Geschichten aus dem Schwemmsandland. Brigitte Schubert

Geschichten aus dem Schwemmsandland - Brigitte Schubert


Скачать книгу
fühlen und mit dem Geist erklären können. Aber uns kann man nur mit dem Herzen sehen. Das haben die Menschenkinder verlernt. Wir müssen sterben, wenn niemand mehr an uns denkt. Lasst uns hinter den Horizont reisen.“ Alle Parthen-Trolle hatten zugestimmt. Nur der alte Brücken-Troll hatte eine andere Meinung.

      „Lasst uns noch sieben Sonnentage hier verweilen. Geben wir den Menschenkindern eine Chance, an uns zu denken oder von uns zu erzählen. Wenn dann keiner unseren Namen ausspricht oder eine Geschichte über uns vorliest, dann wollen wir gehen.“

      Finn, der kleine Parthen-Troll, wollte etwas tun, damit die Menschen wieder ihre Herzen öffneten und die Trolle nicht ihr Paradies verlassen mussten. Es musste unbedingt etwas geschehen!

      Hinter dem Grasbüschel an der alten Weide kramte er geschwind das große Lehrbuch hervor. Das Wissen von seinen alten Vorfahren und deren Freunden musste doch zu etwas nütze sein! Vielleicht erfuhr er aus den alten Geschichten, wie er mit den Menschen Freundschaft schließen konnte und so für jedermann sichtbar wurde.

      Dann, ja nur dann würden die menschlichen Wesen über die Parthen-Trolle sprechen und sie müssten ihr Schwemmsandland nicht verlassen.

      Und der kleine Finn begann zu lesen ...

      *

      *

      Wie die Trolle ins Schwemmsandland kamen

      Das Heimatland der Trolle lag hoch im Norden, dort wo es die Mitternachtssonne gab, das eisige Meer und Phänomene, die nur sie erklären konnten. Sie liebten ihr Land und wollten auch dort bleiben. Das hätte sich auch nicht geändert, wenn, ja wenn ... wenn sie nicht so neugierig gewesen wären.

      Die meisten von ihnen waren schon sehr alt, aber immer noch neugierig wie kleine wissbegierige Kinder. Sie erforschten und durchstöberten jede Ecke und jeden Winkel ihres Heimatlandes.

      Doch eines frühen Morgens, bevor die Sonne aufstieg und die Vögel ihr süßes Lied sangen, begab sich Erik, ein junger Troll, auf Wanderschaft. Er lief und lief und lief. Als ihn seine Füße weit hinter die Grenzen seines Heimatlandes hinaus in die Ferne getragen hatten, begegnete ihm ein junges Mädchen. Sie war schön anzuschauen. Das hübsche Fräulein hatte lange blonde Locken und meerblaue Augen, aus denen der Schalk hervorblitzte. Sofort, wie vom Blitz getroffen, verliebte sich Erik in die nordische Schönheit. Er konnte nicht anders. Auf seiner Fidel spielte er ihr ein Liebeslied vor und flehte Jelka an, sie möge ihn heiraten und mit ihm in seine ferne Heimat ziehen.

      Erschrocken entzog sie ihm die Hand. „Ich werde nicht mit dir gehen, sondern hierbleiben und einen Mann aus meinem Dorfe heiraten. So habe ich es meiner Mutter versprochen. Aber komm erst einmal in mein Haus, ich gebe dir etwas zu trinken, denn du sprichst schon etwas wirr.“ Doch Erik ließ nicht locker. „So gib mir bitte wenigstens eine Haarlocke von dir. Damit habe ich dich jederzeit bei mir und werde dich nie und nimmer vergessen.“

      Erik folgte liebestrunken der jungen Frau. Im Haus bewirtete sie ihn mit allen nur erdenklichen schmackhaften Speisen. Als Erik erneut um eine Haarlocke bat, verschwand Jelka in ein anderes Zimmer, um ihm etwas später einen kleinen Lederbeutel zu überreichen. Erik war überglücklich und zog am nächsten Tag von dannen.

      Was Erik nicht wusste, war, dass die Haarsträhne nicht von Jelka, sondern von deren Mutter stammte. Der liebestolle Troll ahnte jedoch nichts von der Täuschung. Auf seinem langen Wanderweg an einem alten Baum angekommen, überfiel Erik die Sehnsucht nach Jelka.

      Geschickt öffnete er den kleinen Lederbeutel, nahm die weißblonde Haarsträhne heraus und spannte die Haare als Saiten auf seine Fidel. Mit dem süßen Klangspiel wollte er Jelka zu sich locken. Während er lustig aufspielte, blickte er erwartungsvoll den Wanderweg entlang und freute sich auf die junge Frau.

