend. Sie musste sich noch um ihren Mann kümmern, den Carlone, der im Hinterzimmer überm Tisch lag.
Niemand hätte hinterher von Fritz in Erfahrung bringen können, wie er nach Hause gekommen war: Totaler Filmriss.
Schon um halb elf hatte er den Weg vom Fuchsbräustüberl ins Quattro Fontane nur noch instinktiv gefunden.
Um zehn nach eins tapste er schwerfällig wankend über die Schwelle des eingeschossigen Häuschens in der Schießstättstraße. Im Flur arbeitete er sich, vorbei an der Küche, in der sich das schmutzige Geschirr vom Abend stapelte, taumelnd die Wand entlang bis zum Zimmer seines WG-Bruders Georg Schöderlein.
Die Tür war verschlossen, wie jene gegenüber, durch die, das kannte er, mal wieder leise Quieker und Stöhnerchen drangen: Sissilissi, die kleinen Lesben, mit denen die beiden Jungs vor zwei Jahren hier eingezogen waren, machten Liebe. Zweimal pochte Fritz, mit der Schulter angelehnt, an Georgs Tür und lallte leise: »Schorsch-schi!«
So hageldicht er war: Er wollte noch einen Versöhnungsversuch starten, nachdem sie sich heute, wie so oft, nach dem Abendessen zu viert hier in der Wohnung in die Haare gekriegt, im Fuchsbräustüberl, wieder mal, weitergestritten und sich dort, nicht zum ersten Mal, um halb elf, als der Sepp sie rauswarf, unter wüsten Beschimpfungen getrennt hatten. Schorschi war nach Hause gegangen, er, der Fritz, wollte noch, wie er sagte oder eher schrie, zum Carlone gehen.
Als sich aufs dritte Klopfen hin nichts rührte – nur die Mädels alberten in seinem Rücken, wie er hörte, weiter lustig herum –, drückte er, stehen konnt’ er eh nicht mehr, die Klinke und ging oder besser: torkelte hinein.
Schorschi lag, in absurder Verkrümmung, auf dem Flokati vor dem Korbstuhl, aus dem er gefallen sein musste, die Gesichtszüge grauenhaft verzerrt, mit erstarrtem Blick aus den offenen Augen.
Anscheinend, so Fritz’ erster Gedanke, war der noch besoffener als er selber.
Er wollte sich zu ihm hinunterbeugen, fiel aber der Länge nach neben Schorschi hin und kam schauerlicherweise so zu liegen, dass er, entsetzlich nah, Gesicht an Gesicht, in die toten Augen des Freundes stierte.
Die sah er natürlich auch noch doppelt, ein Schock, der ihn zwar nicht nüchtern machte, aber aufschreien und so weit zu Sinnen kommen ließ, dass er merkte, er müsse was unternehmen.
Also fasste er nach jener Schulter Schorschis, die ihm näher war, bekam sie, nachdem er zwei Mal ins Leere gegriffen hatte, zu fassen und rüttelte daran. Das heißt, er schob sie ein wenig hin und her, bevor er, immerhin schon halb sitzend, abermals den Halt verlor, vornüber kippte und für ein paar fürchterliche Momente über Schorschi lag, quer, als wolle er ihn unter Einsatz seines Lebens beschützen.
Mühsam rappelte er sich auf, kam auf wundersame Weise in die Vertikale, versuchte es mit »Schorsch-schi! Schorschschi!«-Geschrei und stupste den reglosen Körper mit der Fußspitze in den Oberschenkel, wodurch er selbst erneut in bedenkliche Schräglage geriet und hinzuplumpsen drohte.
Noch einmal widersetzte er sich erfolgreich den Gesetzen der Schwerkraft und schaffte es, mit schwer schwankendem Oberkörper breitbeinig stehen zu bleiben. Die Augen, in denen sich Tränen sammelten, vor Angst weit aufgerissen, schaute er hilfund ratlos um sich und schrie noch einmal, noch lauter »Schorsch-schieee!« und im Anschluss, mit einem schweren Hickser zwischen den Silben, »Hil-fäää!«
Es klang, als bitte er seinerseits den Schorschi darum.
Fritz torkelte auf den Flur zurück, schlug schwer mit seinem vollen Körpergewicht gegen die Tür der Mädchen und sank daran in filmreifer Langsamkeit herab, von Heulen geschüttelt, wirres Zeug auf den blubbernden Lippen.
Wütend riss Sissi, durch den dumpfen Schlag in ihrem lieblichen Beisammensein mit Lissi entscheidend gestört, die Tür auf, splitternackt, und holte zu hellem Schimpfgeschrei aus.
Vor die zierlichen Füßchen aber fiel ihr der Oberkörper des Zimmernachbarn Fritz, vor dem sie wie vor einem großen Insekt erschrak: Mit einem Ekellaut auf den süßen Lippen tat sie einen eleganten Hüpfer nach hinten.
Als sie erneut zur großen Wutrede ausholte, um den Blödmann da wegen seiner Spannerei zur Sau zu machen, zog Lissi, die über die Schulter der Liebsten einen Blick in Schorschis Zimmer geworfen hatte, sie am Arm zurück und wies stumm und schreckensstarr mit den Augen auf den, der da drüben lag.
Verstört sah Sissi von Fritz auf und erblickte den Schorschi.
Entsetzt legte sie ein zartes Händchen vor den Mund, stieg, nackt, über den heulenden, jammernden Fritz und trippelte hinüber. Sie beugte sich über Schorschi, gab abermals einen schrillen Laut von sich und stürzte zurück.
Sie riss das Smartphone, das seltsamerweise mit der Schmalseite am vorderen Rand des Regals neben der Tür stand, ans Ohr, tippte zitternd Eins-Eins-Null und teilte, während Lissi in Schockstarre verharrte, atemlos mit, dass in der Schießstättstraße Nummer sieben ein Toter liege, ihr Mitbewohner, der Schöderlein Georg.
IV
Hübsch weich und fest zugleich, das linke Brüstchen!,