      Doch statt ihrer kam deren Mutter angerannt. Wutentbrannt und zum Angriff entschlossen, schwang sie ein großes Nudelholz über ihrem Kopf. Erik bekam es mit der Angst zu tun und nahm seine Beine in die Hand.

      Er rannte und rannte und rannte. Er rannte um sein Leben. Stunden später stolperte er über eine Wurzel und landete im Matsch. Ein leises Kichern klang hinter dem Gebüsch hervor, und es zeigte sich ein niedliches Trollmädchen. Sie hatte sich auf ihrer Wanderung verlaufen und fand den Heimweg nicht mehr. Da es im geheimnisvollen Schwemmsandland, hinter Hecken und Büschen, in Auen und Wiesen viel zu entdecken gab, beschloss sie, hierzubleiben. Und nun begegnete ihr Erik.

      Beide entdeckten ihr Herz füreinander, wanderten von nun an gemeinsam und bekamen viele niedliche Troll-Kinder. Die Troll-Kinder bekamen wiederum Troll-Kinder und so ist es gekommen, dass nun viele Trolle im schönen Schwemmsandland leben.

      *

      Wie Schönefeld zu seinem Namen kam

      Als Schönefeld noch keinen Namen hatte, waren fast alle glücklich. Auf die Frage „Wo wohnst du denn?“ kam meist eine Antwort wie: „Hinter dem Feld, nahe der Kirche, neben dem Friedhof oder weit ab vom Schuss.“

      Das konnte natürlich auch auf jeden anderen Dorfanger des Schwemmsandlandes zutreffen. Wer das damals noch namenlose Schönefeld bereisen wollte, kam irgendwann oder niemals an. Den Gemüsehändlern verdarb unterwegs ihre Ware. Und traf die gerufene Hebamme endlich ein, war das Kind mitunter schon ein Jahr. Es fand niemand diesen Ort.

      Also musste ein Name für das Fleckchen her. Die Dörfler wurden zur Zusammenkunft in die Schenke eingeladen und alle kamen.

      Ein Dorf – nein, das klingt altmodisch!

      Eine Siedlung – nein, das klingt langweilig!

      Eine Gemeinde – nein, das klingt nach Ortsvorsteherwahl!

      Eine Stadt – nein, das klingt nach mehr Trubel!

      Es wurde heftig diskutiert. Keiner der Vorschläge war allen recht. Völlig unzufrieden gingen die Dörfler wieder heim, und jeder grübelte für sich alleine weiter.

      Ein Name musste aber unbedingt her. Meistens lebte es sich sehr beschaulich und gut in dem kleinen Ort, dessen lebenslustige Bewohner weit über seine Grenzen des noch namenlosen Schönefelds hinaus bekannt waren, aber wer fand das romantische Fleckchen?

      Die Kinder hätten gern ihre Freunde eingeladen, wenn sie im Herbst auf den umliegenden Stoppelfeldern ihre Drachen steigen ließen. Bunt und lustig ging es dabei zu. Aber wohin einladen, in einen Ort ohne Namen? Die Felder lagen nahe am Ort, daher waren sie für das Ährenlesen und das Kartoffelstoppeln sehr begehrt. Diejenigen Dörfler und ihre Kinder, die nicht viel Geld hatten und den Kartoffelvorrat für den Winter so billig wie möglich erwerben wollten, trafen bereits morgens gegen sieben Uhr auf dem Feld ein. Das Aufsammeln und Heimbringen über den weichen Sturzacker war keine leichte Aufgabe. Jeder war froh, wenn er die Kartoffeln gut nach Hause brachte, ohne dass dabei der Karren gar zu Bruch ging.

      In dem einen Jahr, dem letzten Jahr, als Schönefeld noch keinen Namen hatte, gab es besonders viele Kartoffeln zu stoppeln. Mit den großen Zehen wurden sie aus der Erde gepult und die Körbe waren im Nu brechend voll. Übervoll waren sie und sehr schwer. Bevor es mit der letzten Fuhre heimwärts ging, gab es am Abend eine gemeinsame Verschnaufpause am Wegesrand. Das Kartoffelkraut war trocken genug, um ein Feuerchen anzuzünden. Für die Kinder gab es geröstete Kartoffeln. Meistens waren die Knollen etwas verbrannt und mit den Händen landete der Ruß im Gesicht der kleinen Leute. Es wurde herzhaft gelacht. Alle, egal ob jung, ob alt, ob Katz oder Maus, alle waren über den Sammelertrag hoch erfreut.

      Voller Glückseligkeit und schon etwas schlaftrunken bemerkte in diesem Moment ein betagtes Mütterlein: „Ist das e schönes Feld gewesen!“ Allesamt stimmten sie ihr freudig zu und seitdem heißt nun Schönefeld Schönefeld!

Скачать книгу